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Die Müllersfrau in Freienwalde hatte mit ihrer taktlosen Wahrsagung doch wohl das richtige getroffen. Zorn fühlte sich von Tag zu Tag schwächer und begann, sein Haus zu bestellen. Er überraschte die Mädchen mit der Mitteilung, er habe seinen Neffen August aus seiner Stellung in der Meißener Apotheke nach Berlin eingeladen. Er solle ihn und seinen alten Provisor unterstützen; sein Bruder werde ihm ein Zimmer in seinem Hause überlassen.
Um die Mitte des Oktober erschien dann August Schadebrot und wurde vom Onkel mit Wohlwollen, von den Mädchen mit Freude begrüßt. Er behauptete, Ursula genau wiederzuerkennen. Er habe ihr damals Lederzucker geschenkt und gedacht: »Ist das ein wunderhübsches Kind!« Sie sei auch die letzte Berlinerin gewesen, die er vor bald sechs Jahren bei seiner Abreise nach Meißen gesehen habe. Ursula sagte lächelnd, auch sie erinnere sich noch seiner Spende und dann seines Grußes am Tage seiner Abreise.
August meinte, da er der Vetter von Else, möge sie ihn doch auch »du« nennen. Auf ein ermunterndes Lächeln Zorns gestattete es Ursula. August küßte ihr die Hand, da zur Besiegelung der Brüderschaft ein Kuß gehöre.
»Aber auf den Mund!« rief Else.
Was aber Ursula tief errötend für überflüssig erklärte. Um das Gespräch von dieser bedenklichen Frage abzulenken, behauptete sie, August sei in den letzten sechs Jahren sehr gewachsen.
»Nehmt Euch nur in acht, daß der König Euch nicht unter seine große Garde steckt«, lachte sie.
»Du hast du zu mir zu sagen, Base Ursula! Der König wird sich hüten, sich an einem Sachsen zu vergreifen, und es müßte toll kommen, wenn ich freiwillig Handgeld nähme!«
In diesen Tagen war in Ursulas Herzen eine Wandlung vorgegangen. Niemals hatte sie bisher für einen jungen Mann wärmer empfunden. Das abgeschlossene Leben im stillen Hause, ihre regelmäßige häusliche Tätigkeit, die klare Erkenntnis ihrer traurigen Verhältnisse hatten ihr einen nüchtern klaren Blick gegeben. Die Huldigungen Schraders hatten sie ganz gleichgültig gelassen. Jetzt gewahrte sie zu ihrem eigenen Erstaunen, wie sich in ihr ein warmes Gefühl für den stattlichen Mann regte, zu dem sie emporschauen mußte. Und ein ungeahntes Gefühl der Freude durchrieselte sie, wenn er ihr in kleinen Aufmerksamkeiten seine Neigung zu erkennen gab. Da brachte er ihr verspätete Blumen, horchte auf jeden ihrer Wünsche. In ihrer Gegenwart achtete er kaum auf ein Gespräch, gab auf Fragen des Alten ganz verkehrte Antworten. Ursula wußte sich viel besser zu beherrschen. Aber das Blitzen ihrer blauen Augen, ihr Erröten, wenn er ihr Angenehmes sagte, wurden zu Verrätern. Dann lächelte Großvater Zorn. Else aber meinte, wenn sie mit Ursula allein war: »Du liebst August!«
Die bestritt es, aber immer matter und unwahrscheinlicher.
Einmal kam die Rede auf Freienwalde. Else erzählte vom Apothekergehilfen Schrader, mit dem sie so oft dort zusammengewesen seien.
»Den habe ich auch zufällig kennengelernt,« sagte ihr Vetter. »Er ist seit Oktober in der Apotheke auf der Friedrichstadt.«
Else horchte auf. »Gusti, kannst du nicht herausbekommen, was er gegen uns hat? Erst ist er in Freienwalde uns immer nachgelaufen und dann ohne Abschied plötzlich abgereist.«
Zorn trat der Enkelin bei. »Ja, mein Junge, er hat sich sehr auffallend benommen. Er verabredete mit mir einen Ausflug und erschien dann nicht.«
August versprach, bei erster Gelegenheit der Sache auf den Grund zu kommen. Else flüsterte ihm noch zu: »Sieh doch, daß er uns einmal besucht!«
Bald brachte er Nachricht von Schrader. Er habe damals von Frankfurt aus schreiben und sie dann in Berlin besuchen wollen, sei aber wegen zu großer Arbeitslast nicht dazu gekommen.
»Wunderlicher Mensch!« meinte Zorn. Dann sprach man anderes. Plötzlich wandte sich August an Ursula und bat sie, ihm ihren Ring zu zeigen. Er sei ihm bisher nicht aufgefallen. Freundlich zog sie den Ring vom Finger.
»Ein köstlicher Stein!« rief er. »Der mag 1000 Taler wert sein!«
»Schrader schätzte ihn sogar auf das Doppelte«, sagte Else.
