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Das nach den Rissen des berühmten Nehring erbaute stattliche Palais des Ministers, Geheimen Rats usw. usw., Freiherrn von Bartholdi, lag in der Spandauer Straße, der Brauhausstraße gegenüber. Die fünf Fenster des prächtigen Saales im oberen Geschosse gingen nach der Spandauer Straße; sie waren mit kostbaren samtnen Vorhängen geschmückt und zeigten in den Zwischenräumen prächtige Spiegel, denen ein Kenner die Herkunft aus der Glashütte zu Neustadt an der Dosse ansah. An den Seitenwänden erregten wundervoll geschnitzte Flügeltüren, geschmückt mit Guirlanden haltenden Engeln, die staunende Bewunderung der Besucher. Ein kleiner Tisch an der Rückwand war mit roten Samtsesseln umstellt, einen gemütlichen Ausschnitt in dieser auf Rot und Silber abgestimmten, etwas kalten Pracht bildend. An dieser Wand hingen in versilberten Rahmen vier große Tierstücke von I. G. v. Hamilton. In der Mitte erhob sich mit mächtiger Wirkung die überlebensgroße Marmorbüste des Königs von Glumes Meisterhand. Zu bedauern war, daß so die Hautelissetapeten kaum sichtbar wurden, doch zeigten das kostbare Getäfel des Fußbodens und die herrliche Stukkatur der Decke, von der ein riesiger Kronleuchter mit wohl tausend geschliffenen Glasstücken herabhing, ihre unverhüllte Schönheit.
Einen eigenartigen Schmuck des Saales bildete die Supraporte über der Flügeltür zum Nebenzimmer. Zwölf Fuß in der Länge und halb so hoch hing hier eine Kopie der Perle der Borghese-Galerie zu Rom, des Meisterwerkes von Tizian: auf einem Brunnenrande eine sich daran leicht anlehnende unbekleidete weibliche Person, auf der anderen Seite eine sitzende, dunkel gekleidet. Einem Kunstkenner wäre es aufgefallen, daß jene ohne das rote, um den linken Arm geschlungene Tuch und mit goldglänzenden Haaren dargestellt war. So fehlte der rote Ton des Vorbildes; der wunderschöne Leib war marmorweiß, da die Reflexe jenes Tuches fehlten. – Die sitzende Figur zeigte das eigenartig rote Haar der Venezianerin von der terra ferma. Kein Beschauer hätte hier die Frage gestellt: Hat der Künstler dieselbe Person oder zwei verschiedene in diesem Bilde wiedergegeben? Eine Frage, die sich beim Anblick des römischen Vorbildes jedem aufdrängt.
Das Meisterwerk im Palais Bartholdi hatte seine Geschichte:
Ende Mai 1695 war Bartholdi nach langer Anwesenheit im Haag nach Berlin mit Depeschen des Residenten gekommen und hier durch seine Ernennung zum Legationsrat in Wien überrascht worden. Schon an einem der nächsten Tage sollte er dorthin gehen. Der Leutnant du Rosey von den Grands mousquetaires hatte ihm für die wenigen Tage sein Quartier zur Verfügung gestellt. Um den letzten Abend passend anzuwenden und von seinen Gönnern und Freunden Abschied zu nehmen, hatte sich Bartholdi eine Einlaßkarte zu der in der Meierei der Kurfürstin an der Spree Später Schloß und Park Monbijou., seinem Absteigequartier gegenüber, stattfindenden »Wirtschaft« verschafft. Im großen Garten war eine Art Theater der einfachsten Form errichtet: Holzgerüst, rote Leinewand, die schreiendsten Farben, eine Szene, auf der sich höchstens zwanzig Personen frei bewegen konnten. Einige Sessel davor für den Hof, dahinter samtüberschlagene Bänke für die geladenen Gäste. In einem versteckten Winkel saßen einige Musikanten. Bei den recht einfachen Tönen weniger Instrumente wurde auf der kleinen Bühne die »Hochzeit der Venus« dargestellt. Ein Ballet, offenbar nach einem französischen Muster vom Zeremonienmeister von Besser zusammengestellt. Aber es war, als ob Gänse und Enten auf dem Dorfteiche den Schwänen im waldumsäumten Weiher des Schloßgartens hätten nachahmen wollen. Die damalige Kurfürstin Sophie Charlotte galt als geistvolle Dame – wie denn einmal jede junge Prinzessin als blendend schön galt, sich stets aus innigster Neigung vermählte, um im Alter entweder zur Säule der Weisheit oder der Religion zu werden. Zur Religionssäule hatte nun Sophie Charlotte, die Freundin des Theaters, garkeine Anlage, aber wenn sie auch mit Leibniz geplaudert, fehlte ihr doch auch sehr viel zu einer Säule der Weisheit. Die dramatische Kunst konnte kaum noch tiefer sinken: Pöbelhafte Scherze, gegen die von der Geistlichkeit aller Bekenntnisse auf den Kanzeln und in Traktaten gedonnert wurde. Da ward gegen »die an die Kirche angebaute Satanskapelle«, gegen die »Schwein-Ygeleien« kräftig geeifert. Am Hofe der Kurfürstin wurde zwar die grobe Unfläterei vermieden, aber was hier gebracht, wurde als »hinsiechendes Christentum und siegendes Heidentum«, als »französischer Kälbertanz« an den Pranger gestellt. Weit über das Ziel schossen die Gegner dabei, aber sie kämpften doch für besseren Geschmack gegen Pöbelhaftigkeit, Albernheit, Unnatur.
