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III.

Seit zwölf Jahren erhob sich an der Nordostecke des alten Berlin, mitten zwischen ärmlichen Hütten, nicht weit von der alten Stadtmauer, in der hier an die Kalandsgasse grenzenden Klosterstraße ein stattlicher Bau. Im Volksmunde »Kalandshof« geheißen, diente er der städtischen Strafgerichtsbarkeit. In den Kellerräumen wurden die Untersuchungsgefangenen verwahrt, im unteren Geschoß wohnten Stadtdiener, und im oberen waren Verhörsräume. Hier saßen jetzt Briesemann und die Witwe in getrennten Kellerräumen. Sie wurden jetzt von Helwig zur Sache vernommen, auch die Zeugen wurden hier verhört. »Böckemelkerei« nannte er in grimmiger Laune seine Tätigkeit in dieser Sache. Mit Recht, denn es kam wenig genug dabei heraus. Jeder Verdacht verflatterte bald; immer wieder stellte sich als leerer Klatsch heraus, was zunächst schwer belastend erschienen.

Beide Angeklagten gaben den Ehebruch im wesentlichen zu, der Brief der Witwe gestattete ja kein weiteres Leugnen. Den Meuchelmord aber bestritten sie mit Entrüstung. Der Nachbarklatsch hatte behauptet, daß zweimal Giftmordversuche von den Ehebrechern gegen Heinrich unternommen seien. Das beschränkte sich bei näherem Zusehen darauf, daß Heinrich im Laufe der letzten beiden Jahre einmal Zittwerwasser und einmal das abendliche Warmbier schlechtschmeckend gefunden, aber ohne jeden Schaden getrunken hatte. Auch die Bekundung Trillhases, daß Frau Heinrich einmal 100 Dukaten für die Befreiung von ihrem Mann versprochen habe, erhöhte die Verdachtsmomente nicht erheblich. Jeder der beiden Angeklagten hatte jetzt seinen Verteidiger, die schriftliche Defensionen für sie zu den Akten einreichten. Diese Schriftstücke enthielten im wesentlichen eine genauere, in juristische Formen gekleidete Ausführung dessen, was kurz vor Erhebung der Anklage Meister Lüdicke dem Stadtrichter entwickelt hatte; der Mord wurde von den Advokaten in Abrede gestellt, da kein Beweggrund für die Angeklagten dazu vorgelegen. Sie hatten ihre Schriftsätze reichlich mit Stellen aus Carpzow versehen, auch andere kriminalistische Schriftsteller waren angeführt.

Die Anklage ging dagegen von der Erwägung aus, daß aus dem Ehebruch auch der Mord mit Sicherheit zu folgern sei. Die Akten waren fast auf 400 Folien angeschwollen, als in der Sitzung des Stadtgerichts vom 7. März unter Sennings Vorsitz beraten wurde, was weiter zu geschehen habe. Senning hielt die Sache für spruchreif; er nahm als erwiesen an, Briesemann sei der von der Meisterin angestiftete Mörder. Er wollte ein Todesurteil gegen beide aussprechen und es verfassungsgemäß an den König zur Bestätigung einsenden. Aber die vier Beisitzer waren anderer Ansicht; sie hielten die Verdachtsmomente für den Mord, namentlich auf seiten der Frau, für zu schwach. Senning wurde überstimmt; man einte sich nun dahin, die Akten einer Universität zu einem Gutachten zuzusenden. Der alte Didde, ehemals Stadtrichter in Cölln, jetzt Bagatellrichter in diesem Stadtteil und Beisitzer des Stadtgerichts, meinte, daß in Cölln früher der Schöppenstuhl in Brandenburg um Rat gefragt sei. Er fand keinen Anklang. Man könne sich in Berlin die Blöße nicht geben, höhere Weisheit aus Brandenburg zu holen; das möge früher für das kleine Cölln passend gewesen sein. Didde schwieg verlegen, nahm aber dann eifrig wieder das Wort, als die Frage erörtert wurde, ob die Universität Frankfurt a. O. oder ob Halle zu befragen sei. Lebhaft trat er für Frankfurt ein, die junge Hochschule zu Halle unter dem Einfluß von Thomasius sei zu neuerungssüchtig. Lebhaftes Bestreiten der beiden mitsitzenden Assessoren. Diese beiden wurden überstimmt, ein Stadtrichter betonte dabei als besonders empfehlend, daß Frankfurt näher als Halle gelegen, auch die dortigen Juristen weniger als die Hallenser zu tun hätten, eine schleunigere Erledigung der Sache also zu erwarten stehe.