»Mir ist er jedenfalls unschätzbar. Ach, er erinnert mich an den schwersten Augenblick in meinem Leben.«
»Es war dir wohl schrecklich zumute, liebste Ulla, als du damals zu Bartholdi gingst! Ich hätte es nicht gekonnt!«
»Doch, Else. In meiner Lage hättest auch du den Mut gefunden. Einer Mutter bringt man jedes Opfer.«
»Ulla, ich weiß doch nicht. Bartholdi war so allgemein gehaßt und gefürchtet.«
»Ich stimme Elsen bei,« sagte August mit heiser erregter Stimme, »auch die Kindesliebe hat ihre Grenzen!«
»Die hat sie nicht!« rief Ursula. »Ich bitte euch aber, solche Gespräche zu unterlassen, sie regen mich zu sehr auf!« Damit ging sie aus dem Zimmer.
Seitdem zog sich August auffällig vom Verkehr in der Familie zurück. Er schützte stets Arbeit vor, und schließlich ließ man den ungesellig Gewordenen gewähren. Aber am Weihnachtsabend konnte er sich der Familienfeier nicht entziehen. Die jungen Mädchen hatten schon tagelang vorher festliche Vorbereitungen getroffen. Köstliche Pfefferkuchen wurden gebacken, Marzipan nach einem von Dr. Zorn einst aus Venedig mitgebrachten Rezept, allerlei Konfekt und sonstige Leckereien. Das ganze Haus war vom herrlichsten Duft durchzogen, und alles war in froher Stimmung. August, erst ein finsterer Gast, taute allmählich auf. Die Mädchen sangen, wie einst am Baasee, »Es ist ein Ros' entsprungen«. Die Wärme und Innigkeit im klangreichen Alt Ursulas schien bei dem stummen Gast die letzte Kruste eisiger Zurückhaltung geschmolzen zu haben. Er drückte ihr – was seit langem nicht geschehen – zum Dank die Hand.
»Heute siehst du wieder so glücklich aus, Ulla,« rief Else fröhlich, »und ich habe dich so oft im Bett weinen hören! Du hattest dich wohl mit Gusti gezankt?«
»Ich weiß nicht, was du zusammengeträumt hast,« entgegnete Ursula und lächelte mit holdem Erröten.
Am Tage darauf erklärte August dem erstaunten Zorn, daß er ihn sobald als irgendmöglich verlassen müsse. Er wolle nach Meißen zurückkehren.
»Aber warum nur so plötzlich?«
Da schrie er gequält auf: »Ich halte es hier nicht länger aus! Alles drängt mich zu Ursula! Ich möchte sie an mich reißen, sie in Umarmungen erdrücken, ihr alles Glück zu Füßen legen – und es kann doch nicht sein!«
Zorn suchte den Aufgeregten zu beruhigen. Er bat ihn, sich zu ihm zu setzen und in vernünftiger Weise mit ihm zu reden. Er solle doch dann das Mädchen heiraten, das ihn ja auch gern zu haben scheine!
»Die Ursula ist ja wirklich ein Prachtstück der Schöpfung! Wenn man euch beide zusammen sieht, denkt man, der Herrgott selbst hat euch für einander geschaffen!«
»Das hat er auch, Oheim! Aber er hat auch die anderen Menschen geschaffen! O, könnte ich mit ihr auf einer wüsten Insel leben, fern von allem Gerede und der Böswilligkeit der lieben Nächsten! Ich möchte mit ihr nach Amerika auswandern, nach Pennsylvanien! Nur fort von hier, wo die verdammten Hunde alles mit ihrem Geifer besudeln. Und ihnen nicht sagen zu können: Ihr lügt, verfluchte Schurken!«
Zorn gebot dem wild durch das Zimmer Rasenden Ruhe. Was könne das arme Mädchen dafür, daß ihre Mutter ihren Mann betrogen habe?
»Und sie hängt an diesem Scheusal, das ihr Unglück gewesen!«
Wieder beruhigte ihn Zorn. Ihre Mutter sei eine prächtige, ehrbare Frau gewesen bis auf ihr beklagenswertes Verhältnis zu Briesemann. Ursula wäre sonst kein so vortreffliches Mädchen geworden. Daß sie ihre Mutter liebe und achte, wäre nur natürlich.
August beruhigte sich etwas. »Ich komme von dem Mädchen nicht los! Was einst aus herzlicher Liebe geschehen, mag verziehen sein. Ich werde nie wieder daran rühren! Wenn aber Ursula mein Weib werden soll, muß ich ihr selbst ein Heim bieten können, und das darf nicht hier in Berlin sein, wo alles sie und, mich an ihren Fehl – – an ihr Unglück erinnert!«
Zorn überlegte; die Meißener Apotheke solle ja zum Oktober verkauft werden. Die möge er mit Ursulas Geld erstehen, die Mutter werde sicher soweit auf ihren Nießbrauch verzichten.
Erregt verwahrte sich der Neffe. Niemand solle sagen, er habe über die entsetzlichen Verhältnisse hinweggesehen, weil Ursula ein wohlhabendes Mädchen. Zorn stimmte ihm bei. Nach einigem Besinnen meinte er, mit ihm gehe es doch bald zu Ende, seine einzige Erbin sei selbstverständlich Else. Die werde aber so reich, daß er einige ihm Nahestehende im Testament bedenken könne. Er habe ihm 5000 Taler zugedacht, als dem einzigen Enkel seiner seligen Schwester. Die gebe er ihm nun jetzt schon. Davon solle August die Apotheke kaufen und mit Ursula nach Meißen ziehen.
Tief gerührt über die Güte des verehrten Oheims stammelte August seinen Dank und küßte die entgegengestreckte Hand. Zorn wehrte lächelnd ab.