Auch das, was Sophie Charlotte an jenem Maiabend an Kunstgenüssen ihren Gästen bot, war recht albern und läppisch: Da erschien der ganze Götterhimmel Ovids. Die fünfzehnjährige Prinzeß Luise Dorothee als Venus, ihr siebenjähriger Stiefbruder, der spätere zweite Preußenkönig, als Cupido! Der kleine, dicke Junge im seidenen Trikot, mit rosa Mullwolken um das feiste Körperchen, in der Perücke ein Band mit riesigen Brillanten über der Stirn – ein lächerlicher Anblick! Überall mit Rosenguirlanden umwunden, ward er von der Stiefschwester-Mama an einer langen Rosenkette geführt. Das war noch das beste an der Sache, aber die Venus! Die lange, dünne Prinzeß mit der Wiedehopfnestfrisur, in der den flachen Busen bedrückenden Schnürbrust, den drahtgepanzerten schweren Seidenröcken, sah zum Erbarmen aus. Die hilflose Lächerlichkeit reizte zum Mitleid. Die anderen Göttinnen: Juno, Diana usw., die von den Markgräfinnen Philipp und Albrecht und einigen Hofdamen verkörpert wurden, sahen nicht viel besser als die Venus aus. Die Kavaliere, als Jupiter, Mars, Vulkan, waren in römischer Tracht, wie später der eherne Kurfürst auf der Langen Brücke. Meister Massoneau, der eben das Weben von Seidentrikot in der Brietschen Fabrik zu Berlin eingeführt, mochte gemeint haben, daß es auf dem Olymp sehr kalt gewesen, denn die das Fleisch andeutenden Trikots waren mehr rot als weiß; die Träger schienen zu frösteln.
Diese Zerrbilder des griechischen Götterhimmels zogen zuerst in langem Zuge auf. Jupiter vereinte die Hände von Venus und Vulkan. Dann kam Mars zur Venus, setzte sich mit ihr auf eine Bank. Vulkan wurde von Merkur herbeigerufen, schlich sich wieder fort, kam mit einem Netz zurück und warf es über beide. Schließlich traten alle Götter und Göttinnen hinzu und lachten das ertappte Paar aus. Damit war dieser Genuß zu Ende, und eine Pause trat ein.
Der frisch ernannte Legationsrat hatte inzwischen alle, die er sprechen wollte, begrüßt. Der Kurfürst war recht gnädig gewesen, Minister Dankelmann ungewöhnlich zugänglich. So hatte er seinen Zweck erreicht. Da die Hitze immer drückender wurde, ging er ins Freie. Er wollte nur Luft schöpfen und später wiederkommen, um an der Kollation teilzunehmen. Aber er kehrte nicht zurück.
