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XI.

Ursula hatte in den Flitterwochen ihres Ehestandes keine Ahnung davon, daß ihre Mutter bereits am 10. Juli aus Spandau wieder in den Kalandshof geschafft worden war. Denn Briesemann hatte in seinem Geständnis vom 25. Juni ausgesagt, sie habe ihn zum Mord angestiftet.

Fieberhaft glühten die Augen des Mannes, als er der gegenübergestellt wurde, die er nie mehr im Leben wiederzusehen geglaubt. Unentwegt richtete er seinen durchbohrenden Blick auf sie – aber kalt und ruhig hielt sie ihn aus. Sie blieb unerschütterlich beim Bestreiten. Das Stadtgericht sandte darauf die Akten zum Verspruch an die Universität zu Frankfurt.

Briesemann hatte über den Mord folgendes ausgesagt: »In der Nacht zum 11. Januar 1710 habe ich die Tür zum Schlafzimmer des Heinrich beim Vorübergehen offen gefunden. Da ist der Mordgedanke in mir erwacht. Ich bin umgekehrt, habe aus der Werkstatt den bereits vor sechs Jahren beschlagnahmten Schlägel geholt und bin leise in die Schlafstube eingetreten. Der Meister hat fest geschlafen. Durch eine Lampe, die auf dem Boden stand, war die Stube etwas erhellt. Ich trat an das Kopfende des Bettes und versetzte ihm mit dem Schlägel einen Schlag in die Schläfengegend. Er richtete sich auf und schrie »Jesus!« Darauf gab ich ihm einen zweiten Schlag auf den Wirbel, worauf er zurücksank. Um einen Raubmord wahrscheinlich zu machen, habe ich aus dem Geldspind zwei gestrickte Beutel mit Geld genommen, dann in der Werkstatt einen Fensterladen aufgemacht und ein Fenster geöffnet. Die Beutel mit dem Gelde habe ich ins Privat auf den Hof geworfen.«

Für die behauptete Anstiftung durch die Meisterin lag außer der Bezichtigung durch den Mörder nur das bereits vor sechs Jahren Ermittelte vor, also in erster Linie das von ihr nach der Verstrickung an den Briesemann gesandte und aufgefangene Schreiben.

Am 10. August erstattete die Frankfurter Juristenfakultät ihr Gutachten: Briesemann und die Witwe Heinrich sollten mit dem Schwert vom Leben zum Tode gerichtet und ihre toten Körper, ihnen zur Strafe und anderen zum abscheulichen Exempel, auf ein Rad geflochten werden. Doch wurde im letzten Punkte dem König die Begnadigung anheimgestellt. Das geradezu einfältige Gutachten, auf Carpzow Bezug nehmend, ging zur Nachprüfung an das Kriminalkolleg. Unter dem 26. September bestätigte der König dessen Gutachten. Hiernach sollte Briesemann mit dem Schwerte hingerichtet werden. Gegen die Meisterin sei jetzt durch Briesemann zwar kein Beweis erbracht, aber doch ein neues Verdachtsmoment gegeben. Deshalb sei sie nochmals über die im Frankfurter Urteil von 1710 aufgeführten Fragen, die Anstiftung betreffend, zunächst gütlich, dann aber mit der Schärfe zu hören. Bis dahin sei auch die Exekution gegen Briesemann auszusetzen.

So lag die Sache, als Ende September die Eheleute Schadebrot Berlin verlassen und nach Meißen übersiedeln wollten. Sie hatten sich die Erlaubnis erwirkt, von Frau Heinrich im Kalandshof Abschied zu nehmen. Ein talerschwerer Händedruck Augusts – und der Wärter ließ die aus ihrer Haftzelle im Kellergeschoß in die Gerichtsstube vorgeführte Angeklagte mit ihrer Tochter allein. Ursula hatte keine Ahnung, was ihrer Mutter bevorstand.

»Mutter, meine liebe Mutter!«

Sie sanken sich in die Arme und blickten sich lange in inniger Umarmung stumm in die Augen. Mein Gott! Welche furchtbaren Spuren hatten die ausgestandenen Leiden auf dem geliebten Antlitz der Mutter zurückgelassen! Welche Veränderung!

Aus den Zügen der Tochter aber las jene das verklärende Glück des jungen Weibes!