So wurden denn die Akten durch einen Gerichtsboten nach Frankfurt gesandt. Ende April schickte die dortige Juristenfakultät sie mit einem sehr kurzen Gutachten vom 24. April zurück. Die gegen beide Angeklagte erwiesenen Verdachtsmomente seien zwar erheblich, reichten aber zu einer Verurteilung wegen Ehebruchs und Meuchelmordes nicht aus. Briesemann sei deshalb nach beweglicher Vermahnung, die Wahrheit zu bekennen, über drei genau angegebene Punkte in bezug auf das Wo, Wie und Wann des Ehebruchs zu vernehmen und dann in betreff des Mordes über folgende acht Fragen:

»4. Ob er sich nicht mit Marien Zielefelts vereinbahret, Martin Heinrich umzubringen,

5. Wer von ihnen zuerst davon angefangen und solchen Vorschlag gethan,

6. Ob er auch nicht Martin Heinrichen also, wie geschehen, umgebracht und ermordet habe,

7. Ob er nicht den hölzernen Schlägel, woran noch etwas Blut sich befunden, dazu gebrauchet, oder wie er sonst die Mordthat verrichtet,

8. Ob ihm jemand dazu geholffen und Wie?

Im Falle des Leugnens, daß er es selbst getan, ist er weiter zu fragen:

9. Wer denn sonst die Mordthat verrichtet?

10. Ob nicht er, oder Maria Zielefelts denjenigen, welcher die Mordthat also verübet, dazu aufgeredet und welcher Gestalt?

11. Ob nicht er, oder Maria Zielefelts demselben etwas davor gegeben, oder zu geben versprochen, und was?«

»Würde der Inquisitus solchergestalt noch nichts erhebliches zugestehen, ist ihm der Scharff-Richter mit allen seinen zur Peinigung dienenden Instrumenten vorzustellen, daß er ihn damit scharf schrecke, endlich auch in weiteren Leugnungs-Fall mit würklicher Peinigung wider ihn, und zwarten im zweyten Grad über vorgesetzte drey erste Articul, über die 8 folgende Articul aber gar, jedoch ohne ferner mit der Schärffe in dritten Grad verfahre, da dann seine überall dargestellt gethane Aussage mit Fleiß zu protocoliren, auch 2 oder 3 Tage hernach, extra locum torturae ihm ad ratificandum Außerhalb des Ortes der Folterung zur Genehmigung. Es handelt sich um die sogenannte Urgicht. vorzustellen. Wann solches geschehen, ergeht darauff allenthalben auch in Ansehung der Inquisitur Maria Zielefelts, wann bevorab sie ihrer jetzigen Schwangerschafft, so nur etwa noch auf 3 Monathe nach Anweisung Fol. Act. 205 hinstehet, entbunden ist, ferner in der Sache was Recht ist. Von Rechtswegen.«

Diesem Gutachten gemäß wurde Briesemann am späten Abend des 8. Mai aus dem Kalandshof in das zur Folterkammer eingerichtete Gewölbe im Keller des Berliner Rathauses gebracht.

Helwig und Aktuar Contius waren schon zugegen, ferner der von ihm zum Beichtvater erbetene Diakon Andreas Schmidt von St. Nicolai, da er erklärt hatte, mit Kahmann nicht mehr sprechen zu wollen. Die gütliche Befragung brachte nichts Erhebliches zutage. »Ich weiß nichts mehr, ich habe alles gesagt.« Dies wiederholte er, als ihm die qualbringenden Folterwerkzeuge vorgezeigt und dann die erkannte Folter bis zum dritten Grade an ihm vollstreckt wurde. Der junge Stoff, als bestätigter Nachfolger seines Vaters, des städtischen Scharfrichters, preßte die Finger, dann die Schienbeine Briesemanns mit eingetriebenen Holzstücken. Es half nichts. Auf der Leiter, dem dritten Grade der Peinigung, hörte man die Knochen des Unglücklichen krachen. Immer wieder das einförmige: »Ich weiß nichts mehr, ich habe alles gesagt!« Die viehische Rohheit des herkulisch gebauten Peinigers war an der zähen Hartnäckigkeit des Gepeinigten gescheitert.

