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Zweiundzwanzigstes Kapitel. Der schweigsame Gast

Schwer atmend und mit hart klopfenden Pulsen öffnete Toni die Tür des Fischerhäuschens. Ein oft gesehenes Bild des Friedens tat sich vor ihm auf und nahm selbst heute sein Malerauge wider Willen gefangen. Das kuppellose Schnittbrennerlämpchen, dessen Schein ein blanker Messingreflektor verstärkte und lenkte, schuf in der räucherigen Küche ein feines, unendlich mannigfach abgestuftes Helldunkel. Als lichtester Fleck erglänzte der weiße Kopf des alten, vom Rheumatismus bös krummgezogenen Julius Andersson, der, die runde Brille aus der Nasenspitze, andächtig in ein frommes Buch vertieft war. Sein Weib, dürr, hochgewachsen und immer noch kerzengerade, stand drüben halb im Schatten und wusch mit flinken, energisch eckigen Bewegungen Geschirr ab.

Die Leute haben's gut! fuhr es dem starken Manne durch den Sinn. Die sind darüber hinaus; denen kann gar nichts mehr geschehen. Wenigstens wollte es ihm so scheinen, als gäbe es irgendwo und irgendwann noch vor dem Tod einen ganz sicheren Hafen, in dem uns kein Wetter mehr erreicht.

» God afton!« sagte er.

Sein kurzer Gruß verwandelte die Stille mit einem Schlag zu unruhvollem Leben. Die Alte ließ den Teller, den sie gerade spülte, so schnell in die Wanne zurückgleiten, daß das trüb fettige Wasser glucksende Wellen schlug; die Hände an der Schürze trocknend, trat sie eilig auf ihren Mieter zu, und ein Strom von Worten ergoß sich aus Ihrem Mund. Ihr Mann, der sich schwerfällig hinter dem Tisch hervorgearbeitet hatte, versuchte ein paarmal etwas dazwischenzuwerfen, konnte damit aber nicht durchdringen. Toni verstand nicht eine Silbe von dem, was ihm da erzählt wurde. Oft genug hatte er früher mit Trautchen zusammen über die sprechselige Frau Andersson gelacht, der es immer wieder entfiel, daß für diese Deutschen ihr lebhaft herausgesprudeltes Schwedisch nicht mehr als ein wirres Geräusch war; heute erschien ihm die Alte nicht komisch, sondern beinah unheimlich. Ihn peinigte der unnütze Aufenthalt. Dennoch kam er nicht vom Fleck; es war, als hemme ein drohendes Etwas seinen Fuß. So zauderte er willenlos und lauschte, mißmutig und bang zugleich, dem Redeschwall. Plötzlich traf ein bekanntes Wort sein Ohr: dasselbe Wort, das ihn in toller Angst und Eile hergehetzt hatte.

»Telegramm?« wiederholte er erregt und deutete gegen sein Zimmer. »Da drinnen?« fragte er auf deutsch. Frau Andersson bejahte und fügte irgend etwas von herre Ladurner hinzu, während sie dienstfertig nach der Lampe lief, um Toni zu leuchten.

Der aber hatte die Tür schon hinter sich ins Schloß gedrückt. Pechschwarze Finsternis gähnte ihm unheilvoll entgegen. Er strich mit zitternden Fingern ein Zündholz an. Ein scheuer Seitenblick beim ersten Aufzucken des dürftigen Flämmchens zeigte ihm, daß das Erwartete, Gefürchtete dort auf dem Sofatische lag. Und dann brannte in dem blechernen Schiebeleuchter der Kerzenstummel, der ihm zum letztenmal für jenen Brief an Trautchen Licht gespendet hatte. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, da er nun matten Schrittes hinüberging. Und als er beim Tische war, befiel ihn eine jähe Schwäche; er mußte sich setzen und die Augen schließen, ihm schwindelte der Kopf, der Stuhl unter ihm schien langsam zu steigen und zu sinken, in dem gleichen Takt, wie das Meer den Kutter Stunde um Stunde hatte steigen und sinken lassen. Mit Aufbietung aller seiner Kräfte riß er sich endlich aus dieser halben Ohnmacht empor, die seinen Willen lähmte, ohne ihn doch in wohltätige Vergessenheit zu senken.

Zwei Telegramme waren es, die da, genau und sauber aufeinandergelegt, seiner warteten, zwei Telegramme in hellblauen Amtskuverts, beide geöffnet, das obere an ihn, das untere an Philipp Ladurner adressiert. Er gab sich keine Rechenschaft darüber, weshalb er gerade dieses zweite zuerst aus seiner Hülle zog und mühsam, denn die Hände flogen ihm, entfaltete. Da stand in ungeschickten, gleichgültigen Bleistiftzügen:

Sucht Toni unbedingt zu erreichen. Benachrichtigt ihn schonend, daß Michel heute abend halb sechs Uhr nach schwerstem Leiden sanft entschlafen, Beerdigung Montag drei Uhr. Abreise von dort spätestens morgen Samstag abend notwendig.

Trautchen.