Beim Hinaustreten fällt ihm ein in schlichtes Weiß gekleidetes junges Mädchen in die Augen. In ihrer einfachen Tracht ein wahres Labsal nach den Reifröcken der Göttinnen. Ihr bis zum Ellbogen entblößter Arm mit seiner gesunden weißen Farbe bildet einen glänzenden Gegensatz zu den abscheulichen Trikots. Das Gesicht kann er nicht erkennen, da sie ein Taschentuch an die Augen führt. Wegen der Zierlichkeit ihrer Gestalt und der Anmut ihrer Bewegungen hält Bartholdi sie für eine Angehörige der französischen Kolonie und tritt mit einem » Pourquoi des larmes, mademoiselle?« an sie heran. Bald stellt sich heraus, daß er sich geirrt, und sie kommen schnell auf deutsch in ein munteres Gespräch. Sie erzählt, daß ihre Tante, bei der sie wohne, ihr erlaubt habe, der heutigen Wirtschaft von einem verborgenen Winkel aus, den sie ihr genau beschrieben, beizuwohnen. Sie sei auch in das Haus und in jene Ecke glücklich gekommen, da habe sie aber ein grober Diener bemerkt und an die Luft gesetzt. Bartholdi spricht der schon wieder Lachenden sein Bedauern aus, daß er schon morgen Berlin verlassen müsse, sonst würde er versucht haben, ihr zu einer späteren Vorstellung ungestörtes Verweilen in jenem Winkel zu verschaffen. Die Kleine horcht auf, als er von der baldigen Abreise spricht, und wird zutraulicher. Sie fragt nach dem Sinn des Stückes, dessen Anfang sie nicht verstanden und dessen Schluß sie nicht gehört habe. Der vielgewandte Weltmann erzählt ihr, daß ein alter Mann seine ganz arme Tochter an einen reichen, hinkenden Schmied verheiratet habe. Die junge Frau, Venus mit Namen, sei wunderschön gewesen. Der viel ältere Gatte habe ihr nicht gefallen, sie habe deshalb mit einem Offizier, Mars, ein Verhältnis angefangen. Das sei dem alten Schmied, Vulkan, verraten worden. Im Ärger habe er ein künstliches Netz gefertigt, es über die Liebenden geworfen, dann alle Verwandten herbeigerufen, um das gefesselte Paar zu sehen. Die hätten aber den alten Esel ausgelacht. Mit gespannter Teilnahme folgt die Kleine der Erklärung.
»Aber wer war die Venus? Ich fand keine der Damen so schön?«
»Die mit der Wiedehopfnestfrisur,« meinte er lachend, »und der kleine Knabe, den sie an der Rosenkette geführt, ihr Sohn Cupido, der Liebesgott.«
Verlegen lächelt die Kleine. Dann zieht sie den Schluß, daß Venus den kleinen dicken Bengel, der immer so um sie herumgehüpft, dann ja schon vor der Hochzeit mit dem lahmen Schmied gehabt habe. Heiteres Gelächter unterbricht die Fragende: Man dürfe von Seiner kurfürstlichen Durchlaucht, dem Kurprinzen von Brandenburg, nicht von »Bengel« und »Herumhüpfen« reden! Die Erklärung folgt, daß Venus wohl schon vor der Hochzeit ein Verhältnis mit Mars gehabt, das habe der alte Hinker übersehen; aber daß sie es nach der Hochzeit fortgesetzt, habe er übelgenommen. Das junge Mädchen wird immer verlegener und nachdenklicher. Nach einer Pause fragt sie, ob denn die wirkliche Venus nicht schöner gewesen sei als die mit dem Wiedehopfneste?
»Hätte ich das nötige Kostüm –« sie schweigt errötend.
Ein flammender Blick Bartholdis streift sie.
»Komm in mein Quartier, hier ganz in der Nähe, da kann ich dir ein solches zeigen,« flüstert er und legt den Arm um ihre schlanke Hüfte.