»Höre Er auf, Stoff!« befahl Helwig, »den reißen wir eher in Stücke, ehe er etwas sagt.«

Briesemann ward losgebunden, mit Leinewandstreifen, auf die Stoff Salben gerieben, verbunden. Da machte sich der furchtbare Schmerz in einem entsetzlichen Schrei Luft, ohnmächtig sank er zu Boden. Der grausige Vorgang, der den Gerichtspersonen wie eine Ewigkeit erschien, hatte kaum eine Stunde gedauert.

Am 12. August war die in den Akten stets mit ihrem Mädchennamen Zielefeld genannte Angeklagte von einer Tochter entbunden, die indes schon am Tage nach der Geburt verschied. Ende September wurden nun auch ihretwegen die Akten nach Frankfurt gesandt. Am 9. Oktober kam ein neues Gutachten aus Frankfurt. Zunächst ward gerügt, daß dem Briesemann seine Aussage vom 8. Mai nicht nach zwei oder drei Tagen außerhalb des Folterungsortes zur Genehmigung vorgelegt sei. Die Frau solle nun über die drei den Ehebruch angehenden Punkte, dann über die acht, den Mord betreffenden, gehört werden. In diesen acht Punkten wird Briesemann nicht mehr als Täter erwähnt, sondern die Fragen gehen dahin, wen die Inkulpatin angestiftet habe und wie von diesem der Mord verübt sei. Daß sie selbst Hand angelegt, hat die Fakultät offenbar für widerlegt erachtet. Sollte sie trotz beweglichen Zuredens unter Zuziehung ihres Beichtvaters nicht gestehen, so wird, wie im Gutachten vom 26. April, Schreckung mit den Folterwerkzeugen angeordnet. Dann wirkliche Peinigung im ersten Grade mit den Daumenstecken, schließlich Anlegung der Beinschrauben des zweiten Grades. In Ansehung der Zeitdauer und auch sonst solle bei der Folterung so verfahren werden, daß ihre Gesundheit keinen sonderbaren Schaden oder Nachteil erleide. Nach zwei oder drei Tagen sei die Genehmigung der gemachten Aussage zu bewirken.

Das Bestehen der Folter durch den Gesellen hatte die Verdachtsmomente gegen die Witwe bereits abgeschwächt. Schied Briesemann als Mörder aus, war damit doch auch die Unschuld der Witwe erwiesen. Denn, daß sie einen anderen zum Morde angestiftet, war kaum anzunehmen.

Dieses Gutachten wurde in der nächsten Sitzung des Stadtgerichts vorgetragen. Senning meinte: »Die Frankfurter sind doch noch unfähiger, als ich sie eingeschätzt! Es kommt wohl vor, daß einer in der Urgicht zurücknimmt, was er auf dem Folterbett gestanden. Die geistvollen Frankfurter scheinen daraus zu schließen, daß, wer die Folter ausgestanden, ohne zu bekennen, das Geständnis in der Urgicht ablegen wird! Na, Helwig mag den Kerl nochmal hierüber hören.«

»Das Urgichtprotokoll ist wohl nicht zu den Akten gekommen, da sie so schnell nach Frankfurt gesandt werden mußten«, meinte Didde.

»Auch möglich, jedenfalls wird die Sache auf eine Freisprechung der beiden Ehebrecher hinauslaufen. Das bißchen Folter wird sie wohl bestehen, Helwig wird ritterlich genug sein, dabei für die Gesundheit der hübschen Person zu sorgen. Was sollen wir mit dem erwiesenen Ehebruch anfangen? In ein paar Monaten kann das saubere Paar verheiratet sein. Die albernen Frankfurter mit ihrem elenden Formalismus! Doch die Herren wollten ja eine Befragung von Frankfurt.«

»Herr Kammergerichtsrat, Ihr haltet sie noch des Mordes schuldig?«

»Selbstverständlich! Ich würde auch jetzt noch ein Todesurteil gegen beide verantworten. Helwig soll übrigens zur Folterung den Kahmann zuziehen, der kennt sie am besten und erzielt vielleicht ihr Geständnis ohne Schädigung für ihre Gesundheit. Kollege Didde, Ihr schüttelt den Kopf? Glaubt Ihr vielleicht an den schwarzen Mann, wie Lüdicke?«