Toni wollte es so scheinen, als hätte er das die ganze Zeit schon geahnt, gewußt. Und er wußte es eigentlich doch noch jetzt nicht. Begriff auch sein Verstand, daß, was ihm dies Papier entgegenschrie, harte, nüchterne Wahrheit bedeutete, sein Herz konnte das Schreckliche, Widersinnige, Unmögliche nicht fassen. Die Ellbogen auf dem Tisch, die Fäuste gegen die Schläfen gestemmt, so saß er da. Ein Chaos von Gedankentrümmern brodelte in seinem Hirn; es wollte sich nichts Ganzes, nichts fest Gestaltetes daraus erheben. Nach einer Weile holte er mit den unbewußt sicheren Bewegungen des Schlafwandlers das andere Telegramm hervor und las:

Heimreise sofort auf schnellstem Wege. Michel Blinddarmentzündung. Sehr starke Schmerzen seit heute früh. Große Sehnsucht nach Dir. Hausarzt andeutet Möglichkeit von Operation.

Trautchen.

Toni ließ das Blatt sinken und schüttelte hilflos den Kopf. Blinddarmentzündung? Konnte das möglich sein? Hatte es denn nichts stets geheißen: Halsentzündung? Mein Gott, weshalb nur fragte er danach! Das Michele war tot! Tot! sprach er vor sich hin, als müsse er sich das grausame Wort nach Klang und Sinn einprägen, es mit Gewalt in sein Bewußtsein und Gedächtnis hämmern. Wußte er nicht, was das hieß? Daß er sich um Art und Namen der Krankheit quälte, gab ihm sein Kind nicht wieder.

Dennoch heftete sich sein Blick auf allerhand Einzelheiten, Begleitumstände, Nebendinge, die ihm zuerst so gleichgültig erscheinen wollten, daß er nicht wußte, wie er darauf kam. Aber es führte gerade an ihnen vorbei der Weg aus dem Nebel dumpf brütender Betäubung in die unbarmherzig klare und kalte Luft der Wirklichkeit. Halb unbewußt noch, schaute er wieder in das Telegramm, das vor ihm lag, und prüfte den Dienstvermerk. Er fuhr zusammen, sein Ausdruck wurde starr: in Pasing aufgegeben am 24. Juni, 12 Uhr 48 Minuten nachmittags. Fast um die gleiche Stunde hatte ihm Trautchen depeschiert, da er den Brief an sie hier in den Kasten warf.

O dieser Brief! Wenn er ihn doch jetzt noch zurückrufen könnte! Umsonst und ganz unmöglich! Er wußte ja: gerade der Donnerstag war einer der Tage, wo der Hotelwirt drüben in Strömstad seine Einkäufe machte und dann auch gleich die Post besorgte. Oder sollte diesmal das Wetter ihn gehindert haben? Törichte Hoffnung! Sah er nicht deutlich das Bild des Landungssteges bei seiner eigenen Abfahrt mit Annastina vor sich? Olsfons Kutter hatte bestimmt nicht an seinem Platz gelegen.

Mitten in Trautchens Herz traf dieser Brief, in ein gequältes Herz, das schon durch den Verlust des Teuersten, was es besaß, bis aus den Tod verwundet war, und dem damit der letzte arme Trost zerbrach. Ihm schauderte bei dem Gedanken vor sich selbst. Er hatte das nicht gewußt und nicht gewollt; es war das blinde, unvernünftige Schicksal, das alles so tückisch fügen mußte. Aber sprach das ihn frei von Schuld? Die wohlgesetzten Gründe, mit denen er sich unter dem Schreiben damals sein gutes Recht auf Glück bewiesen hatte, jetzt hielten sie nicht mehr stand. Jugend hat freie Arme, sie soll sich erst ihr Leben bauen, ihr mag der von Bedenken freie Egoismus anstehn. Ist deine Jugend einmal versäumt, sei es, wodurch es sei, durch fremde Klugheit oder durch eigene Schwäche, dann ist's zu spät, dann hat deine Bestimmung dir Fesseln umgeschnürt, die du nicht ungestraft zerreißen kannst; denn jeder Riß durch sie geht folternd auch durch die Seelen derer, die deine Nächsten sind, weil ihres Lebens Glück nun einmal deiner Hut befohlen ist.

»Versündigt hab' ich mich!« flüsterte Toni und lauschte, tiefernste Aufmerksamkeit im Blick, dem Klange seiner Stimme. Er redet von Sünde? Hatte er nicht gemeint, diesen Begriff als freier Mensch aus seiner Ideenwelt verbannt zu haben? Sünde bedeutet Übertretung des göttlichen Gebotes. Gott? Was war ihm Gott gewesen? Hatte er je an ihn gedacht, hatte er seinen Namen nicht eigentlich nur dann im Mund geführt, wenn er zum Scherze fluchte? Nun dröhnte ihm dieser Name aus dem Wort der Schrift entgegen: Gott läßt sich nicht spotten.