»Sag' aber keiner Seele etwas davon! Der schnüffelnde Fiskal Duhram faßt uns sonst wegen Hinterziehung von Abschoß!«
Dann mußte ihm der Neffe mit heiligem Wort versprechen, niemals der unglücklichen Ursula Vorwürfe zu machen und ihr ein schönes Los zu bereiten.
»Das arme, so namenlos schwer geprüfte Mädchen hat es, weiß Gott, verdient.«
»Das gelobe ich dir, Oheim! Ich bin so glücklich, und doch« – er seufzte – »ist mir wehmütig zumute. Gott wende alles zum Besten!«
Am Silvesterabend saß Zorn mit den drei jungen Leuten nach dem Abendessen zusammen. Die Stimmung war sehr ernst. Immer wieder behauptete Zorn mit unheimlicher Bestimmtheit, er werde im neuen Jahre sterben.
»Ich habe nicht einmal den Trost, euch Mädchen versorgt zu wissen. Du bist bald zwanzig Jahre, Ursula. Du wenigstens hättest mich von der Sorge um deine Zukunft befreien sollen!«
Heftig errötend flüsterte Ursula, es habe sie ja keiner gewollt. »Wer nimmt auch ein armes Mädchen mit so traurigem Schicksal! Ich muß Gott danken,« meinte sie lächelnd, »wenn Else mich einmal in ihr Haus als Wirtschafterin aufnimmt.«
Else lachte: »Nein, Ulla, dazu bin ich viel zu eifersüchtig. Du bist viel besser und viel hübscher als ich!«
Zorn war sehr ernst geworden. »Ich meine, Ursula, daß dein Gatte ein Schurke wäre, wenn ihm nicht dein Unglück heilig. Wie denkst du darüber, August?«
Der meinte, ein rechter Mann müsse die Seinen verteidigen, selbst wenn sie ihr Unglück verschuldet hätten. Sein Vater habe als Witwer seit zwanzig Jahren ein wenig passendes Leben geführt. Schulden über Schulden. Er danke Gott, daß er beizeiten zu Zorns gekommen, bei seinem Vater wäre er sicher zugrunde gegangen. »Aber Gott gnade jedem, der sich untersteht, auf den haltlosen Mann einen Stein zu werfen!«
»Lieber Neffe, er ist jetzt drei Jahre tot, und jetzt wird keiner wagen, den Vater eines hochachtbaren Apothekers in Meißen zu beschimpfen.«
Die Mädchen horchten auf und sahen ihn fragend an.
»Ihr seid erstaunt? Ja, August hat jetzt von einem Verwandten seiner Mutter 5000 Taler geerbt und kauft dafür die Meißener Apotheke, die am 1. Oktober frei wird. Die Sache ist schon eingefädelt.«
»Ach, das ist aber reizend!« rief Else, und beide Mädchen wünschten dem jungen Mann Glück. Der war sehr ernst geworden und heftete seine brennenden Augen auf Ursula. Verwirrt wandte sie sich ab.
Zorn brach das verlegene Schweigen. »Die französischen Kolonisten hier haben die Sitte, sich zum neuen Jahr zu beschenken. Laßt mich am letzten Neujahrstag, den ich erlebe, dies nachahmen.«
Er holte aus seiner Tasche vier einfache, mit einem kleinen Chrysopras geschmückte goldene Ringe, zwei größere und zwei kleinere. Einen der kleinen steckte er an Elses Finger und gab ihr einen der größeren. »Den gib einmal deinem Bräutigam mit Gruß und Segen von deinem Großvater.«
Bei Else war die ernste Stimmung schon wieder verflogen. Sie fiel ihm um den Hals. »Nein, Großpapa, den großen Ring behalte. Den mußt du selber meinem Zukünftigen geben. Das wirst du ganz sicher noch erleben!«
»Auf deine Gefahr!« lächelte Zorn.
Er wollte nun den anderen kleinen Ring an Ursulas Finger stecken. Da rief August mit heiserer Stimme: »Oheim, gib mir die beiden Ringe!«
Dann trat er auf Ursula zu. Mit stockender Stimme fragte er die heiß Errötende, ob sie sein Weib werden wolle. Er habe sie vom ersten Sehen an im Gedächtnis getragen, seit dem Wiedersehen im Oktober Tag und Nacht in glühender Liebe ihrer gedacht, flüsterte er ihr zu.
Tief ergriffen stand Ursula vor ihm, in ihren schönen Augen las er die Antwort auf seine Frage. Er schob ihr den Ring auf den Finger und drückte einen heißen Kuß auf die geliebte Hand.
»Auf den Mund, auf den Mund!« schrie Else entzückt. Und diesmal wurde ihrem Befehl gehorcht.
Seliges Glück schien in das stille Haus eingezogen. Wie von einem wundervollen Traum umsponnen hielten sich die Liebenden umfangen, befriedigt lächelnd ruhten die Augen des guten Alten auf ihnen. Else aber lief in jauchzender Freude in die Küche, um allen im Hause die frohe Nachricht mitzuteilen. Bald war sie zurück, hinter ihr die Mägde zum Glückwünschen. Die alte Köchin Susanne machte die Sprecherin: Das hätten sie alle längst geahnt und eben beim Bleigießen den Brautkranz gegossen. Sie zeigte noch ein anderes, ihr unerklärliches Gebilde. August lachte: »Das gilt mir, das ist ja das sächsische Kurschwert. Ich werde also Hofapotheker!«
In fröhlichster Stimmung stieß man auf das Wohl des jungen Brautpaares an. Da fühlte August an Ursulas Hand Bartholdis Ring.