»An den nicht. Aber da sprach ich neulich den Hofschlosser Stieff in der Roßstraße; der sagte, ein geschickter Kleinschmied sei wohl imstande, in ein verschlossenes Haus einzudringen und auch mit den Riegeln fertig zu werden. Ihm selbst sei das eine Kleinigkeit, das könne er jederzeit beweisen.«

»Na, der Kleinschmied soll sich in acht nehmen, daß er nicht Gebrauch von seiner Kunst macht!«

»Das hat der nicht nötig, er ist sehr wohlhabend.«

Senning lachte: »Desto schlimmer! Da könnte man denken, daß er seine Kunst bereits tüchtig ausgeübt hat.«

Die Sitzung ward geschlossen. Mit einem kräftigen »Die Esel!« – dem Dekan, dem Ordinarius, dem Senior und den anderen Doktoren der hochpreislichen Juristenfakultät zu Frankfurt geltend – brachte Helwig die wegen der schweren Erkrankung des gefolterten Briesemann erst nach vier Tagen auf dem Kalandshof mit ihm aufgenommene Urgicht zu den Akten. Der Termin zur peinlichen Befragung der Witwe ward auf den 23. Oktober anberaumt.

Die Teilnahme der Berliner war inzwischen fast bis zur Gleichgültigkeit abgeflaut. Man hatte von zuviel anderem zu reden: Immer wunderlichere Handlungen und Äußerungen der geistig gestörten jungen Königin, der jähe Fall der lange allmächtig gewesenen königlichen maitresse en titre, der Gräfin Wartenberg, dazu fürstliche Besuche, Kriegsgeschrei und Vorsichtsmaßregeln gegen die sich immer wieder an den Grenzen zeigende Pest. Wer fragte noch nach dem Trauerspiel in der Königstraße! Es hatte sich aus dem Gerede der Menge in die toten Aktenstöße zurückgezogen. Im Mai hatte sich das Gerücht verbreitet, die Angeklagten würden demnächst entlassen werden; das hing damit zusammen, daß die Kunde von der durch den Gesellen ausgestandenen Folterung durchgesickert war. Dann entstand auch wohl einmal ein anderes Gerücht, aber es verflatterte bald wieder. Den besten Vorteil von dieser jetzt eingetretenen Gleichgültigkeit hatte Ursula Heinrich, die bereits am Abend des Mordtages in das Haus des Apothekers Zorn, Am Molkenmarkt 4, aufgenommen war.

Es war ein stattliches Eckhaus, im unteren Geschoß die seit 160 Jahren im Familienbesitze befindliche Apotheke, mit einem umfangreichen Handelsgeschäft verbunden. Vor 10 Jahren hatte der Lehrling Friedrich Böttger hier versucht, geringere Metalle in Gold zu verwandeln. Jetzt erzeugte er in Dresden und Meißen zwar nicht Gold, aber doch das goldbringende Porzellan. Bei Zorns durfte trotz seiner Berühmtheit nicht von ihm gesprochen werden, Frau Apotheker war nicht davon abzubringen, daß er mit dem Teufel im Bunde gewesen. Diese Frau, Maria Ursula, war von Jugend auf hart vom Schicksal geprüft worden. Früh verwaist hatte sie dem volle 31 Jahre älteren Friedrich Zorn im November 1692 als 18 jähriges Mädchen die Hand zur Ehe gereicht. Die Verluste der zwei eigenen und von vier Stiefkindern hatten das Wesen der ursprünglich heiter veranlagt gewesenen Frau von Grund aus gewandelt. Ohne ihre häuslichen Pflichten zu versäumen, füllte sie mit Beten, Bibelforschen und Wohltun das Einerlei der Tage. Außer mit einigen Geistlichen unterhielt sie keinen Verkehr mehr und verließ fast nur zum Kirchenbesuch das Haus. Gediegen, ehrbar und ehrlich fromm, aber kalt und freudlos; dazu ein ewiges Kränkeln. Auch das wehe Lächeln der jetzt zehnjährigen bleichen und schwächlichen Enkelin, Else Porst, der einzigen Tochter des bekannten Predigers Porst und einer frühverstorbenen Tochter Zorns aus erster Ehe, die jetzt im Apothekerhause lebte, fügte dazu noch einen Zug trüber Wehmut. Begreiflich, daß Ursula, als sie Kahmann nach dem Zusammenbruch ihrer Familie in dieses stille Haus brachte, todunglücklich war und die schönen weißen Zähne fest zusammenbeißen mußte. Sie wollte nicht laut losheulen – das wäre ihr verächtlich vorgekommen.