Aber der Menschen spottet die dunkle Gewalt dort über uns, mag sie nun Gott, mag sie Naturgesetz, mag sie ganz einfach Leben heißen. Stand hier Trautchen, so stand dort Annastina, sie, der seine Liebe gehörte, wie zuvor noch keiner Frau, das fühlte er zu dieser Stunde stärker denn je. Gab er der einen ihr gutes Recht, dann tat er der andern Unrecht an. Wohin er sich auch wenden mochte, jeder Schritt verstrickte ihn rettungslos ins Garn der Sünde.

Auf einmal aber riß es ihn empor, und seine Augen starrten erschrocken in das Leere. Er Narr! Worüber er sich doch den Kopf zerbrach! Hatte er denn in seines Herzens Stumpfheit ganz vergessen, welcher unbarmherzig schweigsame Gast daheim über seine Schwelle getreten war? Sünde? Wie hieß die Sünde, auf die der mild: Richter den Tod setzte, als er zu seinen Jüngern sprach: »Wer dieser Kleinen Einen ärgert, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist.« Ein tiefer Seufzer, der fast einem Röcheln glich, drängte sich aus Tonis Brust. Ja, hier lag seine schwerste Schuld, die sich in alle Ewigkeit nicht wiedergutmachen ließ. Sein Kind hatte sich in bitterster Not des Lebens nach ihm gebangt, vielleicht nach ihm geschrien; und er hatte es nicht gefühlt, nicht fühlen wollen, er hatte sich mit Absicht blind gemacht, selbst in dem Augenblick, da Micheles Sehnsucht so gewaltig wurde, daß sie die Ferne überbrückte und ihn leibhaft vor ihn hintreten ließ; er hatte die Fülle der warnenden Zeichen, mit denen ihn das Schicksal aus dem Taumel wecken wollte, feig und leichtherzig in den Wind geschlagen; die innere Stimme hatte er erstickt, sie übertönt durch schmetternde Fanfaren ichsüchtiger Leidenschaft.

Tonis Gedanken verloren von neuem die scharfen Umrisse, zerflossen zu Nebel, ballten sich zu brodelndem Gewölk, dieweil sein Blick immerfort wie gebannt auf dem unheilverkündenden Papierblatt lag und er wieder und wieder mechanisch las, was da geschrieben stand, ohne daß ihm der Sinn der Worte richtig zum Bewußtsein kam. Dann aber sprang ihm eine Erkenntnis so unvermittelt gleichsam an die Kehle, daß er zurückfuhr. Was stand da? »Beerdigung Montag drei Uhr, Abreise von dort spätestens morgen Samstag abend notwendig.«

Und heute war ja Samstag. Oh, wenn er doch schon mittags wiedergekommen wäre! Jetzt hatte der Nachtzug Strömstad längst verlassen. Der nächste ging früh um acht Uhr ab. Nicht also genug daran, daß er ihm in dem letzten Kampf nicht hatte mit seiner Liebe tröstend zur Seite sein dürfen, die boshafte Fügung verwehrte es ihm noch, dem Michele die letzte Ehre zu erweisen. Tonis Hände glitten langsam herab von seinen Wangen, er ballte sie zu Fäusten und ließ sie mit dumpfem Laut schwer aus die Tischplatte niederfallen. Ein trocknes, tränenloses Schluchzen rüttelte ihn.

Dem Michele, wenn es nun wirklich von einem andern Stern herunterschauen könnte, mochte es wohl einerlei sein, ob sein Vater um einen halben Tag früher oder später an sein Grab träte. Trautchen aber! Welch bittere neue Kränkung würde ihr Mutterherz, welche eine Schande vor den Leuten ihr bürgerliches Schicklichkeitsgefühl darin sehen, wenn er bei der Beerdigung fehlte! Und kaum hatte sich so wieder ihr Bild vor sein inneres Auge gestellt, da stand auch schon die andre da, Annastina. Und jede forderte ihr Recht, und beider Frauen Blicke bohrten sich vorwurfsvoll und drohend in sein Gesicht. Sie wichen nicht vom Platz, sie schoben das arme Michele in den Hintergrund. Er konnte nicht die Sammlung finden, seines Verlustes Größe und Tiefe zu ermessen, ihn überhaupt zu fassen. Das war das Schlimmste: nicht einmal die starke, reine Trauer um den Tod seines Kindes gönnte ihm das Leben. Das Leben war stärker als der Tod. Es zeigte ihm jenseits des frischen Hügels, an dem er so gern weinend gerastet hätte, den Scheideweg und stieß ihn vorwärts und sagte hart: Nun sei ein Mann und wähle! Doch Toni zauderte und konnte sich nicht entscheiden. Er schlug die Hände vors Gesicht und ließ sich willenlos schütteln, sich tatlos hinüber- und herüberreißen von den einander feindlichen Kräften, von Ängsten und von Zweifeln. Die Zeit verrann, er fühlte es nicht.