Verwundert über den Wechsel in der Anrede und immer holder erglühend geht sie an seinem Arm in das einfache Zimmer des Leutnants. Überall stehen, in Ledersäcke verpackt, Sachen zum Abholen für die Reise bereit. Sie scheint befriedigt, daß er ihr also die Wahrheit gesagt. Ohne Ziererei spricht sie dem Wein und dem Backwerk zu, das er ihr aufwartet. Dann fragt sie nach dem Kostüm, das er ihr doch zeigen wollte. Da zieht er sie leise an sich und flüstert in das rosige Ohr, daß dies Kostüm, wie das der Eva, in – eben in nichts bestehe. Er fleht sie an, sich ihm darin zu zeigen. Sie wird sehr böse und will davonlaufen. Er hält sie zurück und beteuert, er habe sie nicht damit beleidigt; die Göttin der Schönheit sei so gekleidet gewesen, und diese Tracht sei nur abgekommen, weil die Weiber bei ihrem Pudern, Schminken und entsetzlichen Schnüren nicht mehr schön genug seien, um sich so zu zeigen. Sie atmet tief auf und fragt mit ängstlicher Dringlichkeit, ob er ihr auf sein Wort als Kavalier geloben wolle, daß er nie nach ihrem Namen forschen wird. Das verspricht er mit allen Eiden. Mit ersterbender Stimme bittet sie ihn, sich umzuwenden. – Kleiderrauschen – tiefe Stille. Er wendet sich um. »Venus! Holde Göttin!« – –
In weißsamtener Nacktheit steht das schöne Mädchen vor ihm, hell von der Abendsonne beleuchtet. Sie lehnt, das linke Bein leicht über das rechte geschlagen, gestützt auf den rechten Arm, am Tisch, an dem beide vorher gesessen. Der linke Arm hängt am Duft und Frische atmenden Leib herab, der Blick der glänzenden Augen irrt in die Ferne. Gebannt starrt er auf das wunderbare Bild – da sinkt er ihr zu Füßen. –
Durch die geöffneten Fenster dringt süßweicher Duft des blühenden Flieders, singen schmelzende Geigentöne aus dem Garten der Kurfürstin. Am Abendhimmel flammt im Silberglanz das Gestirn der Venus ... Und es kam, wie es kommen mußte ... Heiße Liebessehnsucht des Mannes, keusches Zurückbeben des jungfräulichen Weibes – dann alles gewährende, zärtliche Hingabe. – –
*
Und am andern Morgen der Abschied. Unter heißen Küssen will er ihr einen kostbaren Ring auf den Finger schieben – heftig weist sie ihn zurück: »Du willst mich bezahlen! Glaubst du, daß du bezahlen kannst, was ich dir geschenkt?«
Tränen stehen in ihren Augen. Er beruhigt sie, der Ring solle nur ein Andenken an ihn sein. Da flüstert sie errötend ihm ins Ohr: »Ach, ich ahne, du hast mir ein bleibendes Andenken geschenkt! Dafür danke ich dir aus vollstem Herzen, geliebter Mars! Und für den kleinen Liebesgott« – sie sieht sein Erschrecken und ein wehmütiges Lächeln gleitet über ihre schönen Züge – »dafür wird der Schmied Vulkan dann sorgen.« Sie erinnert ihn noch einmal an sein heiliges Versprechen des unverbrüchlichen Schweigens, dann schneidet sie eine Locke ihres reichen, goldglänzenden Blondhaares ab. »Nimm dies zur Erinnerung an mich – es ist ja ein Teil meines Kostüms als Venus.« – – Noch ein letztes, heißes Umfangen. Dann huscht sie zur Tür hinaus – und wenige Stunden später ist er auf dem Weg nach Wien. Nach dem berauschenden Glück – das kalte Einerlei des Dienstes. – –
*
Hier hatte er in unablässiger Arbeit die Königskrone Preußens nicht geschmiedet – das hatte der Große Kurfürst getan –, aber ihr doch Anerkennung am kaiserlichen Hofe und damit in der ganzen Welt verschafft. Er bearbeitete die hier den Ton angebenden Jesuiten für seinen Landesherrn. Da war der Kurfürst ein eitler Schwächling, bereit, alles für den Glanz einer Krone zu opfern, selbst den reformierten Glauben, der bei den meisten seiner Untertanen ohnedies verhaßter als der Katholizismus war. Da erschien die Kurfürstin als eine völlig gleichgültige Dame, deren Erziehung so eingerichtet, daß sie zur Gattin eines Katholiken, Reformierten oder Lutheraners gleichmäßig paßte oder nicht paßte. Etwas Wahres war ja daran. Solche Gedanken, vorsichtig angeregt an den entscheidenden Stellen, wirkten dann im stillen weiter. Die weiter sehenden kaiserlichen Räte fanden bald steigende Willfährigkeit für die kurfürstlichen Wünsche bei ihrem Herrscher. Friedrich III. wurde zum Abbild des treuen Vasallen, der nur darauf brennt, sein willenloses und durch die unablässigen Kämpfe zwischen Lutheranern und Reformierten verwirrtes und zum Widerstand unfähiges Volk in den Schoß der katholischen Kirche zurückzuführen. Diese günstige und immer günstiger werdende Stimmung war des feinen Menschenkenners Bartholdi Werk. Rastlos hatte er gearbeitet und die Belohnungen verdient, die nach dem Erfolg der dankbare König über ihn ergossen. Aber bei aller Arbeit und allen Ränken und Schlichen hatte er nie des letzten Abends in Berlin vergessen. Wie ein Talisman ruhte an seinem Herzen die goldene Locke der von ihm verführten Schönen. Verführt – wie sich der Rosenstock verführen läßt, beim Strahl der Frühlingssonne seine Blüten sprießen zu lassen!