»Weißt du denn, Ursula, daß du meine Patin, also geistige Tochter bist?«

»Ja, Madame Zorn, ich habe einen kleinen silbernen Becher als Patengeschenk von Euch.«

»Du sagst du und Mutter zu mir; ich habe Mutterrechte an dir, habe dich täglich in mein Gebet eingeschlossen, und du bist mir ein Abbild meiner eigenen Tochter, die ebenso wie ich und du Maria Ursula hieß. Der Herr hat sie mir ganz klein genommen, sie wäre jetzt etwa ebenso alt wie du.«

So liebevoll hatte die dunkelgekleidete Frau mit den starren Zügen des kränklichweißen Gesichts seit langer Zeit zu keinem gesprochen. Trotz ihrer Betäubung an jenem Abend fühlte die kluge Ursula das redliche, wohlwollende Herz unter der erstarrten äußeren Hülle der Sprecherin.

»Ich danke, Madame, ich will versuchen, dir Freude zu machen.«

»Freude ist keinem in diesem Jammertal beschieden, aber du sollst Mutter zu mir sagen! Sage überhaupt zu keinem Madame! Du bist ein deutsches Mädchen und hast nicht nötig, den Franzosen nachzuäffen, die lieber bei sich zu Hause hätten bleiben sollen.«

»Ja, gern, auch Magister Kahmann sagte erst neulich, es sei doch ganz gleichgültig, ob der Teufel die Reformierten in Frankreich oder in Berlin holte.«

»Nun, darüber, wer zur Seligkeit berufen, steht uns armen Menschenkindern ein Urteil nicht zu. Jetzt komm, ich will dir dein Stübchen zeigen und dich mit meinem lieben Mann und mit deinem neuen Schwesterchen bekannt machen!«

Ursula folgte ihr in ein nettes Stübchen nach hinten heraus, das ihr ganz allein gehören sollte. Drei ausgestopfte Vögel, die auf einem Brettchen standen, erregten ihr Entzücken.

»Die hat mein Neffe August Schadebrot, der gestern früh nach Meißen zurückgekehrt ist, selbst ausgestopft.«

»Gestern früh? Ich habe ihn ja gestern nachmittag noch von unserem Küchenfenster aus in der Königstraße gesehen.«

Sie erzählte, daß sie vor etwa 14 Tagen ihre Freundin, Margaret Müsset, die Schwägerin des Hofkastellans Runck, in die Zornsche Apotheke begleitet habe. Da wäre die Medizin noch nicht fertig gewesen, und ein älterer Herr hätte zu einem langen jungen Menschen gesagt: »August, solchen Bummel mußt du in Meißen nicht machen.« Der habe gelacht: »Das hat keine Gefahr, es handelt sich ja nur um ein Schönheitsmittel.« Zum Trost für das Warten habe er ihnen ein großes Stück Lederzucker geschenkt. Gestern abend habe sie ihn dann in der Königstraße wiedererkannt.

»Du wirst dich irren und August vorgestern gesehen haben!«

Ursula war viel zu müde, um über die ihr sehr gleichgültige Frage rechthaberisch zu streiten. Sie war aber ganz sicher, daß sie sich nicht geirrt. »Schade,« dachte sie, »daß der nette lange Mensch nun nicht mehr in Berlin und mir öfters Leckerbissen schenken kann!«

Dann ging Frau Zorn mit ihr zur kleinen Elisabeth. Ursulas freundlichem Wesen gelang es schnell, das Zutrauen des armen Kindes zu gewinnen.

»Du mußt immer bei uns bleiben«, flüsterte Else mit flehendem Augenaufschlag.