Vielleicht eine halbe, vielleicht eine ganze Stunde mochte Toni so in seiner Versunkenheit dagesessen haben, als ein Geräusch ihn weckte, das aus der Küche herüberdrang. Er hob den Kopf und lauschte. Dabei schauten sich seine Augen verwirrt im Zimmer um. Die Kerze war niedergebrannt, schon hatte der gefalzte Papierstreifen, der ihr den Halt im Leuchter gab, Feuer gefangen und ließ eine unruhige rote Flamme hoch emporzüngeln. Phantastische Schatten tanzten an der Wand. War das nicht Philipp, der da draußen sprach? Er richtete eine Frage an die Fischersleute; und als er die Antwort hatte, dämpfte sich seine frische, helle Knabenstimme plötzlich zu sanftem, rücksichtsvollem Flüstern. Wie wenn ein Toter hier im Hause läge! schoß es Toni ganz unwillkürlich durch den Sinn. Er wollte den Menschen jetzt nicht sehen, er brauchte sein Mitgefühl nicht! Und ohne sich zu überlegen, was er tat, griff er zur Zündholzschachtel und erstickte mit ihr das sterbende Licht. Erst hinterher fiel es ihm ein, daß er sich dadurch ja nicht unsichtbar machen konnte. Ach Gott, und schließlich war es wohl am besten so. Einmal mußte er sie doch von sich werfen, diese lahme Untätigkeit. Da kam der Anstoß von außen gerade recht und kaum um eine Minute zu früh. Es war gewiß die höchste Zeit, sich aufzuraffen. Da es nun klopfte, rief er deshalb mit fester, freilich ein wenig heiserer Stimme: »Herein!« Die Tür öffnete sich. Philipp stand da, ein schwarzer Schattenriß auf lichtem Grund.

»Toni!« begann er in gefühlvoll bebendem Ton. Dann unterbrach er sich verwundert: »Du sitzst im Dunkeln?« Er wendete sich zurück und sprach hinaus: »Ach, Brita, Frau Andersson kann uns wohl ihre Lampe leihen?« Ladurners traten ein. Toni erhob sich mühsam. Der grelle Glanz der Messingscheibe blendete ihn; er mußte für einen Moment die Lider schließen. Der Dichter ergriff eine Hand und hielt sie eine Weile mit warmem, etwas weichlichem Drucke fest.

»Innigstes Beileid, lieber Tom! Du darfst uns glauben, daß wir mit dir fühlen. Ich kann nicht Worte machen. Trostworte sind so arm in solchem Fall.«

Warum redest du dann so viel! dachte Toni in dumpfer Erbitterung. Doch über seine Lippen kam nur ein unverständliches Murmeln, das sich der andre als einen Dank auslegen mochte. Nun näherte sich Brita gleichfalls und schüttelte ihm die Hand.

Auch sie trug die verdeutlichte Teilnahme im Gesicht, die die Leute einem Trauernden schuldig zu sein glauben, aber wenigstens schwieg sie dazu und machte keine Phrasen. Doch schon begann ihr Mann aufs neue und sagte mit ergriffenem Augenaufschlag:

»Ach ja, das arme Trautchen! Ihr einziges Kind! Und wie das schnell gegangen ist! Dabei du nicht zu erreichen! Ich hab' gestern und heute sicher zwanzigmal anzurufen versucht. Seit wann bist du denn nun zurück?«

»Ich?« Toni fuhr wie aus einem Traum empor. »Ja, heute abend. Ja, vorhin. Vor einer Stunde oder so. Ich weiß net.«

»Sag, aber gestern früh am Telephon, das Telegramm hast du doch noch verstanden?«

»Ich? Nein.«

»Da wußtest du überhaupt nichts von Micheles schwerer Erkrankung, bis ...?«

Ein halbabweisendes Kopfschütteln war die Antwort. Philipp schnalzte bedauernd mit der Zunge.

»So hat dich das da«, er deutete nach dem Sofatisch, »ganz ohne Vorbereitung getroffen? Aber ich konnte ja nicht ahnen, wann ... So hielt ich es denn für das richtigste, die Telegramme hier zu hinterlegen.«

»Ja, ja«, warf Toni müde hin.

»Das erste«, erklärte der Dichter eifrig, »kam schon vorgestern abend. Du sagtest mir ja, ich sollte es öffnen. Das andre ist heute früh um sieben gekommen, an mich. Ich hatte ihr, damit sie sich nicht beunruhigte, ja gestern depeschiert, daß du nicht zu erreichen wärst, wegen dem Sturm. Na, überhaupt: ausführlich ...« Die letzten Worte hatte er immer zögernder hervorgestottert, jetzt brach er ab, verwirrt durch den starren Blick, von dem er sich plötzlich scharf aufs Korn genommen fühlte. Toni hatte in einem jähen Erschrecken das Kinn emporgeworfen. Fast wäre ihm die Frage entschlüpft: Du hast doch gegen Trautchen nichts von Frau Nordlind erwähnt? Aber er besann sich noch rechtzeitig und blieb stumm. Nein, und das war ja auch bloß ein ganz verrücktes Hirngespinst. Mochte nun Philipp sein Gewissen rein und lauter fühlen oder nicht, er lenkte ab:

»Tja, nun kannst du heute nicht mehr reisen. Und wenn das Begräbnis wirklich Montag ist ...«

»Es wird verschoben«, erwiderte der starke Mann hastig. »Ich telegraphier' an Trautchen. Ja übrigens, jetzt muß ich ... Ihr entschuldigt! Denn wenn ich mit dem Morgenzug ... Ich darf gar net dran denken, was ich alles ..., Zuerst zu Olsson ins Hotel ... Ja, ob man heute noch nach Strömstad telephonieren kann, wegen dem Motorboot? Segeln wär' zu unsicher. Vorhin, wie ich zurückkam, keine Spur von Wind.«

Nun aber erbot sich Philipp mit der ganzen herzlichen und gewinnenden Liebenswürdigkeit, die ihm, sobald er wollte, zur Verfügung stand, dies alles zu besorgen.