Nach einer Weile des Schweigens sprach Ursula: »Mutter, sieh, ich bin nun eine Ehefrau; im nächsten April,« sie senkte errötend den Kopf, »vielleicht selbst schon Mutter – da möchte ich eine Frage an dich stellen. Aber du darfst nicht böse werden!«

»Mein Liebling, wie könnte ich das je! Frage nur!«

»Sag' – bin ich Heinrichs Tochter?«

Die Mutter zuckte zusammen. Dann schüttelte sie verneinend den Kopf. Stockend und errötend sprach sie zu der gespannt lauschenden Tochter von jenem Maiabend vor einundzwanzig Jahren.

Ursula zog Bartholdis Ring hervor und das Kästchen mit seinem Bildnis. »Diesen Ring wollte er dir schenken, und so hat er ausgesehen!«

Ein Aufschrei von den bleichen Lippen der Mutter. »Ulla! Wie kommst du dazu?«

Sie riß das Kästchen an sich und blickte lange auf die schönen Züge des Mannes. Ein traumhaftes Glück verschönte die abgehärmten Züge. Sie preßte ihre Lippen auf das Bild, Tränen stürzten ihr aus den Augen.

Dann zwang sie sich zur Ruhe. »Erzähle!«

Und die Tochter erzählte. Von ihrer wahnsinnigen Angst um das Leben der Mutter, von ihrem Besuch bei Bartholdi. Und wie ihr dann nach und nach die Erkenntnis gekommen, daß er ihr Vater sei.

»Also er, er hat mir das Leben gerettet,« murmelte die Unglückliche, in Sinnen verloren. Dann blickte sie die Tochter fragend an:

»Und du, Ursula, wie denkst du nun über deine Mutter?«

»Ach, Mutter, ich kann dich so gut verstehen! Vielleicht hätte auch ich meinem Liebsten nichts verweigern können! Aber warum, warum hast du den Heinrich geheiratet?«

»Was sollte ich tun? Du kennst die Welt noch nicht! Ein uneheliches Kind wird wie eine Pestbeule gemieden. Kein ehrliches Handwerk nimmt es auf, kein anständiger Mann heiratet es. Wenn eine uneheliche Mutter zur Kindesmörderin wird, ist sie minder schuldig – sie hat ihr Kind vielleicht nie mehr geliebt als in diesem schrecklichen Augenblick.«

»Mutter! Du hättest deine Ursula nie getötet! Und ich danke dir, daß du mir das Leben gegeben – und gelassen!«

»Und du verachtest die Ehebrecherin und Mörderin nicht?«

»Nein, niemals! Daß du den Heinrich geheiratet, geschah aus Liebe zu dem unter deinem Herzen, keimenden Leben. Daß du ihm später untreu geworden, ist entschuldbar, weil du ihn nie geliebt hast. Aber eine Mörderin – nein, das bist du nicht!«

»Mein liebstes Kind, die Geistlichen und die Richter denken anders!«

»Sie müssen deine Unschuld erkennen! Du hast nur darin geirrt, daß du ohne Liebe geheiratet hast. Dafür trifft aber die Hauptschuld jene unbarmherzigen Menschen, die Schimpf und Schande auf ein armes Mädchen häufen, das vor der Ehe Mutter geworden.«

»Ursula, aus dir spricht nur die Liebe zu deiner armen Mutter!«

»Nein! Und ich bin dir von ganzem Herzen dankbar, daß ich nicht den Heinrich zum Vater habe – du hättest mich als seine Tochter niemals so innig geliebt. So aber war ich dir die Erinnerung an einen wahrhaft geliebten Mann.«

»Ach ja, das warst du mir.« Sie lächelte.

»Weißt du noch, wie oft du gelacht hast, wenn ich das Grübchen in deinem Kinn küßte? Dann stand er vor mir in seiner jugendlichen Schönheit!«

Sie heftete innige Blicke auf das Bild und versank wieder in Gedanken. »Also auch er hat mich nie vergessen,« flüsterte sie. »Da haben wir nun viele Jahre lang hundert Schritt voneinander gelebt und haben uns nie gesehen!«

Sie blickte auf. »Doch dein Mann wird warten! Rufe ihn, Liebling!«

Mit einfach herzlichen Worten dankte August ihr für das köstliche Geschenk seiner Ursula. Er hoffe, daß sie zu ihnen nach Meißen kommen werde, um im April in den schweren Stunden seiner lieben Frau zur Seite zu stehen. Sie dankte ihm tief bewegt und wünschte ihm alles Glück. Alles Leid wolle sie gern ertragen, wenn er ihre Tochter glücklich mache und es ihnen gut im Leben ergehe. Den ihr so freundlich in Aussicht gestellten Lebensabend habe sie nicht verdient. Ihre Tage seien gezählt.