Fast noch schneller als dieses Kinderherz gewann sie das des alten Zorn, zu dem sie jetzt in die Apotheke herabstiegen. Er erkannte sie sofort als die Begleiterin der Margaret Müsset wieder. In Erinnerung daran holte er die Krause mit Lederzucker herunter und bot sie ihr zum Hineingreifen. Aber Frau Zorn widersprach:

»Wir essen gleich zu Abend, da soll sich Ursula nicht die Eßlust verderben und dazu noch ihre schönen Zähne.«

Verwundert starrte Zorn seine Frau an, freute sich, sie durch den jungen Gast heiterer als sonst zu sehen, und forderte dann Ursula auf, sie möge mittags einmal in die Apotheke kommen, dann sei Wachparade mit schöner Musik, und das sei sehr pläsierlich. Ursula hatte aber die Wachparade, die seit 13 Jahren auf dem Molkenmarkt stattfand, oft genug schon gesehen. Es berührte sie daher kaum, als Frau Zorn tadelnd bemerkte:

»Ich denke, Ursula wird bei dem entsetzlichen Unglück, das sie heute betroffen, keinen Sinn für das leere Schaugepränge und die unheilige Musik haben.«

Die Erinnerung an die Schicksale dieses bewegten Tages griffen an das Herz des armen Kindes, sie konnte sich der bisher tapfer zurückgehaltenen Tränen nicht mehr erwehren.

»Mama, meine gute, liebe Mama,« schluchzte sie, »ich muß zu ihr, sie wird ihre Ursula so schrecklich vermissen!«

Nur das feste Versprechen Zorns, daß Diakon Kahmann sie morgen nach dem Gottesdienst ihrer Mutter auf einige Stunden zuführen werde, konnte sie etwas beruhigen. Aber dem stattlichen Abendessen tat das ausgehungerte Kind alle Ehre an, es hatte ja an diesem Tage kaum etwas zu sich genommen. Der im Hause wohnende Diakon Johann Christian Schmidt an St. Nicolai, ein junger Amtsbruder des in derselben Kirche angestellten Andreas Schmidt, hatte das Mahl mit einem längeren Gebet eingeleitet. Auf Bitten der Hausfrau, damit auch die Seele erquickt werde, hatte er nachher eine halbstündige Predigt gehalten. Ursula hatte kaum noch die Augen aufhalten können. Als sie die Erlaubnis erhalten, ihr Zimmerchen aufzusuchen, ging sie sofort zur Ruhe. Die ihr kurz darauf folgende Apothekerin fand sie in tiefem Schlafe, sie hatte mit ihr ein Nachtgebet sprechen wollen.

»Der Herr wird ihr vergeben, wenn sie heute abend nicht gebetet.«

Sie hauchte einen leisen Kuß auf die reine Stirn der lieblichen Schläferin.

»Du armes Kind«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen.

Das war der erste Abend im Zornschen Hause, und ähnlich hatte sich Ursulas Leben in den nächsten Wochen abgespielt. Ab und zu tat sie einen Blick in die nur gelegentlich zum Lüften geöffneten Vorderräume nach dem Molkenmarkt und nach der Stralauer Straße. Kostbare samtne Sessel und Divans, mit unscheinbaren Hüllen bedeckt, Bilder mit goldenen Rahmen an den Wänden, mit schwarzem Krepp behängt zu Ehren der verstorbenen ersten Frau und ihrer Kinder, die Weidemann auf diesen Bildern dargestellt, der künstlerisch getäfelte Fußboden stumpf und blind – alles machte den Eindruck, als sei hier vor vielen Jahren das Leben jäh vom Tode ereilt. Das Treiben im Hause spielte sich in den vielen Hinterzimmern des geräumigen Eckhauses ab. Einfache Bequemlichkeit herrschte hier, bei der man doch durchfühlte, daß die Bewohner aus dem Vollen schöpfen konnten: Silber bei der stets reichlich besetzten Tafel, an der sich oft Gäste einfanden. Fast nur Theologen, besonders Johann Lysius von St. Georgen, Dompfarrer Winckler aus Magdeburg, auch Porst, der Schwiegersohn des Hauses, jetzt Pfarrer auf dem Werder und in zweiter Ehe lebend. Er hatte die Teilnahme der Hausfrau für geistliche Liederkunde erweckt, überall lagen Gebetbücher auf den Tischen, in denen sie eifrig studierte. Oft genug ward sie auch dadurch zu eigenen Dichtungen angeregt. Sie mochten nicht schlechter als manche damals gesungenen sein.