»Nein, widersprich nicht, lieber Toni, es macht uns keine Mühe, und wir tun es furchtbar gern. Du mußt doch packen. Und dich mit Olsson auf schwedisch zu verständigen, ist dir ja auch so unbequem. Wenn du mir Geld mitgeben willst, bezahl' ich gleich die Rechnung. Und sonst? Der Wagen fürs Gepäck ... Das Motorboot ... Telephonieren kann man ja bis elf. Zeit genug! Weiter wäre es wohl nichts. Schön, also gehn wir! Ich schau nachher noch einmal vor und sag' dir, ob alles in Ordnung ist.«

Toni nahm diese Hilfe ehrlich dankbar an. Alles, was recht war: zuzeiten konnte Philipp wirklich nett sein; dafür bat er ihm jetzt innerlich allerhand ab. Als sich Ladurners dann durch die Dunkelheit behutsam den Feldweg entlang tasteten, sagte der Dichter zu seiner Frau:

»Nein, dieser Toni! Ich versteh' solche Menschen nicht! Hast du bemerkt: nicht einmal verweinte Augen hat er gehabt!«

»Vielleicht, daß er es nicht so zeigt«, gab Brita schüchtern zu bedenken. »Er war doch ganz anders als sonst.«

»Anders? Nein, Brita, manchmal bist du wirklich sonderbar. Das fehlte auch noch, daß er wie gewöhnlich ...! Aber stell' dir doch bloß vor! Nimm einmal an, ich sollte ... Ich, der ich mir nur deshalb nie ein Kind gewünscht Hab', weil ich mich täglich und stündlich darum zu Tode ängstigen müßte, bei all den Gefahren, denen solch ein kleines Leben ausgesetzt ist! Denk doch an mich: wenn ich ein Kind verloren hätte!«

»Ja aber, Philipp, du kannst doch nicht ... Das läßt sich natürlich nicht vergleichen. Die Gwinners, alle beide, Trautchen genau wie er, es mögen ja ganz brave Menschen sein. Aber daß sie etwa sehr fein besaitet wären, davon ist doch wahrhaftig nicht die Rede.«

»Eben!« so stimmte Philipp lebhaft zu. »Und warum verkehren wir mit solchen Leuten! Sie passen nicht zu uns. Man opfert sich aus lauter übertriebenem Zartgefühl! Nein, nein, Ich bin dem Schicksal wirklich dankbar, daß er nicht mehr bleibt. Jetzt wird es hier erst schön! Ich fühl' mich wie erlöst!«

 

Es war nur ein einziger, nicht sehr großer Koffer, den Toni zu packen hatte. Die übrigen standen immer noch geschlossen da, wie sie bei Trautchens Abreise stehengeblieben waren. Dennoch brauchte er lange Zeit für die geringe Arbeit. Oftmals ertappte er sich dabei, daß er einen Gegenstand zweck- und sinnlos von einem Platz zum andern trug, oder daß er, wohl schon seit einer Weile, aufmerksam und ohne sich zu rühren, irgendeinen blanken Nagelkopf in der Bretterdiele musterte, als könne er dort die Antwort auf die Fragen finden, die ihn bedrängten und ihre Lösung von ihm forderten.

Endlich, als er ein letztes Mal in allen Schränken und Schubladen Nachschau gehalten hatte, ließ Toni den Deckel des Koffers niederfallen. Es war alles darin untergebracht, was er nicht noch vor der Abreise brauchen würde. Er warf sich müde auf den Stuhl, der am Fußende seines Bettes stand. Es machte fast den Eindruck, als wolle er dem Sofatisch möglichst fernbleiben, von dessen Platte her ihn die Schachtel mit dem Briefpapier und das Schreibzeug mahnend ansahen. Ja, das war nun sein Letztes hier: er mußte Annastina von dem Geschehenen verständigen und ... »Später, später!« sprach er beschwörend zu sich selbst. Er durfte Ladurners jeden Augenblick zurückerwarten; da lohnte es sich gar nicht erst anzufangen. Nicht einmal daran, was er in seinem Briefe alles sagen und wie er es fassen solle, wollte er jetzt schon denken. Und dennoch, ohne es sich klarzumachen, dachte er die ganze Zeit an nichts als nur an dies.

Erst ein sehr kräftiges Klopfen weckte ihn, nachdem er das erste, leisere, überhört hatte, aus dem Grübeln. Philipp und Brita traten ein. Sie hatten im Hotel alles nach Wunsch geordnet und erledigt und kamen nun, das zu melden und Abschied zu nehmen: einen sehr gerührten und herzlichen Abschied. Wieder einmal brachte der Dichter seinem übertriebenen Zartgefühl mannhaft ein Opfer.