Sie sagte dies mit so schwerem Ernst, daß er ihr schweigend die Hand drückte. Dann warf sich Ursula in ihre Arme: »Auf ein glückliches, frohes Wiedersehen, liebste Mutter!«

»Hier oder dort, wie Gott will, meine Ulla!« Sie hielt das Kästchen noch in der Hand.

Das Ehepaar wechselte einen Blick miteinander. »Behalte es, liebe Mutter!«

Mit zarter Gewalt entzog er seine Gattin der mütterlichen Umarmung.

Die Gefangene wurde abgeführt.

»In diesem Leben sehe ich meine Mutter nicht wieder!« schluchzte Ursula in den Armen ihres Mannes.

Bitter war einige Tage später auch der Abschied von Dr. Zorn. Auch er rechnete mit keinem Wiedersehen auf Erden.

Else war in Tränen aufgelöst und ließ sich nur durch das feste Versprechen Ursulas beruhigen, daß sie zur Hochzeit nach Berlin kommen werde.

»Ach, ich weiß schon, du wirst dich dann mit Mutterpflichten entschuldigen. Bringe doch den Kleinen mit, vor nächstem Herbst werde ich doch nicht heiraten! Die Eltern und Großonkel Zorn wollen, daß ich achtzehn Jahre dazu alt sein müsse! Das ist doch Unsinn, Ulla!«

»Hat sich denn Schrader endlich erklärt?«

»Leider immer noch nicht!«

»Komm doch zur Taufe nach Meißen!«

»Von Herzen gern. Aber es wird mit Hans noch nicht gehen, und ohne ihn geht es ja auch nicht.«

»Endlich ein Abschied, bei dem einem nicht das Herz bricht,« meinte August, als sich das muntere Mädchen entfernt hatte. »Ich glaube, sie würde mit Schrader ganz glücklich werden. Eine, die ihn so anbetet wie Else, findet der auf der ganzen Erde nicht.«

»Und sie ist doch ein sehr nettes, reiches und dazu hübsches Mädchen!«

»Gewiß. Aber er wird sie immer mit Ursula vergleichen und sie weniger hübsch und nett finden. Gut, daß du ihm aus den Augen kommst!«

»Gusti, nicht schmeicheln! Sonst – bekommst du einen Kuß,« lächelte sie und ließ der Drohung die Strafe sofort folgen.

Einige Tage später verließ das junge Ehepaar Berlin und fuhr mit der Post nach Meißen. Ihre Sachen hatten sie mit einem Frachtwagen vorausgesandt.