Da besuchte er eines Tages die Werkstatt eines eben aus Rom heimgekehrten Künstlers. Seltsam ergriffen stand er vor einer Nachbildung, die der talentvolle Jüngling von Tizians Meisterwerk der himmlischen und irdischen Liebe gemalt – das war ja die unvergessene holde Unbekannte, wie sie am Tisch lehnte, den Blick der klaren Augen in die Ferne gerichtet! Ohne nach den Kosten zu fragen, bestellte er sich sofort eine Nachbildung mit den Abänderungen, wie sie jetzt die Supraporte in seinem Saal zeigte, und gab dem Maler für das Haar die goldene Locke zum Vorbild. So lebte künstlerisch veredelt der strahlend schöne Frühlingsabend im Hause Bartholdi fort; das liebliche Vorbild hatte er nie wiedergesehen. Nach langem Aufenthalt im Ausland stand er jetzt seit fünf Jahren als Präsident dem Ober-Appellationsgericht in der Breiten Straße vor und war der erste Justizbeamte des Landes mit zahlreichen Nebenämtern und glänzenden Einkünften.
Heute, am 25. Januar 1711, saß er an dem kleinen Tisch jenes Prachtraums unter der Königsbüste, dem Ehrengeschenk seines dankbaren Fürsten. Die letzten 15 Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Spuren großer Schönheit waren noch unverkennbar, aber die Gestalt gebeugt, die Augen matt, die mächtige Stirn von tiefen Falten durchzogen. Viel Arbeit, reicher Lebensgenuß!
Da wurde ihm Balthasar zum Broich, Kammergerichtsrat und Beisitzer des Kriminalkollegs, gemeldet:
»Ah so! Der bringt das Gutachten in der Heinrichschen Mordsache. Er soll kommen.«
Gern opferte er die Ruhe des Sonntags. Hatte der König doch erst neulich nach dem Laufe der Sache gefragt und der zufällig anwesende Kronprinz deutlich genug gemurmelt: »Schlimme Justiz, die gen Himmel schreit!«
»Was hat das Kolleg über die Mörderbande beschlossen?« fragte er nach kurzer Begrüßung den Eintretenden.
»Den Tod, Euer Exzellenz!«
»Also Ihr setzt Euch über die bestandene Folter hinweg, nehmt Mord und Anstiftung dazu als erwiesen an. Also Tod durch das Rad und – da der Geselle Herrenmord, die Frau Gattenmord verübt – verschärft durch Schleifen zur Richtstätte und Kneifen mit glühenden Zangen. Ihr seht, ich habe die Carolina noch nicht vergessen.«
Feine Komplimente des Rats über die großartigen Rechtskenntnisse des Ministers. Dann aber die Bemerkung, daß vom Kolleg nur Ehebruch unter erschwerenden Umständen angenommen und deshalb auf den Tod durch das Schwert gegen beide Angeklagte erkannt sei.
Bartholdi wandte ein: »Das geht doch nicht! Ehebruch ist ein Antragsvergehen, das nach römischem Recht zu bestrafen ist. Das erkennt allerdings gegen den Mann auf Tod durch das Schwert, gegen das Weib aber auf Verbannung auf eine wüste Insel. Da könnten wir sie ja nach unseren ohnedies ganz unnützen Kolonien Groß-Friedrichsburg oder Tacaradi an der Goldküste schicken. Wenn ich nicht irre, gibt es da Inseln.«
Broich führte aus, daß in diesem Falle die Carolina versage, daß sie aber gleichzeitig auf andere alte Rechte verweise. Da helfe dann die mosaische Gesetzgebung.