Und dann war Toni für heute endgültig allein. Wohl eine Reihe von Minuten stand er auch jetzt noch müßig da, die Fäuste in die Jackentaschen gebohrt, und musterte hangenden Hauptes seine Stiefelspitzen. Dann gab er sich gewaltsam einen Stoß. Vorwärts! Nun galt keine Ausrede mehr. Entschlossen schritt er zum Tisch hinüber, ließ sich mit einem Stöhnen schwerer Angestrengtheit nieder und breitete alles, was er brauchte, sorgfältig vor sich aus. Zuerst adressierte er langsam und in wohlgezirkelten Schriftzügen das Kuvert. Langes Kopfzerbrechen verursachte ihm die Form der Anrede; und als sie endlich gefunden war, drängte es sich ihm unvermittelt auf, wie merkwürdig und welch eine vertrackter Ironie des Schicksals es wäre, daß er genau drei Tage nach seinem Brief an Trautchen hier zu der gleichen Nachtstunde vor dem gleichen Tische saß, die gleiche Feder in der Hand, um jetzt ... Schon wieder dieser Unsinn! herrschte er sich selber ingrimmig an. War er denn völlig kindisch geworden, daß er in jedem Spiel des Zufalls geheime Verknüpfungen und die Hand einer höheren Gewalt sehen wollte? Nein, diese Spinnereien hatten nur den Zweck, ihm noch ein bißchen Aufschub zu erlisten. Daß er sich da nicht vor sich selber schämte! Los denn in Dreiteufelsnamen! Nun tauchte er die Feder heftig ins Tintenfaß und ließ sie ohne viel Besinnen schnell über das Papier gleiten. Er war auch bald bis zur Unterschrift gelangt. Doch diese knappen Sätze bedeuteten in Wahrheit nicht mehr als abermals einen Aufschub. Er teilte Annastina nur mit, welch eine Post ihn bei der Rückkehr empfangen hätte, daß er morgen in aller Frühe reise, daß er sehr traurig sei, und daß er ihr von daheim gleich ausführlich Nachricht geben werde.

Ein magerer Brief, der wenig sagte. Aber er konnte jetzt nicht anders. So mochte es denn genug sein! Später in Pasing, wenn er dort wieder im Dunstkreis seines alten Lebens weilte, dann würde es ihm leichter von der Hand gehn, Annastina zu schreiben, was er ihr nun einmal schreiben mußte. Diese Erkenntnis war ihm unvermerkt aus seinem langen dumpfen Sinnen herangereift: er hatte nicht die Wahl; ein Mächtigerer hatte schon für ihn entschieden, der König dieser Welt, der Tod. Dem gleichen Streiche seiner Hippe, der das Michele hinwegnahm, war auch seines Vaters verspäteter Mittsommertraum zur Beute gefallen. Gemäht, verdorrt, reif für die Flamme der Vernichtung. Toni ließ traurig den Kopf hangen; zum erstenmal an diesem Abend stand ihm das Wasser in den Augen: vor Mitleid mit sich selber. Dann jedoch raffte er sich hart empor und hemmte den Quell der Tränen. Zwei scharfe Falten traten zwischen seine Brauen; er nahm sich, ein argwöhnischer Richter, scharf ins Verhör: Wenn du das weißt, ist's da nicht Feigheit, daß du dir diesen lügnerischen Aufschub gewährst, daß du die Kraft nicht findest, Annastina gleich zu sagen, was keine Zukunft mehr ändern kann? Und trüge solche Tat nicht ihren Segen in sich selbst? Trätest du so nicht mit freierer Stirn, bitter schwer wird es noch immer sein, vor Trautchen hin? Bist du ihr das nicht schuldig? Lange Zeit hallten die ernsten Fragen in ihm nach. Zum Schluß ließ er die Hand, die sein Kinn gestützt hatte, schwer auf den Brief niedersinken! Nein, mochte der jetzt nur so bleiben! Was kommen mußte, kam und wurde ihm nicht erspart. Er brauchte dem Schicksal nicht vorzugreifen. Oder stak dahinter gar eine Scheu, die Brücken nach dem verlorenen Traumland unwiderruflich abzubrechen? Erwartete er trotz allem heimlich tief in seinem Innern doch noch Wunder? Er schüttelte den Kopf. Ganz flüchtig huschte ein schiefes Lächeln trübseliger Selbstverspottung um seinen Mund. Dann faltete er den Bogen, schob ihn in seine Hülle und klebte sie zu. Fertig! Das mußte morgen also der alte Julius Andersson ins Schusterhaus hinübertragen.