*

Erdmann Briesemann gab sich im Kalandshof keiner Täuschung über sein Schicksal hin. Aber nach der vor fast sieben Jahren gemachten Erfahrung kam er zur zutreffenden Vermutung, es werde noch eine geraume Zeit bis zu seiner Hinrichtung verstreichen. Von Amts wegen war ihm ein Verteidiger bestellt worden. Der meinte seinem Klienten damit zu dienen, wenn er Frau Heinrich möglichst schwarz malte und den Mord auf ihre Anstiftung zurückführte. Diese Rolle des Joseph bei Potiphars Frau gefiel Briesemann bald derart, daß er sie auch seinem Beichtvater, Andreas Schmidt, gegenüber spielte, der im Auftrage des Stadtgerichts ihm sogleich nach seiner Ankunft in Berlin zur Vorbereitung zum Tode beigegeben war. Das erste Begegnen mit dem von ihm einst andauernd belogenen Geistlichen war fast theatralisch gewesen. Der Gefesselte war ihm zu Füßen gestürzt, hatte ihn schluchzend um Vergebung gebeten, ihm doch oft mit Gebet und Ermahnung zur Seite zu stehen. Er hoffe diesmal mit wahrer Reue und Buße das Schafott zu besteigen und die Seligkeit zu erwerben. Dem bald versöhnten Geistlichen war eine feinere Kenntnis des Seelenlebens seines Beichtkindes offenbar versagt. Wieder ließ er sich ganz von ihm bestricken und machte ihn zu einem Romanhelden: Aufwachsen als einziges Kind wohlhabender Kürschnersleute in Stettin; nach jahrelangem, erfolgreichem Gymnasiumbesuch des geweckten Erdmann jäher Zusammenbruch des väterlichen Vermögens. Der Vater bringt den Gymnasiasten als Lehrling zu seinem Freunde Heinrich nach Berlin; hier glückliche Jahre, der Meister wohlwollend und herzlich. Da entbrennt die junge Meisterin in sündiger Liebe zu ihm, langes Widerstreben des Jünglings, endliches Unterliegen. Seine redliche Absicht, als Geselle auf die Wanderschaft zu gehen, um sich der Versuchung zu entziehen, durch den Meister selbst vereitelt, der in ihm den zukünftigen Schwiegersohn sieht. Ewiges Drängen der Frau, sie von dem ihr immer widerwärtiger werdenden Gatten zu befreien, schließlich seine Einwilligung, den Heinrich zu ermorden. Noch am Bett des Schlafenden habe er fliehen wollen; da sei ihm aber ein wahrhaftiger Teufel zur Seite getreten und habe ihn an der Flucht verhindert. Es sei auch ein Gaukelspiel des Teufels gewesen, wenn er den Mord den Richtern und den Geistlichen gegenüber bestritten und sogar eine Fürbitte an Gott um Offenbarung der wahren Mörder zum Vorlesen in der Kirche schriftlich aufgesetzt habe. Er sei damals der Meinung gewesen, daß es genüge, wenn er nur Gott seine Missetat offenbare, ihn um Vergebung bitte und die Strafe geduldig hinnehme. Daß ihm die Todesstrafe damals auf dem Schafott erlassen sei, habe ihn bitter geschmerzt.

Schmidt glaubte dem ihn scharfsinnig genug einschätzenden Verbrecher jedes Wort und machte sich daran, das »extraordinäre Verbrechen« und die ebenso »extraordinäre Buße« in eine Historie zu bringen. Denn er wolle »nicht nur den verdammten Unflat, der bis in die unterste Hölle stinket, sondern auch das Verdienst Jesu Christi darstellen, das millionenfach herrlicher sich spiegele als Satan mit aller seiner Gewalt und Gaukelwerk in der vorgegangenen Sünde habe agieren können.«

Inzwischen hatte Kahmann seine im Januar 1710 nach dem Tode Heinrichs gehaltene Leichenrede, die »Jammerklage«, in einer zweiten Auflage mit einer vom 10. August 1716 datierten langen Vorrede erscheinen lassen. In dieser Vorrede hatte er den Peitzer Prediger Nicolai und die Berliner Geistlichen Lysius und Andreas Schmidt angegriffen. Sie hätten die Selbstbezichtigung Briesemanns in Peitz absichtlich unter den Tisch fallen lassen, denn da sie ihn früher immer für unschuldig erklärt, wäre damit zugleich ihr Irrtum jedem erkennbar geworden. Eine Entgegnung auf diese Vorwürfe hätte für sich allein kaum auf Abnehmer und Leser rechnen können, deshalb verspürte sich Schmidt diese Abwehr auf die von ihm vorbereitete Schrift über »Tat, Buße und Ende Briesemanns«. Um diesem indes ein Zeichen seiner herzlichen Anteilnahme noch bei Lebzeiten zu geben, widmete er eine von ihm am vierteljährlichen Bußtage gehaltene Predigt »Seinem lieben, auf der Himmelsreise befindlichen Erdmann Briesemann«. Diese Geschmacklosigkeit machte sich bezahlt, die Auflage war im Umsehen vergriffen, so daß eine zweite notwendig wurde.

So bildete die Heinrichsche Mordsache wieder wie vor fast sieben Jahren das Tagesgespräch in Berlin, und die wildesten Vermutungen liefen um. Die Wahrheit war entsetzlich genug.