Bartholdi lachte: »Die ist alt genug! Aber nach ihr sollen ja die Ehebrecher gesteinigt werden, und Christus hat gesagt, daß, wer ohne Sünde, den ersten Steinwurf tun solle.«
Neues bewunderndes Erstaunen, daß Exzellenz in der Bibel ebensogut Bescheid wie in der Carolina wisse! Dann eine lange Ausführung, das Kolleg könne die bestandene Folter nicht außer Betracht lassen. Dazu hätten nicht einmal die Hallenser Folterfeinde den Mut gehabt. Hiernach sei der Mord widerlegt. Das Kolleg sei aber einstimmig der Ansicht, daß die beiden trotz der bestandenen Folter des Mordes und der Anstiftung dazu schuldig seien. Deshalb nehme es mit den Hallensern seine Zuflucht zum Ehebruch. Es stelle fest, daß dieser unter noch weit erschwerenderen Umständen, als die Weisen in Halle angenommen, verübt sei. So komme man zur Umwandlung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe in die Todesstrafe durch das Schwert.
Gedankenvoll wiegte Bartholdi den Kopf:
»Ganz recht, ganz recht, – was wird man aber in Berlin und weiter noch darüber sagen, daß wir den Ehebruch so ungewöhnlich hart bestrafen?«
Der Rat meinte, wäre die Unglückssache erst endlich zu Ende, rede bald kein Mensch mehr darüber. Lockere Vögel würden sich vor der Ehefrau des Nächsten vielleicht besser in acht nehmen. Die Geistlichen würden entzückt sein, daß man so kräftig das sechste Gebot in Schutz genommen. Die wenigen aber, die auf den Grund der Sache sehen, würden fühlen, daß hier nicht Ehebruch, sondern Mord gestraft sei.
»Ganz richtig. Habt Ihr das Urteil mitgebracht?«
Der Rat überreichte es. Er entschuldigte die Länge; da es sich immerhin um zwei Menschenleben handle, dürfe man mit Belegstellen und Drohparagraphen nicht knausern. Es sei übrigens auch eingeflochten, daß die Folterung der Frau so milde gewesen, daß ihr Bestehen die schweren, gegen sie sprechenden Indizien kaum zu entkräften imstande gewesen.
»Dann hätte die Folter logischerweise wiederholt werden müssen«, unterbrach ihn Bartholdi. »Doch darauf kommt es jetzt nicht mehr an. Wir können das Todesurteil vor Gott und unserem Gewissen verantworten. Aber die Sache zeigt wieder einmal recht deutlich die ganze Erbärmlichkeit unseres heutigen Strafprozesses. Dieses Volteschlagen mit der Straftat, dieses Ignorieren der bestandenen Folter steht ja nicht allein. Da sind die qualifizierten Todesstrafen, bei denen der Pöbel nicht merkt, daß meist der Geräderte oder auf den Scheiterhaufen Gesetzte schon vorher vom Henker gewürgt ist. Folter und qualifizierte Todesstrafe passen nicht mehr in unsere Zeit.«
Man sei eben weichlicher als die Vorfahren, meinte Broich, aber Bartholdi wehrte erregt ab:
»Nein, wir sind besser und menschlicher geworden! Lobredner der Vergangenheit sind fast immer Dummköpfe und Schwächlinge, die sich in die neue Zeit nicht finden können oder wollen. Unsere Justiz ist zu lange eingeschlafen.«
Schmeichelnd meinte Broich, das dürfe der chef de justice in Preußen, der Gründer des Ober-Appellationsgerichts, der Urheber der Kammergerichtsordnung von 1709 und so vieler anderer Gesetze, doch im Ernst nicht sagen.
Bartholdi fiel ihm in die Rede:
»Ich werde das Urteil dem König zur Unterschrift vorlegen und es selbst unterzeichnen. Ich danke Euch, daß Ihr dem Dienst einen Teil des Sonntags geopfert.«
Broich entfernte sich. Lange ging Bartholdi durch den Saal. Ich ließ mich hinreißen, dachte er. Was versteht der Aktenmann von gesundem Fortschritt! Ich könnte die Russen beneiden! Was hat der Zar Peter aus seinem Lande gemacht! Er übernahm einige Tausend mittelalterliche Bogenschützen, die ewig aufrührerischen Strelitzen. Er vertilgte das Gesindel und schuf ein Heer. Jetzt ist er mit den Schweden fertig geworden, und bald wird er die Türken aus Europa verjagen. Kein Schiff und keine Küsten fand er vor. Heute hat er gewaltige Flotten und mit der Newa den Zugang zum Meer. Er fand Barbaren und – selbst ein Barbar von staunenswerter Tatkraft – pflanzt er in seinem Riesenreiche die Bildung nach dem Muster Westeuropas.