»Lege ihn ab!« flüsterte er erregt. »Ich möchte an deiner Hand nur meinen Ring sehen!«
Sie sah ihn starr an. Als sie aber seinem flehenden Blick begegnete, streifte sie den Ring stumm vom Finger.
»Wann ist Hochzeit?« rief Großvater Zorn vergnügt. »Ich denke, Kinder, ihr wartet nicht bis zum Oktober! Ich richte euch zunächst ein paar Stuben hier im Hause ein, da kann mir August weiter in der Apotheke helfen.«
»Das ist prächtig!« jubelte Else, und man entwarf allerlei Pläne, den Brautleuten ein recht molliges Nest zu bereiten. Auffallend, daß August ernster blieb, als man erwarten durfte.
Als die jungen Mädchen ihr Schlafzimmer aufsuchten, konnte die vom unerwarteten Ereignis und vom Weingenuß erregte Else nicht zum Schweigen gebracht werden.
»Das ist doch zu nett, daß du in diesem Zimmer nun mit Gusti hausen wirst, wo erst er, dann du und dann wir beide gewohnt. Ach! Wäre ich doch auch erst so weit wie du! Warum sich nur Hans ganz von uns zurückgezogen hat? August muß ihn zu uns bringen! Es war wohl nur Eifersucht, daß er es nicht schon früher getan.«
Glückliche Wochen folgten. Ursula hatte sofort in einem Schreiben an die Kommandantur in Spandau um die Erlaubnis ersucht, mit ihrem Verlobten ihre Mutter aufsuchen zu dürfen. In einem an diese eingelegten offenen Briefe hatten die Brautleute um den Segen der Mutter gebeten. August hatte ihr in einfachen Worten seine lebenslängliche Dankbarkeit für das köstliche Geschenk ihrer Tochter und treue Sohnesliebe versichert.
Nach einigen Wochen sandte die Kommandantur einen Brief der Gefangenen mit dem Bemerken, daß sich hiernach der Antrag der Jungfer Heinrich erledige. Ihre Mutter hatte ihr in rührenden Worten alles Glück und reichsten Segen gewünscht, aber gebeten, sie nicht zu besuchen. Sie hoffe bestimmt, bald frei zu kommen. Es sei ihr entsetzlich, als Gefangene die Tochter und den Bräutigam sehen zu müssen. Da Ursula ohnehin ihre Erbin sei, solle sie sich wegen der Ausstattung und Mitgift an den Vormund Zorn wenden. Sie werde selbstverständlich alles unterschreiben. Der Brief, ein beredtes Zeugnis innigster Mutterliebe, entlockte Ursula heiße Tränen.
August war innerlich ganz zufrieden, vom Besuche in Spandau befreit zu sein. Er versicherte, daß es ihm auf irgendeine Mitgift nicht ankomme. Zorn gab ihm recht und forderte Ursula auf, aus den reichen Linnen- und Wirtschaftsschätzen des Hauses sich alles für den neuen Hausstand Brauchbare auszuwählen. »Else, du sorgst, daß sie nicht zu bescheiden ist, und daß für dich noch etwas übrigbleibt!«
Lachend versprach Else, die Augen offen zu halten.
Seitdem arbeiteten beide Mädchen mit Hilfe der alten Hausschneiderin Vogel unermüdlich an der Kleidung für Ursula und am Weißzeug. Nach altem Brauch wurde auch, unter lieblichem Erröten der jungen Braut, Kinderzeug hergerichtet. Else war es immer nicht ausreichend genug. Jeden Abend kam August. Es war eine selige Zeit.
Eines Tages forderte Zorn die Verlobten auf, im Geburtshaus Ursulas in der Königstraße nach dem Rechten zu sehen, ein Käufer habe sich gemeldet. August wollte gern das Haus kennenlernen, wo seine Braut geboren und vierzehn Jahre gelebt hatte; aber Ursula war dieser Vorschlag sehr peinlich. Sie hatte das Haus niemals, seitdem ihre Mutter es verlassen, wieder besucht, ja sie hatte es möglichst vermieden, diese Gegend zu betreten. Sie sah in Littow und in der Magd Meklenburg die Verräter ihrer Mutter und verabscheute sie. Diese beiden lebten als Verwalter in dem sonst unbewohnten Haus. Sie hatten es verstanden, das auf dem Mordhaus lastende Grausen geschäftlich auszunutzen. Als Bewahrer von Pelzsachen während der Sommerzeit fanden sie reichlich Kunden. Wo konnten die wertvollen Dinge sicherer als in diesem verrufenen Haus sein? So verging den beiden die Zeit mit Einmotten, Ausklopfen und ähnlichem. Was sie sonst trieben, ging keinen etwas an. In dem immer mehr verfallendem Haus zwei Einsiedler in einer allseits gemiedenen Höhle.