Am Abend des 6. Oktober wurde Frau Heinrich wieder in den Folterraum des Rathauses geführt, um nach dem vom König bestätigten Urteil des Kriminalkollegs über die von Briesemann behauptete Anstiftung zum Mord gehört zu werden. Außer Helwig mit seinem Aktuar Contius waren ihr Beichtvater Lysius und der junge Scharfrichter Stoff zugegen. Dieser empfing mit einem wahrhaft teuflischen Grinsen die Frau, die er einmal beinahe gefoltert und ein andermal beinahe hingerichtet hatte. Die im Spinnhaus verbrachten Jahre mit dem tötenden Einerlei und die Trennung von ihrer Tochter hatten aus der einstigen Phryne eine Matrone gemacht. Auf das freundliche Zureden von Lysius und die dringenden Mahnungen von Helwig erfolgte immer nur das eintönige »Ich weiß nichts vom Morde«. Nur einmal der verzweifelte Aufschrei: »Schimpf und Schande, mich auf die verlogene Aussage des verlogenen Briesemann foltern zu wollen!«

Die Daumenschrauben wurden angelegt. Ein pfeifender Ton beim Zusammenquetschen der Daumen in den eingekerbten Schraubstock. Dann gellte ein entsetzlicher Schrei der Gequälten durch den Raum, so entsetzlich, daß die drei Männer jählings in die Höhe fuhren und dem grinsenden Folterknecht ein donnerndes »Halt!« zuschrien.

»Det war ja nur der Anfang. Et kommt noch besser!« grunzte Stoff beim Lockern der Schrauben.

Als die Unglückliche allmählich aus ihrer Ohnmacht erwachte, versprach sie, alles zu gestehen. Sie bejahte gedankenlos alle ihr vorgelegten Fragen. Dann wurde sie in den Kalandshof zurückgeführt. Bei der Aufnahme der Urgicht am 10. Oktober erklärte sie, daß nur der wahnsinnige Schmerz ihr die Unwahrheit abgepreßt habe. Sie bereue es bitter, nicht standhafter gewesen zu sein und werde bei Wiederholung der Pein lieber dabei sterben. »Mir liegt nichts mehr am Leben. Macht mit mir, was ihr wollt.«

Die Akten wurden vom Stadtgericht wieder dem Kriminalkolleg zugesandt. Schon am 24. Oktober erkannte dieses dahin: Man solle Briesemann mit der Witwe nochmals im Beisein ihrer Beichtväter gegenüberstellen, sie beweglich zur Angabe der reinen Wahrheit ermahnen. Wenn die Frau dann aber beim Bestreiten bliebe, so sei sie wieder in das Spinnhaus zu schaffen, am Gesellen aber das letzte Frankfurter Urteil zu vollstrecken. Am Rade sei der zum Mord benutzte, im gerichtlichen Gewahrsam befindliche Schlägel aufzuhängen.

Dieses Gutachten bestätigte der König am 28. Oktober.

Einige Tage später fand die Gegenüberstellung statt. Briesemann schreckte beim Anblick der seit Anfang Juli nicht wiedergesehenen Frau jäh zurück. Die furchtbaren Schmerzen bei der Folterung und die Aufregung der seitdem verlebten Tage hatten ganze Strähnen ihres jetzt so glanzlosen Blondhaares silberweiß gefärbt. Noch waren die gefolterten Hände verbunden. Keines Wortes mächtig starrte er auf dieses Bild des Elends. Endlich stammelte er mit gepreßter Stimme: »Entlastet doch wie ich Euer Gewissen! Nur dann könnt Ihr die ewige Seligkeit erlangen.«

Kalt blickte sie ihm in die Augen. »Ihr wißt, daß Ihr die Unwahrheit sagt. Wollt Ihr, daß ich durch eine Lüge das Glück meiner Tochter zerstöre? Genügt es Euch nicht, daß Ihr ihre Mutter zur Ehebrecherin gemacht habt? Wollt Ihr sie noch zur Mörderin ihres Vaters machen? Gottloser Lügner und Heuchler!«

Lysius beschränkte die »beweglichen Ermahnungen« auf das mindeste Maß. Die Verhandlung wurde geschlossen, Frau Heinrich in das Spinnhaus zurückgebracht.

Den alten Lysius hatte die Anwesenheit bei dieser Gegenüberstellung so erregt, daß er unmittelbar danach einem Schlaganfall erlag. Wieder ein Opfer des Prozesses!