Dann durchblitzte ihn ein neuer Gedanke: Nein, einen Peter haben wir nicht und könnten ihn doch im geminderten Maßstabe dringend gebrauchen. Der Kronprinz hat manche Züge Peters, namentlich dessen große Rücksichtslosigkeit und den klaren Verstand. Aber er hat nicht die eiserne Hartnäckigkeit. Was bei ihm nicht schnell geht, das läßt er liegen und wirft sich auf andere Dinge. Die Justiz liegt ihm eigentlich fern. Doch man muß seinen Fürstenstolz wecken. Schon lange habe ich mir die größte Mühe gegeben, ihm hier die Dinge schwarz, oft noch schwärzer als sie tatsächlich sind, auszumalen. Das hat ihn gewaltig gepackt. Auch das Urteil in dieser Unglückssache gehört zu dieser Schwarzmalerei. Der scharfe Verstand des Kronprinzen, der sich für die Sache interessiert, wird unzweifelhaft die inneren Widersprüche und die Spiegelfechterei erkennen und nach Besserung streben. Das Urteil ist menschlich gerecht. Es soll aber dafür gesorgt werden, daß in Zukunft der Jurist auch ohne eine solche Spiegelfechterei so erkennen kann. Ist es mir nicht vergönnt, die verschleppende Befragung der Juristenfakultäten, Folter und die buntscheckigen Gerichtsbarkeiten zu beseitigen, so wird es vielleicht meinem Nachfolger gelingen. Etwa dem jungen Coccejus, den ich als Subdelegierten zur Revision des Reichskammergerichts gesandt. Sieht er dort den Stall des Augias, so entwickelt er sich vielleicht zum Herkules für die preußische Justiz. Könnte ich es doch selbst sein! Aber ich fühle es – meine Kraft ist gebrochen. Wer weiß, wie lange ich noch lebe!
Matt sank er in einen Sessel. Er war eingeschlummert, als ein Diener einen anderen Besuch meldete. – –
Einige Tage später erhielt das Stadtgericht das vom 2. Februar datierte, vom König und Bartholdi unterzeichnete Todesurteil mit dem Befehl, das Weitere zu veranlassen. Es ernannte den Stadtrichter Helwig zum Vollstrecker, gleichzeitig beraumte es Termin zur Hinrichtung auf den 20. Februar an. Der Stadthauptmann sollte Bürgermannschaften zur Aufrechterhaltung der Ordnung befehligen, der Direktor des Berlinischen Gymnasiums sollte singende Schüler stellen, um den Todeszug mit geistlichen Liedern zu begleiten. Der Diakon Andreas Schmidt war von Briesemann schon vor der Folterung zum Beichtvater erbeten. Er sollte jetzt bei der Verkündung des Urteils zugegen sein und ihn zum Tode vorbereiten. Bei der Witwe sollte Pfarrer Lysius von der Georgenkirche die gleiche seelsorgerische Tätigkeit ausüben.
So wurde am 6. Februar im Kalandshof jedem der beiden Verurteilten die Todesstrafe verkündet. Briesemann, völlig gebrochen, nahm die Nachricht in stumpfer Gleichgültigkeit auf. Er fragte nur, wie das Urteil gegen seine Mitschuldige ausgefallen sei. Auf Helwigs Antwort, daß sie ihm im Tode vorangehen werde, erklärte er sich mit dem Urteil zufrieden, obgleich es ihm sehr hart erscheine.
»Was soll ich noch im Leben als Krüppel.« Er wies dabei auf die nach der Folterung zu unförmigen Klumpen geheilten Finger. »Aber Tod für Ehebruch ist hart. Wie viele müßten in Berlin ihre Köpfe verlieren, wenn dies immer so gestraft würde!«
Der Stadtrichter ließ Andreas Schmidt bei ihm zurück und begab sich mit Lysius zu Frau Heinrich, ihr das furchtbare Urteil zu verkünden. Starr vor Entsetzen über das gänzlich Unerwartete, mit weit aufgerissenen Augen stand die sonst so ruhige und geduldige Frau vor ihm:
»Unmenschen!« schrie sie totenbleich mit drohend erhobenem Arm. »Ihr wollt meine unschuldige Tochter zum Kinde einer Mörderin machen! Das wird Gott an euch rächen!«
Beleidigungen gegen den blutgierigen König, den schuftigen Minister, gegen die elenden Juristen stieß sie mit gellender Stimme aus. Ihr konnte nicht klargemacht werden, daß sie ja nur wegen Ehebruchs bestraft werde. Lysius eröffnete ihr im Auftrage des Königs – wie es auch Schmidt bei Briesemann getan –, es würde keine härtere Strafe verhängt werden, wenn jetzt der Mord eingestanden würde.