Am Arme ihres Bräutigams und von der Ehrenwächterin Else begleitet, betrat Ursula ihr Geburtshaus. Littow war ganz verblödet und erkannte sie kaum wieder. Die Magd war desto lebhafter. Sie kam immer wieder auf den Mord vor sechs Jahren zurück, offenbar hatte er seitdem ihr ganzes Denken ausgefüllt. »Hier int Haus liegt det Rätsels Lösung, sagt Nachbar Lüdicke. Der sieht ooch immer den Dodigen nachts rumloofen.«
Else merkte Ursulas steigendes Unbehagen bei diesem Gerede und wollte gutmütig die Magd auf andere Gedanken bringen. Sie plauderte, August sei am Abend des schrecklichen Tages hier vorbeigegangen und von Ursula vom Küchenfenster aus begrüßt worden. Dann habe er noch einige Stunden später lange mit einem guten Bekannten vor dem Hause gestanden.
Da horchte die Magd auf. August erzählte ihr dann auf ihr Fragen, daß er am Morgen bereits von Zorns Abschied genommen habe. Aber am Stadttor sei er einem alten Meißener Schulbekannten begegnet, einem Diener der Prinzessin Lubomirska. Der habe ihm zugeredet, doch lieber am Abend hinten auf dem Wagen der Prinzessin bequem bis Dresden mitzufahren; da sei er umgekehrt, habe mit dem in der Dienerstube verweilt und sei nur abends noch mit dem Georg Müller in den Ratskeller gegangen. Er blickte Ursula zärtlich in die Augen.
»Es muß mich ein Magnet damals an dieses Haus gebannt haben, denn ich habe vor der Abfahrt noch ein Weilchen mit meinem Bekannten vor dem Hause der schönsten Berlinerin gestanden. Und darum erinnere ich mich auch noch an diese Einzelheiten, als wäre es gestern geschehen!«
Beim Abschied wollte August der Magd einen Taler schenken, den sie aber entrüstet ablehnte.
»Merkwürdige Menschen,« meinte er auf dem Heimweg, »ich verstehe dich, Ulla, daß du dies Haus immer gemieden hast. Wie mich die alte Hexe wütend anstarrte!«
»Und beide waren so nett und gut zu mir, als ich zu Hause war! Wenn man doch nur den schändlichen Mörder endlich entdeckte! Auch diese beiden hat er auf dem Gewissen.«
Zu Haus kamen sie bald auf andere Gedanken. Da war die Schneiderin Vogel, um das Brautkleid aus kostbarem weißen Seidenstoff zuzuschneiden. Sie spie zuerst hinein und trieb allerhand anderen Hokuspokus, um die bösen Geister zu bannen. Begeistert plauderte sie von dem tiefen Ausschnitt und den Genter Spitzen als Einsatz.
Viel Mühe um nichts! Das herrliche Gewand sollte niemals fertig werden und Ursula nicht an ihrem Ehrentage schmücken! – – –
Einige Tage später reiste August nach Meißen, um hier den Kauf der Apotheke endgültig abzuschließen.
Während seiner Abwesenheit kam ein Stadtdiener zu Zorns mit der Aufforderung des Stadtrichters Helwig, August Schadebrot möge sofort zu ihm kommen.
»Der ist abgereist,« sagte Zorn, »worum handelt es sich denn?«
Der Diener meinte, es hinge wohl mit dem Heinrichschen Mord zusammen. Schuster Lüdicke habe vor einigen Tagen wieder eine Anzeige in dieser Sache gemacht. Er ließ sich dann eine schriftliche Bescheinigung über die Abreise Schadebrots geben.
Der alte Apotheker schüttelte den Kopf: Was wollte denn der Bote von mir, August hat doch bei meinem Bruder gewohnt! Und was hat mein Neffe mit dem Morde von Heinrich zu tun! Er hat wohl Silberborten oder Spitzenwerk getragen und unwissentlich eines der vertrackten Luxusverbote übertreten!
Zu Ursula sagte er später lächelnd, sie bekäme wahrscheinlich einen vorbestraften Mann. Er sei zur Anzeige gebracht, und der Stadtrichter wolle seine Bekanntschaft machen. Um Ursulas Mund zuckte es bitter. »Dann würde er ja desto besser zu mir passen.«
»So darfst du nicht reden, Ursula! Ich denke, es hat dich keiner dein unverschuldetes Unglück entgelten lassen.«
Ursula umarmte ihn. »Weil du und Tante Zorn schützend über mich die Hände gebreitet.«
»Und nun wird es August tun«, meinte der Alte und lächelte.
Aber das Lächeln verging ihm. Nach wenig Stunden kam er totenbleich aus der Apotheke nach oben und erzählte, in der ganzen Stadt laufe das Gerücht, August habe vor sechs Jahren den Meister Heinrich, der ihn beim Diebstahl ertappt habe, erschlagen. Neulich habe es ihn – wie so oft einen Verbrecher – nach der Stätte seiner Tat zurückgezogen. Wider Willen sei ihm das Geständnis seiner Schandtat entfahren. Dann habe er die Magd Meklenburg durch eine Geldsumme zum Schweigen bewegen wollen.
Verständnislos, in starrem Schweigen hatte Ursula den Alten aussprechen lassen. Jetzt brach sie zusammen.