Am 6. November wurde dem Briesemann das Todesurteil verkündet und er dabei gefragt, ob er am 13. oder am 20. November hingerichtet werden wolle. Nach einiger Überlegung wählte er den kürzeren Termin, er habe mit dem Leben völlig abgeschlossen und fühle sich imstande, vor Gottes Richterstuhl zu treten. Er war in den letzten vier Monaten zu einer Berliner Merkwürdigkeit geworden, hatte neugierige Beachtung in den weitesten Kreisen erregt. Das mochte ihm selbst schließlich lästig geworden sein, so sehr er sich anfänglich in seiner Eitelkeit darüber gefreut hatte.

Die Wächter des Kalandshofes zeigten ihn wie ein Wundertier gegen ein kleines Trinkgeld den Besuchern. Viele wollten den »berühmten« Verbrecher auch sprechen. Gewöhnlich führten sie sich mit dem Bibelwort ein: »Ich bin gefangen gewesen und ihr habt mich nicht besucht.« Worauf der Besuchte ihnen erklärte, jene biblische Ermahnung beziehe sich nur auf unschuldig Gefangene, nicht auf zum Tode verurteilte Verbrecher. Aber diese Auslegung half ihm nicht viel.

Einmal traf ihn sein Beichtvater Schmidt in großer Erregung: Er sollte der Berliner Malerin, Anna Maria Werner, zu einem Bilde sitzen, das in Kupfer gestochen und am Tage der Hinrichtung vertrieben werden sollte. Schmidt hatte einige Mühe, ihn zum Modellstehen zu bewegen. Als er ihn aber bat, dabei ein rechtes Mördergesicht zu machen, damit die Leute desto mehr von der Sünde abgeschreckt würden, da lachte Briesemann laut auf und hielt der Malerin still.

Einen ganz besonderen Ärger bereitete es ihm, daß er nach dem Tode aufs Rad geflochten werden sollte. Denn der König habe ihm doch vor sieben Jahren verheißen, daß er im Falle des Geständnisses keine härtere Strafe als die damals verhängte erleiden solle, in der vom Aufflechten des Leichnams keine Rede gewesen. Auch hier gelang es Schmidt, ihn zu beruhigen, da sich jenes Versprechen nur auf die damalige Zeit bezogen habe. Es könne ihm auch ganz gleich sein, was mit seinem elenden Leib geschehe, wenn nur die Seele gerettet werde. Aber doch blieb es ihm schmerzlich, da es seine Eitelkeit zu sehr kränkte, noch nach dem Tode eine so üble Rolle in seinem »betrübten Luftgrabe« spielen zu müssen.

In den letzten acht Lebenstagen wich Schmidt so wenig wie möglich von dem Verurteilten, um ihn in der rechten Stimmung zu erhalten.

Mochte nun Briesemann im Angesicht des Todes die reine Wahrheit sagen, mochte er jetzt die Rolle des für seine Dame kämpfenden Ritters spielen wollen – auf einmal widerrief er die Anschuldigungen gegen die Witwe. Nun war er nicht mehr der von einer älteren Frau verführte Knabe, sondern der selbst verführende Liebhaber. Keinem anderen habe er die Liebe der Angebeteten gegönnt und deshalb den Heinrich ermordet. Er könne sich bei Länge der Zeit des Wortlauts der von ihr über Heinrich gemachten Äußerungen nicht mehr genau erinnern, sich auch in Einzelheiten geirrt haben. Es habe ihn bei der entsetzlichen Schwere seiner Tat bedrückt, sie allein tragen zu müssen, und so habe er einen Teil der Schuld auf die Frau abwälzen wollen.

Schmidt, der sein Beichtkind weniger scharf als dieses ihn durchschaute, sah in diesen Äußerungen lediglich Beweise für das gute Herz desselben. Zu ihrem Besten habe er die ganze Schuld jetzt auf sich nehmen wollen. Jedenfalls beantragte er keine Erneuerung der Untersuchung. Der Stadtrichter, zu dem der Verbrecher ähnliches geäußert, glaubte beim steten Wechsel seiner Angaben kein Gewicht darauf legen zu sollen; die Frau sei ja mit dem Leben davongekommen und werde früher oder später wieder in Freiheit gesetzt werden. »Der Bursche hat so oft gelogen« – dachte er – »er wird selbst nicht mehr wissen, was wahr und was falsch ist.«

Am 13. November 1716 war zur Hinrichtung alles ebenso vorbereitet wie bei der unterbrochenen am 20. Februar 1711.