Er blickte auf und gewahrte plötzlich, was er schon eine Zeitlang unbewußt empfunden hatte: die geisterhafte Dämmerung, die alles in immer dichtere mißfarbene Schleier hüllte, gleichsam vom Boden emporschwoll, von der Decke sank, von allen vier Wänden drückend auf ihn eindrang. Das Öl der Lampe war verzehrt. Ohne recht zu wissen, was er tat, erhob sich Toni und blies über den Zylinder hin. Ein kurzes Aufblucken des roten Flammenzüngleins, und es war verschwunden. Von dem nachglimmenden Dochte stieg steil ein blauer Rauchfaden in die Luft, löste sich droben zu wolkigem Gekräusel, erfüllte das Zimmer mit ätzendem Gestank. Toni trat an eins der Fenster, zog den Rollvorhang in die Höhe und öffnete beide Flügel weit. Durstig trank er die reine Luft in seine Brust. Ihn fröstelte. Draußen der Himmel schwer verhangen, und dennoch eine Ahnung von Mondschein unter seiner Kuppel. Nichts war erhellt, und alles war in Leichenblässe getaucht, eintönig, stumm und tot. Kälte des Todes kroch auch an das verlassene Menschenherz heran. Plötzlich aber erzitterte es in freudigem Schrecken. Dort drüben, gerade zu Häupten des höchsten Felsrückens von Koster, hatte die Wolkendecke ein Loch bekommen. Schüchtern blinzelte da ein einzelner kleiner Stern. Der Schauer einer Offenbarung überrann Toni. Jetzt fühlte er, was er vorhin nicht hatte fühlen können: das Michele war gestorben und lebte doch. Irgendwoher aus dem großen Weltraum lächelte es still, klug und freundlich zu ihm herunter. Ihm war, als brauche er nur zu wollen, und es würde ihn durch alle Weiten fortreißen, hinaus, hinauf. Schon schwand der Boden unter seinen Füßen, er flog. Er stieß gegen etwas Weiches, Undurchdringliches, es wurde ihm schwarz vor den Augen, er stürzte in eine bodenlose Tiefe, Meilen auf Meilen rauschten um ihn empor.

Als er zu sich kam, fand er sich aus dem Fensterbrett sitzen, beide Hände krampfhaft ans Fensterkreuz geklammert. Ein Schwindelanfall, der jetzt langsam abklang; weiter nichts. Er ließ sich vorsichtig heruntergleiten und stellte sich auf die Füße. Es war wohl klüger, man ging zu Bett. Mochte von Schlaf auch keine Rede sein, so ruhte doch der Körper und sammelte ein wenig Kraft. Aber kaum lag er und hatte die Decke über feine Brust heraufgezogen, da umwölkte sich schon sein Daseinsgefühl. Schwer wie im Tode wurden seine Glieder. Er schlief den ohnmachtstiefen Schlummer der Erschöpfung.

 

Zerschlagen von der langen Fahrt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, stand Toni am Montagabend daheim vor seiner Haustür. Ein paar Atemzüge lang zögerte er noch, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und drückte entschlossen auf den Klingelknopf. Trautchen selbst war es, die ihm öffnete. Höher und schlanker, als er sie je gesehen, erschien sie in dem schwarzen Kleid; aus ihrem bleichen Gesicht blickten ihm die Augen sonderbar ausdruckslos und ausdrucksvoll zugleich entgegen, als wollten sie ihn fragen: Wer bist du, und was willst du hier? Aber schon trat sie zur Seite und gab ihm den Weg frei. Er wollte sie begrüßen, doch fand er nicht die Form dafür und brachte keinen Laut hervor. Drum neigte er nur den Kopf, und sie erwiderte in der gleichen Weise. Während er dann die Stufen zum Erdgeschoß hinanstieg, erkundigte er sich hastig:

»Und die Beerdigung? Verschoben?«

»Nein«, entgegnete sie ruhig und gleichsam müde, »heut nachmittag um drei, das wußtest du ja doch.«

»Ja, wie denn? Hast du mein Telegramm denn nicht bekommen?«

»Doch; aber ... Und es ging auch schon wegen der Hitze nicht.«

Er fuhr zusammen; schwer legte sich die Erkenntnis auf seine Seele, daß nun die häßliche Verwesung Herr über das Michele war. Ein halb ersticktes Ächzen, in dem zum Schmerz sich etwas von Ekel mischte, entrang sich ihm. Sie musterte ihn unbewegt. Höchstens ein staunendes Beobachten war in ihre Augen getreten, als wäge sie die Gefühle ab, die sich auf seinen Zügen malten, und befinde sie federleicht gegen ihr eigenes Leid, das sie so fest in sich verschloß.

»Du kommst dann wohl?« sagte sie und wies gegen die Wohnstubentür.

Mit einem verstohlenen, etwas hölzernem Achselzucken stellte Toni die Handtasche fort, hängte Hut und Mantel an den Kleiderrechen und folgte ihr. Ohne daß eine Spur von Gewolltheit darin gelegen hätte, fröstelte ihn etwas steif Gesellschaftliches, konventionell Höfliches auch aus der Art an, wie sie sich setzte und ihn durch eine stumme Kopfbewegung in den andern Armstuhl nötigte.