»Mein Gott, mein Gott!« schrie sie außer sich, »nimmt denn mein Unglück nie ein Ende! Bin ich nur zum Leiden und zur Qual geboren!«
Dann sah sie die fieberhafte Erregtheit des über sie gebeugten gütigen Mannes. Sie raffte sich zusammen, führte den kraftlosen Greis zu einem Sessel und bat ihn, sich zu beruhigen. »Es ist ja alles nur dummes Gerede. In kurzem wird August kommen und alles zum Schweigen bringen.«
»Er soll wegbleiben! Er soll um Gottes willen nicht hierherkommen, bis die Sache aufgeklärt ist!«
»Großpapa, ist das richtig? Gibt er damit dem blödsinnigen Gerede nicht neue Nahrung?«
»Mag sein, ich verstehe nicht viel von der Strafjustiz. Aber wenn er in den wahnsinnigen Schmerzen der Folter gestünde, zum Tode verurteilt, hingerichtet würde!«
»Hör' auf, hör' auf! Man verliert ja den Verstand.«
Mit dumpfer Stimme flüsterte der Fiebernde: »Die alte Susanne hat Kranz und Schwert gegossen. Der Brautkranz ist eingetroffen – nun wird sich auch das Henkersschwert für August erfüllen.«
Einige Stunden später war ein Brief nach Meißen abgegangen und der Advokat Ziegler um seinen Besuch gebeten. Der Diakon Kahmann erschien ungebeten, um Ursula und Zorn zu beruhigen.
»Liebe Ursula, ich habe von dem furchtbaren Gerücht gehört –«
»Hochwürden,« unterbrach ihn Ursula empört, »Ihr glaubt doch nicht daran?!«
»Gewiß nicht, mein Kind. Ich weiß bestimmt, daß er ganz unschuldig ist, denn ich kenne den, der deinen Vater ermordet hat. Es ist Briesemann!«
»Hochwürden, daran habe ich nie gezweifelt. Aber er hat es nie eingestanden und ist deshalb freigesprochen!«
»Liebes Kind, das ist die Kurzsichtigkeit der irdischen Richter, die den Schlichen der Anwälte nicht gewachsen sind. Aber der Herr läßt sich nicht verspotten, er will selbst die Rache ausüben, und er tut dies durch die Stimme des Gewissens.«
»Hat denn Briesemann seitdem gestanden?«
»Mein Kind, Andreas Schmidt und Bruder Lysius mögen sonst tüchtig im Acker des Herrn arbeiten, aber die feinere Seelenkunde hat ihnen Gott verschlossen. Von deiner unglücklichen Mutter will ich nicht reden, denn du darfst nicht ihre Richterin sein. Siehe aber den Briesemann: Er hat sich beim Todesurteil beruhigt, ja, er soll unwillig gewesen sein, als er auf dem Schafott begnadigt wurde.«
»Das ist richtig. Das erzählten uns Schmidt und Lysius.«
»Kein Sünder, der nur einen Ehebruch auf dem Gewissen hat, wird – so scheußlich diese Sünde auch ist – dafür die Todesstrafe als die gerechte Sühne anerkennen, da der Staat andere kaum darum bestraft. So ist allein schon diese Beruhigung mit dem Urteil ein Geständnis.«
»Meine Mutter hat immer das Urteil für ungerecht erklärt.«
»Ich will nicht von deiner Mutter, sondern nur von Briesemann mit dir reden. Er hat ganz unzweifelhaft während seiner Gefangenschaft dem Geistlichen in Peitz sein Herz eröffnet! Ich kenne den dortigen Prediger Nicolai oberflächlich, ich werde an ihn schreiben.«
»Hochwürden,« fiel Zorn ein, »der darf doch nichts verraten, was ihm Briesemann unter dem Beichtsiegel anvertraut haben mag!«
»Herr Zorn, ich sehe in Euch das Beichtkind von Lysius. Darf man schweigen und es ruhig mit ansehen, wenn statt des Schuldigen ein ganz Unschuldiger, wie Ursulas Verlobter, das Schafott besteigt?«
Ursula lehnte totenbleich im Sessel und folgte zitternd den Auseinandersetzungen Kahmanns. Der fuhr zu ihr gewendet fort: »Gehe zu Lysius und womöglich auch zu Schmidt, und frage sie auf ihr Gewissen, ob Briesemann nicht längst den Mord bekannt hat.«
Mit einem frommen Segenswunsche entfernte sich Kahmann.
Bald danach kam Ziegler und ließ sich die Sache umständlich berichten. Dann meinte er, Schadebrot möge zunächst ruhig in Meißen bleiben. In einigen Wochen werde der Klatsch wohl verstummen, schlimmstenfalls solle die junge Braut nach Meißen gehen und dort ihre Hochzeit feiern.
»So klug waren wir auch allein!« seufzte Zorn nach Zieglers Fortgang.
Ursula aber hatte den Worten Kahmanns nachgedacht und erklärte: »Ich gehe zu Lysius!«
Kurz entschlossen redete sie den Geistlichen an: »Könnt Ihr es mitansehen, wenn mein unschuldiger Bräutigam wegen eines Verbrechens verfolgt wird, und Ihr wißt doch, daß es Briesemann begangen hat?«
Verwundert erwiderte Lysius, woher sie dies denn wisse.
»Er hat es Euch doch geschrieben,« sagte Ursula aufs Geratewohl.