Wieder wimmerte die Armesünderglocke, und zum zweiten Male ward der Stab über Briesemann gebrochen. Dann ging es durch wimmelnde Volksmassen an dicht besetzten Fenstern vorbei zur Richtstätte, genau auf demselben Wege, den er vor fast sechs Jahren geschritten war. Trotz des Regenwetters und heftiger Herbststürme gewaltige Menschenmengen zu Roß, zu Wagen und zu Fuß. Diesmal aber im Gegensatz zu damals viel Betrieb zur wirtschaftlichen Ausnutzung des Tages. Eifrig ausgeboten wurde das von der Malerin Werner gezeichnete Bild. Es stellte Briesemann im Gefängnis dar mit einer an der rechten Hand und um den rechten Fuß befestigten Kette und der Unterschrift »Erdmann Briesemann, ein Kürschner-Geselle, gebürtig aus Stettin. Seines Alters 32 Jahr«. Ein Nebenbildchen stellte dar, wie er mit dem erhobenen Werkzeug vor dem in einem Himmelbett ruhenden Meister stand. Das an sich recht gut in Kupfer gestochene Bild fand reißenden Absatz.

Andere boten eine Schrift für vier Groschen zum Kaufe aus:

»Kurtzer, jedoch wahrhaftiger und actenmäßiger Bericht, wie es mit dem, nunmehr in das Siebende Jahr verschwiegen gewesenen, jetzt aber durch Gottes sonderbahre Schickung offenbahr gewordenen Mord des Seligen Hofs-Kürschners, Meister Martin Heinrichs, zugegangen, und was für Straffe diejenige, so daran Schuld gewesen, dafür ausgestanden haben«.

Da es aus buchhändlerischen Rücksichten schon am Tage der Hinrichtung verkauft werden sollte, schloß es mit der königlichen Bestätigung vom 28. Oktober, tat also der späteren Ereignisse keine Erwähnung. Wegen des hohen Preises fand es keinen rechten Absatz. Viel besser gingen die billigen Lieder, in denen Briesemanns Schuld und Strafe im Bänkelsängerton beschrieben wurde. Die Verkäufer heulten diese schändlichen Reimereien ab, zeigten auch dem Inhalt entsprechende entsetzliche Bilder des Täters und seiner Tat. Hier und da sang man den Verkäufern nach:

»Nun höret die Geschichte,
Die in Berlin geschehn,
Wie Gottes Strafgerichte
Nie kann ein Mensch entgehn.«
– – –

Andere heulten mit gleicher Inbrunst:

»Viel Jahre sind vergangen,
Daß Bries'manns böses Herz
Zu übler Unzucht drange,
Die selbst ihm brachte Schmerz,
Der dann von Wut getrieben
Den Meister aufgerieben.«
– – –

Zur Stärkung der Stimmittel und zur Erhöhung der Stimmung wurden überall bei fliegenden Händlern Branntwein, Bier, Heringe, Würste, Gurkensalat und Weißbrot ausgeboten. Viel Zuspruch, da manche nicht genügend Nahrungsmittel mitgebracht hatten. Der bald leise, bald heftig niedergehende Regen tat der erwartungsvollen Spannung keinen Abbruch. –

Nicht weit vom Schafott hielt ein Wagen. Darin saßen der dicke Schloßkastellan Runck und sein jüngerer Freund, der Hofkleinschmied Stieff, dicht in ihre Mäntel gehüllt.

»Die Ausgabe hätten wir uns sparen können,« meinte Stieff, »wenn wir gewußt hätten, daß unsere launenhaften Weiber im letzten Augenblick des Wetters wegen zu Hause bleiben würden.«

»Nun,« lachte Runck, »heute könnten sie ja ihre Kleider nicht zeigen, und die Frauen wollen einmal nicht sehen, sondern gesehen werden. Ich wäre aber auf alle Fälle herausgekommen, denn man sieht so leicht keinen alten Bekannten abfertigen!«

»Ihr habt früher viel bei Heinrichs verkehrt?«

»Ja. Die schöne Meisterin hatte es mir angetan. Sie blieb aber trotz meiner reichen Geschenke und Aufmerksamkeiten kalt wie Eis, um sich dann mit unserem heutigen Todeskandidaten einzulassen.«