Ursula war in den ersten Tagen wie benommen; die Erstarrung des Hauses bedrückte das frohe Kind, sein munterer Gesang war verstummt, bange Frage lag in ihren schönen, sonst von überschäumender Lust blitzenden Augen. Da war es für sie ein rettender Zufall, daß kurz nach ihrem Einzuge die kleine Porst schwer erkrankte und mit der Halsstarrigkeit verwöhnter Schwächlinge immer nach Ursula verlangte. Um die Kranke nicht zu erregen, willfahrte man ihr. Ursula wich kaum von ihrem Bett, unermüdlich, das leidende Kind zu pflegen, zu beruhigen und zu erheitern, als es dann mit ihm besser ging. So war Ursula, die Kahmann vom ferneren Besuch der Konfirmationsstunde befreite, in den nächsten Wochen voll beschäftigt und allem Gerede, das über ihre Eltern herumlief, entzogen. Zugleich hatte sie damit die dankbare Liebe der Kranken, ihrer Großeltern und Eltern für alle Zeit erworben. Auch der Bruder Zorns, der älteste Arzt Berlins, Dr. Bartholomäus Zorn, im Nachbarhaus Nr. 6, gab offen zu, daß Elisabeth durch Ursulas Pflege diesmal gerettet.

»Jetzt bin ich mit der Ursula versöhnt, trotzdem sie mich in ihrem ganzen Leben noch nichts hat verdienen lassen; selbst ihr Kommen auf die Welt hat sie so beschleunigt, daß Arzt und Wehmutter nichts dabei zu tun hatten«, scherzte er zu seinem Bruder. Diese allgemeine Liebe wirkte wohltätig auf Ursula. Ihren heiteren Singsang fand sie bei dem auf ihr lastenden Druck nicht wieder, bald aber verschönte doch ein glückliches Lächeln ihrer funkelnden Blauaugen ihre lieblichen Züge mit dem reizenden Grübchen im Kinn. Bei dem guten Essen und Trinken rundete sich ihre – wie der Berliner sagt – etwas behende Figur zu niedlicher Fülle.

Nach der Verhaftung ihrer Mutter und der Eröffnung der Spezialinquisition fielen Ursulas Besuche bei der Mutter fort. Der entsetzlich schweren Aufgabe, Ursula über den Grund der Verhaftung zu unterrichten, mußte sich Frau Zorn unterziehen. Eines Abends rief sie Ursula in ihr Betzimmer und schloß sich mit ihr ein. Betpult, Betschemel, ein großes eisernes Kruzifix machten hier einen katholischen Eindruck. Nur ein schwacher Schein der Abenddämmerung erhellte den Raum.

»Ursula,« begann Frau Zorn, »du wirst nun bald 14 Jahre, zu Ostern wirst du eingesegnet und zum Tisch des Herrn zugelassen. Du bist fast ein erwachsenes Mädchen, und dein Seelsorger Kahmann sagt, was ich nur bestätigen kann, daß du ein recht verständiges Mädchen bist.«

Etwas beunruhigt über diese lange Einleitung, rückte Ursula der Sprecherin näher.

»Ursula, weißt du, warum deine Mutter im Gefängnis sitzt?«

»Um Gottes willen! Im Gefängnis? Sie darf doch bloß unser Haus nicht verlassen, weil man ihr Zeugnis in der Mordsache braucht!«

»Nein, Ursula, das nahmen wir auch an, aber die Sache liegt viel ernster! Weißt du, was Ehebruch ist?«

Die Dunkelheit verbarg das heiße Erröten Ursulas, als sie erwiderte:

»Das ist eine im sechsten Gebot verbotene Sünde.«

»Weißt du, was es bedeutet? Sage es mir getrost, es hört uns niemand außer Gott.«

Ein Weilchen war es still im Zimmer. Dann flüsterte das Mädchen:

»Vor zwei Jahren hatte meine kleine Schwester Grete eine dicke häßliche Amme, eine Wendin aus Fürstenwalde; die hat mir gesagt, daß die kleinen Kinder ebenso wie die Katzen zur Welt kommen. Gräßlich, aber sie hatte wohl recht, da wir in der Kirche immer singen: »Der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an.« In der Predigerstunde zeigten sich die Mädchen auch manche Bibelstellen ... doch an so etwas zu denken, ist Sünde und dazu ekelhaft.«

»Mir darfst du volles Vertrauen wie einer Mutter schenken; hat sie einmal hierüber mit dir gesprochen?«

»Nein, ich habe nie mit ihr von solchen schmutzigen Sachen geredet.«

»Mein liebes Kind, schmutzige Sachen sind das nicht. Gott selbst hat die Ehe eingesetzt, und Christus war auf der Hochzeit zu Cana. Wenn ein Mann und ein Mädchen sich so recht von Herzen liebhaben und eins ohne das andere nicht leben zu können meint, dann sollen sie sich in Gottes Namen heiraten.«

»Bekommt die junge Frau dann Kinder?«

»Ja, Ursula, wenn Gott ihren Leib segnet.«

»Dann heirate ich niemals! Das ist ja zu eklig!«

Frau Zorn lächelte:

»Das sagt manche und besinnt sich dann eines andern, wenn der Rechte kommt. Hat sie aber geheiratet, dann darf sie sich um keinen andern Mann mehr bekümmern; tut sie es aber trotzdem, so begeht sie Ehebruch.«

»Ich verstehe dich. Was hat aber meine Mutter mit alledem zu schaffen?«

»Ursula, erschrick nicht! Deine Mutter hat bereits gestanden, mit eurem Gesellen Briesemann seit Jahren in Ehebruch gelebt zu haben.«

Entsetzt fuhr Ursula von ihrem Stühlchen auf. »Meine Mutter! Es ist nicht wahr!« schrie sie.

»Leider doch«, flüsterte Frau Zorn.

»Aber die Sache ist viel schlimmer noch.«

»Noch schlimmer!« Ein Stöhnen entrang sich der Brust des unglücklichen Mädchens.

»Ja, das Gericht nimmt an, daß deine Mutter den Briesemann zum Morde deines Vaters angestiftet hat.«

Nun aber verlor Ursula jede Haltung.

»Das ist eine nichtswürdige Lüge! Eine Albernheit, die man nicht nachsprechen sollte«, schrie sie mit gellender Stimme.

»Beruhige dich! Gott im Himmel hütet jedes Haar auf unserm Haupte, und wir haben gerechte Richter!«

»Gerechte Richter! Und die sperren Mama wie eine Verbrecherin ein?«

Sie sank weinend zu Boden. Als ihr jedoch Frau Zorn ernst, aber freundlich zugeredet, sagte sie mit matter Stimme:

»Als du vorhin von der Sünde des Ehebruchs sprachst, mußte ich denken, daß Mama wohl eine Sünde begangen, als sie meinen alten Vater heiratete. Denn den konnte sie unmöglich so heiß geliebt haben, daß sie nur mit ihm leben zu können meinte.«

»Ursula, mein Mann ist über 30 Jahr älter als ich, und nie bin ich ihm auch nur einen Augenblick in Gedanken untreu gewesen.«

»Ja, du bist aber auch viel frommer als Mama, da ist die Versuchung wohl nicht an dich herangetreten.«

Liebevoll strich die ernste Frau über den goldigen Scheitel des Mädchens, das sich verängstigt an sie schmiegte. Leise fragte dann Ursula, ob es ihre Mutter gut im Gefängnis habe, was ihr bejaht wurde; dann – welche Strafe auf Ehebruch stände? Das wußte nun Frau Zorn nicht genau. Als sie aber andeutete, daß Anstiftung zum Morde mit dem Tode bedroht sei, sagte Ursula entrüstet:

»Was geht das uns an! Das hat meine Mutter nie getan! Und so unsinnig wird kein Gericht der Welt sein, sie deshalb zu verurteilen.«

»Darum wollen wir Gott bitten, der es weiß, warum er uns Prüfungen auferlegt«, sagte Frau Zorn und küßte Ursula auf die Stirn, bei ihr eine sehr seltene Gunstbezeugung. »Selbstverständlich bleibst du nun bei uns, bis du zu deiner Mutter zurückkehren kannst.«

So blieb Ursula im Zornschen Hause.


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