»Um Gottes willen, woher habt Ihr das erfahren?«
»Ich glaubte, es aus einer Bemerkung von Diakon Kahmann entnehmen zu müssen.«
Lysius gab nun zu, daß Briesemann seinem Beichtvater Nicolai in Peitz den Mord gestanden habe. Aber was wolle das besagen? Ein Festungsbaugefangener gestehe oft Verbrechen, weil er den Tod weniger als das hoffnungslose Einerlei der Arbeit fürchte. Die Witwe seines seligen Amtsbruders Nicolai habe ihm einen für Schmidt bestimmten Brief Briesemanns zugesandt; jener habe auch bezweifelt, ob dieser jetzt die Wahrheit gesagt.
»Prediger Nicolai ist tot?« schrie Ursula auf. »Und ich wollte zu ihm!«
Lysius beruhigte sie; er werde ihr ein Schreiben an seine Witwe mitgeben, die kenne ja die Verhältnisse in Peitz und werde ihr bei ihrem Vorhaben behilflich sein.
»Schreibt gleich,« bat Ursula. »Ich werde vielleicht auch mit Briesemann reden. So grundschlecht wird er wohl nicht sein, mir nun auch noch den Bräutigam ins Verderben zu stürzen. Gebe Gott, daß ich ihn zu einem Geständnis bringe, und daß es Glauben findet!«
Lysius versprach es.
Ehe dieser Brief eingetroffen, erhielt Ursula eine Vorladung vor den Stadtrichter Helwig. Der vernahm sie eingehend über alles, was ihr über Augusts Verhalten am Tage des Mordes und sonst von ihm bekannt sei. Auch den kürzlich im alten Haus abgestatteten Besuch mußte sie genau schildern. Als sie dann angegeben, daß Briesemann sich bereits zum Morde bekannt, zuckte er die Achseln. »Was will das jetzt besagen!«
Helwig entließ sie mit dem Gebote, ihm sofort die Rückkehr ihres Verlobten anzuzeigen.
Nach ihrer Entfernung meinte Aktuar Contius: »Die Kleine scheint keine Ahnung von dem Gewitter zu haben, das gegen ihren Liebsten aufzieht. Sie kann mir leid tun. Sie erinnerte mich lebhaft an ihre Mutter; die hat vor zwanzig Jahren auch so ausgesehen. Die Kleine hat noch etwas Vornehmeres.«
»Contius, Contius! Ein Ehemann sieht nicht nach fremden Frauen! Aber Er hat recht. Na, hoffentlich bleibt Schadebrot in Sachsen! Ehe wir dann von diesem freundwilligen Nachbar die Auslieferung erlangt haben, können Jahre vergehen; wenn wir sie überhaupt durchsetzen. Der König hat sich mit seinen Werbungsgeschichten drüben so viel Feinde gemacht, daß er auf wenig Gegenliebe rechnen kann. Schadebrot soll ja ein auffallend stattlicher Kerl sein. Da werden sie das ganze für eine Finte halten, um ihn nach Brandenburg und dann in die Riesengarde zu bekommen. Eine verfluchte Geschichte! Ich sage immer wieder, es wäre ein Segen gewesen, wenn der Teufel den Heinrich auf irgendeine andere Art geholt hätte! Wieviel Jammer und Ärger wäre erspart geblieben!«
»Und wieviel Arbeit, Herr Stadtrichter!«
Ursula empfing bald darauf den Brief von Lysius und wollte am nächsten Tage nach Peitz reisen. Da wurde – allen unerwartet – Zorn beim Abendessen plötzlich von einer schweren Ohnmacht befallen. Erst nach langer Bemühung seines sofort herbeigeholten Bruders Bartholomäus wurde sie behoben. Der Kranke fiel indes in einen fiebrigen Zustand, der seine schwachen Kräfte aufrieb. Jeden Abend kamen Probst Porst und Lysius, ihn mit geistigem Zuspruch zu stärken. In einem klaren Augenblick bat er in deren Gegenwart seine treue Pflegerin Ursula, ihm einen letzten Wunsch zu erfüllen, da er sonst nicht ruhig sterben könne. Ursula versprach alles zu tun, was er irgend verlange.
»Dann heirate, ohne auf die Trauer um mich Rücksicht zu nehmen, so bald als möglich deinen August. Else wird zu ihrem Vater zurückkehren, und ich will vor Gott mit dem Bewußtsein treten, meine Pflicht gegen dich bis zuletzt treu erfüllt zu haben.«
Ursula drückte ihm zur Bejahung stumm die Hand.
Dann stellten sich neue Fieberträume ein. Plötzlich schrie er wild auf: »August, August! Dein Vater ein Taugenichts! Und du ein Mörder!«
Am ganzen Körper zitternd beugte sich Ursula über den Kranken, ihm die kühle Hand auf die heiße Stirn legend. Er fiel alsbald in tiefen Schlummer, aus dem er nicht wieder erwachte. Es war am Morgen des 6. Juni.