»So soll ich zu allen meinen Sünden noch mit einer Lüge aus der Welt scheiden!« Und verächtlich fügte sie hinzu: »Ihr straft mich ja doch nur wegen Mordes, was bedarf es dazu eines Geständnisses.«
Man fragte, ob sie von ihrer Tochter Abschied nehmen wolle. Ein Zittern lief über ihren Leib, sie brach völlig zusammen: »Erst am Tage vor meiner Hinrichtung,« sprach sie mit matter Stimme, »sie soll vorher nichts erfahren.«
Dann schnellte sie noch einmal empor:
»Ihr habt ja gar nicht den Mut, mich ohne Geständnis hinzurichten, sonst würdet ihr mich nicht so darum quälen! Aber ich denke nicht daran, euch Feiglingen euer schlechtes Gewissen durch eine Unwahrheit zu erleichtern!«
Lysius, ein guter alter Mann, hielt alle Menschen für sündhaft und von der bösen Schlange des Paradieses vergiftet. Trotzdem war er geneigt, dem einzelnen möglichst das Beste zuzutrauen. Er gab sich redliche Mühe, der unglücklichen Frau Trost zuzusprechen – Erfolg hatte er dabei nicht. Dem rasenden Aufbäumen bei Verkündung des Urteils war ein Zustand völliger Teilnahmslosigkeit gefolgt. Den Zuspruch von Lysius ließ sie schweigend über sich ergehen.
Anders Briesemann. Sein Beichtvater Schmidt hatte die Vorbereitung von Todeskandidaten als eine Besonderheit seines Berufes mit großer Liebe und Hingebung bei sich ausgebildet. Er war der festen Überzeugung, daß in seinem Munde das Wort Gottes imstande, auch das versteinertste Herz zu erweichen und die verborgenste Sünde zu entdecken. Alle seine Versuche, Briesemann zum Bekennen des Mordes zu bewegen, waren gescheitert; darum hielt er ihn für unschuldig. Tiefgerührt war er über die fromme Geduld, mit der jener bereit, den Tod wegen des Ehebruchs zu erdulden. Diese schwere Sünde und der damit an seinem guten Meister begangene Vertrauensbruch lasteten so schwer auf der Seele des Unglücklichen, daß er nur durch seinen reumütigen Tod im Himmel dafür Vergebung zu finden hoffte.
»Ich fürchte nur,« sagte er eines Abends zu Schmidt, »mein Tod wird dem wirklichen Mörder des Meisters auf der Seele brennen und ihn als dreifachen Mörder und als unbußfertigen Sünder der göttlichen Gnade verlustig machen.«
Schmidt redete ihm darauf zu, er möge in seinem und zugleich der Meisterin Namen eine dringende Ermahnung an den verborgenen Täter aufsetzen. Jener möge in sich gehen und sein verhärtetes Herz reumütig öffnen, um die ewige Strafe der Hölle zu vermeiden. Briesemann setzte auch eine solche lange Ermahnung auf, die im Wortlaute bis auf den heutigen Tag erhalten ist. Schmidt versprach ihm, sie am Sonntag vor der Hinrichtung in der Nikolaikirche am Schluß des Gottesdienstes abzulesen. Dann kamen ihm aber Bedenken. Er fragte Helwig, ob er mit der Verlesung einverstanden sei. Der riet dringend ab. Ihm waren die ganze Sache und ihr Schluß entsetzlich peinlich. »Gott sei Dank, daß ich dies Urteil nicht zu verantworten habe!« dachte er. Zu Schmidt meinte er: »Was kommt darauf an, wer den Heinrich ermordet hat. Die beiden werden ja nur als Ehebrecher gestraft.«
Für die Frau sprach Lysius am 15. Februar ein fürbittendes Gebet in der Georgenkirche.
Am Abend des 19. Februar wurden beide Sünder aus dem Kalandshof nach der Scharfrichterei in der Heidereutergasse gebracht. Von hier aus sollten sie den Todesgang antreten.