»Na, der empfängt ja jetzt dafür seine Strafe, und Ihr seid gerächt!«

»Meint Ihr, daß die Frau ihn angestiftet hat?«

»Wie kann ich wissen, was alle Juristen nicht herausgebracht haben!«

»Ich sprach mit dem Advokaten Ziegler über die Sache. Der meint, daß sich Anstiftung immer sehr schwer nachweisen ließe. Die Frau ist ja auch wegen des Mordes freigekommen. Ob sie wirklich unschuldig gewesen sein mag!«

»Losgeworden wäre sie den alten Kerl, den Heinrich, gewiß ganz gern. Wer will aber wissen, ob sie den Briesemann angestiftet, oder ob der es auf eigene Hand getan hat! Vielleicht wollte sie bis zum Tode Heinrichs warten. Dem Briesemann ist dies zu lange gewesen, und er hat den Tod beschleunigt. Ha! Da steigt er aufs Schafott!«

In diesem Augenblick sprangen sechs Kerle in feuchtfröhlicher Stimmung auf den Wagen. »Hier ist noch Platz, Dicker, rücke zur Seite!«

»Von hier kann man schön sehen!« brüllten sie durcheinander.

Vergebens verwahrten sich die rechtmäßigen Insassen und der Rosselenker.

»Haltet das Maul, sonst fliegt ihr hinaus!«

»Hau doch dem Kerl eine runter, Lude!«

Runck und Stieff mußten zufrieden sein, wenn sie einen Blick zwischen den Armen der betrunkenen Lümmel hindurch auf das Schafott werfen konnten. Aus den die Vorgänge begleitenden Reden der Eindringlinge hatten Runck und Stieff wenigstens eine Art Ersatz für das gar nicht oder schlecht Gesehene.

»Jetzt segnet Schmidt den Briesemann, jetzt zieht er sich aus, jetzt kniet er nieder!«

Wütend sagte Stieff zu Runck:

»Das nächste Mal wollen wir uns besser vorsehen, heute haben wir für unser Geld ja gar nichts.«

Die Kerle lachten: »Laßt euch doch selbst hinrichten! Da könnt ihr alles ganz bequem umsonst sehen. Doch nun haltet das Maul! Jetzt gehts los!«

»Au, jetzt ist er den Kopf los! Das war ein schöner Streich!«

Da erhob sich ein allgemeines Gemurmel. Einzelne Beifallsrufe auf den jungen Stoff, der einen Meisterstreich getan. Dann: »Stille! Schmidt will predigen!«

Aber es wurde nicht viel stiller. Nur wenige der Anwesenden haben damals Schmidts Rede gehört. Sie mußten sich auf den sicher zu erwartenden Druck vertrösten.

Inzwischen war Briesemanns Leichnam völlig entkleidet worden. Über ein riesiges, auf eine Stange gesetztes Rad ward er gelegt, der abgeschlagene Kopf auf der Radnabe mit Nägeln befestigt, und der Schlägel an die Stange unterhalb des Leichnams angenagelt.

Jetzt sprangen die sechs Kerle vom Wagen, dankten Runck und Stieff dafür, daß sie alles schön hätten sehen können und entfernten sich schreiend und tobend.

»Das war das letztemal, daß ich zu einer Hinrichtung gefahren!« meinte der dicke Runck aufatmend.

Er hatte eine gute halbe Stunde einen der Kerle auf seinem Schoß zu sitzen gehabt.

Stieff lachte. »Nun, jedenfalls komme ich auch nur wieder hier heraus, wenn ich selbst hingerichtet werde.«

»Gevatter! Damit macht keinen Spaß! Es überlief mich eisigkalt, als die Strolche so etwas sagten. – Kutscher! Warum hat Er denn die betrunkenen Kerle auf den Wagen gelassen?«

Der schmunzelte: »Ick dachte, et wern jute Freunde von die Herren.«

»Na, da hört denn doch alles auf! Hat Er denn etwas gesehen?«

»Jawoll! Et war fein!«

»Na, Runck, dann wollen wir uns trösten. Da haben wenigstens der Kutscher und sechs schwer Betrunkene etwas für unser Geld gehabt! Nun aber schnell nach Hause! Es gießt ja wie mit Mollen!«


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