Mitten in dem ersten Schmerz kehrte August aus Meißen zurück. In der Freude des Wiedersehens ein bitterer Tropfen! Dann aber bald die bange Frage: »Ulla, wann wirst du nun die Meine?«
»Gusti, es war der letzte Wunsch unseres teuren Toten, nicht eine Trauerzeit einzuhalten. Aber du weißt von dem unsinnigen Verdacht gegen dich?«
»Gewiß, und jeder wird sehen, daß ich ihn verachte, denn sonst hätte ich ruhig in Meißen bleiben können. Der Brief vom Oheim ist mir richtig zugegangen.«
»Ach, Liebster, ich fürchte, daß ich dich zurückgezogen habe.«
»Ehrlich gesagt, Ulla, du ganz allein! Denn glücklich, wer mit der verfluchten Justiz nichts zu tun hat!«
Ursula lohnte dies Geständnis seiner Sehnsucht nach ihr mit einem heißen Kuß. Dann bat sie aber ihren Verlobten, sofort zum Stadtrichter Helwig zu gehen und sich ihm zur Verfügung zu stellen.
Helwig war von dem offenen, ehrlichen Wesen des jungen Mannes angenehm überrascht. Von einer Verhaftung nahm er vorläufig Abstand, befahl ihm aber, ruhig in seinem Zimmer bei Dr. Zorn zu bleiben, sich vor keinem Menschen sehen zu lassen und auch an der Beisetzung nicht teilzunehmen. Inzwischen werde nachgeprüft werden, ob Briesemann den Mord gestanden und ob diesem Geständnis zu glauben sei. August fühlte die wohlwollende Gesinnung des Richters und versprach treuen Gehorsam mit Handschlag an Eides Statt.
»Ich war gewarnt, hierher zu kommen, habe es aber trotzdem getan.« Er zeigte Zorns Brief.
»Das habt Ihr brav gemacht, und es soll Euer Schade nicht sein. Laßt mir den Brief. Der wird mich rechtfertigen, wenn man mir etwa vorwerfen sollte, Euch nicht in den Kalandshof geschickt zu haben.«
Erstaunt fragte August, was denn gegen ihn vorläge, um so strenge Maßregeln zu rechtfertigen.
Helwig erwiderte ernst, daß er nur seine Pflicht täte. Die Verdachtsmomente wären bedeutend genug. Scharf den völlig Betroffenen anblickend, warf er Schlagworte hin: Die Entkräftung des Verdachts gegen Briesemann durch die bestandene Folter – das rätselhafte Fehlen der hundert Taler – die schlechte, nach Rückkehr von August verbesserte Vermögenslage seines Vaters – damals drohende Zwangsvollstreckung wegen ebenfalls hundert Taler – der Verkehr mit dem Spitzbuben, dem verdorbenen und gestorbenen Georg Müller – das Versteckspiel am Mordabend! –
War es die Stimme des Gewissens? War es das furchtbare Gefühl der Machtlosigkeit gegen die Wucht solcher Verdachtsmomente? August wurde leichenblaß und sank auf einen ihm schnell von Contius untergeschobenen Stuhl. »Darf ich, bevor ich mich in den Hausarrest begebe, von meiner Braut Abschied nehmen?«
Helwig sann nach. »Es kann hier geschehen. Ein Bote soll die Jungfer Heinrich hierher bringen.« –
Tiefes Schweigen. Dann fuhr August aus seinem dumpfen Brüten auf: »Ich konnte mich doch an dem Tage nicht mehr sehen lassen! Ich hatte doch von allen schon Abschied genommen. Zorns hätten mich ja für den Abschaum von Sünde gehalten, wenn sie von meinem Zusammensein mit Müller und von dem harmlosen Zechen im Ratskeller gehört hätten! Mein früherer Schulkamerad war immer ein windiger Geselle gewesen, niemals habe ich wieder etwas von ihm gehört.«
Ursula trat ein. Erschrocken blickte sie auf den im Fieber Glühenden. Mit brennenden Augen starrte er sie an: »Ich bin verloren! Verzeih mir, daß ich dir diese Schmerzen zufüge!«
Sie trat zu ihm: »Beruhige dich! Du bist jetzt erregt, und das ist kein Wunder – die lange Reise, der plötzliche Tod deines Oheims und der entsetzliche Verdacht – o, mein Gott!«
Der Stadtrichter riet ihm, sich sofort nach Haus zu begeben und sich von Dr. Zorn behandeln zu lassen, da er anscheinend erkrankt sei.
Ursula stimmte dem wohlwollenden Manne bei. »Ich schicke dir die alte Susanne zum Pflegen, wenn es der Herr Stadtrichter gestattet.« Der nickte. »Ist sie wieder zurück, so fahre ich sofort mit ihr nach Peitz. Ich werde die Sache schon aufklären!«
»Du glaubst an meine Unschuld, wo alles gegen mich spricht?«
Sie legte mit einem warmen Blick ihre Hand auf die seine. »Wo Liebe ist, da ist auch Vertrauen. Hieltest du mich etwa für schuldig, wenn man mich in Verdacht hätte?«
Er sah sie lange an. Dann sprach er zögernd – seine Stimme klang wie aus weiter Ferne: »Ich weiß doch nicht, was Liebe mit Vertrauen zu tun hat. Dich liebte ich, wenn du auch gesündigt – du liebst ja auch deine Mutter!«
Ursula stand wie erstarrt. Dann wechselte sie einen Blick mit Helwig: »Der Herr Stadtrichter hat recht, du bist wirklich krank.«
Nachdem sie gegangen, folgte ihr der Verstrickte mit dem Boten.
So benimmt sich doch kein Schuldloser – dachte Helwig.