So hatten sie sich an diesem runden Tisch in all den langen Jahren fast Abend für Abend gegenübergesessen. Damals aber waren sie einander doch immer sehr nah gewesen, heute hielt die starke Einsamkeit, die Trautchens Wesen von sich strahlte, Toni still gebieterisch auf Abstand, errichtete gleichsam eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen. Beklommen suchte er nach dem ersten Wort. Er hatte einen Sturm von Vorwürfen, vielleicht auch einen Tränenstrom erwartet; ihr Schweigen war tausendmal schlimmer. Sie war es, die es endlich brach:

»Ich wollte nur ... Ich habe dich ...« begann sie halb zerstreut und gleichsam geschäftsmäßig. »Ich habe deinen Brief bekommen.«

»Ach!« wehrte er ihr gequält. Sie hob leise die Hand, als wolle sie sagen: Laß mich zu Ende sprechen! Wie eine auswendig gelernte Lektion, so kühl und ebenmäßig glitten die Worte über ihre Lippen:

»Ich soll dir deine Freiheit geben. Du bist frei!«

»Geh, Trautchen«, bat er, »als ich das schrieb, da ahnte ich doch nicht ... Wenn ich den Brief nur nachher irgendwie hätte zurückhalten können!«

Sie schlug langsam die Lider auf und sah ihm ruhig prüfend ins Gesicht.

»Und dann?« Es lag unheimlich viel in diesen zwei Silben. Er hielt ihren Blick nicht aus und schaute verwirrt zu Boden.

»Muß das denn jetzt ...?« wiederholte er nach einer Weile gepreßt. »Kannst du dir denn net denken, daß ich ...? Ich weiß ja bloß, was du in deinem Telegramm ... Und da ... Ich hör die ganze Zeit von einer harmlosen Erkältung, und plötzlich ... Sag mir doch nur um Gottes willen ...!«

Sie preßte die Knöchel beider Fäuste gegen ihre Augen.

»Ich kann nicht!« rang es sich aus ihr hervor. »Laß dir von Minna, wenn du willst ...! Oder sprich mit dem Doktor! Der wird dir alles ganz ausführlich und wissenschaftlich ... Vielleicht erklärt er dir auch, warum er die Operation verschob, verschob, bis es zu spät war.«

»Der Doktor Bönigkau?« rief Toni. »Du meinst, daß er?«

Sie schüttelte matt den Kopf.

»Es hat ja keinen Zweck mehr. Und was weiß ich denn! Es mag auch sein, daß ich ihm unrecht tue, aber ... Wenn ich dran denke! Diese fürchterlichen Schmerzen! Und nicht helfen können!«

»Das Michele!« murmelte Toni erschüttert. »Hat er so leiden müssen?«

»Ja, er hat leiden müssen«, antwortete sie mit eigentümlich singendem Tonfall.

»Trautchen, in deinem Telegramm, da war doch von einem sanften Tod ...?« fragte er tastend. Sie nickte langsam.

»Zuletzt, als die Entzündung durchgebrochen war ... Aber die Nacht vorher! Und wenn ich hundert Jahre würde, werd' ich sein Schreien nicht vergessen!«

Toni barg sein Gesicht in der Beuge des auf den Tisch gelegten rechten Arms. Und er: wie überschwenglich selig war er gewesen in der gleichen Nacht! Da hatte kein Schatten einer Ahnung ihn aufgescheucht aus seinem Glückstaumel, den jetzt das blinde Schicksal rückwirkend zum Verbrechen machte. Trautchen starrte vor sich hin ins Leere. Dann sagte sie:

»Hast du daran gedacht, daß er gerade an unserem Verlobungstag gestorben ist?«

Er hob den Kopf; in ihren Augen stand ein so zwingend bedeutungsvoller Ausdruck, als sähe sie da dunkle Verknüpfungen. Wußte er auch nicht, welche Wege ihre Gedanken gingen, eine Ahnung streifte ihn doch und ließ es kalt über seinen Rücken herunterrieseln. Er gab sich einen Ruck und schüttelte den Bann ab. Eine große Weichheit lag in seinem Ton, da er nun, etwas schüchtern, fragte:

»Und hat der Bub nach mir ...? Du depeschiertest mir von Sehnsucht?«

Sie nickte.

»Er hing doch so an dir. Du hast es ja verstanden, hier wie sonst im Leben. Alles Unangenehme ist immer auf mein Teil gekommen. Du! Da kann man freilich leicht beliebt sein.«

»Trautchen, sei nicht so bitter!«

»Bitter nennst du das?« sagte sie fast spöttisch; und dann, nach einer Pause: »Streiten wir uns doch nicht um Dinge, die abgetan sind!« Sie senkte die Stirn und hob sie wieder und fuhr fort: »Wenigstens zuletzt hat er gefühlt, wer ihn ... wer es am besten mit ihm meinte.«

Toni ließ einen Seufzer hörbar werden.

»Ach ja, er war wohl recht gekränkt, der arme kleine Kerl, weil ich net kam?«

»Gekränkt? Ach, Toni, du hast ihn eben nicht ... Er war in seiner Krankheit so anders. Und gar nicht wie ein Kind mehr. Wie soll ich es nur sagen? Du brauchst mich deshalb nicht für überspannt zu halten. So viel weiter im Leben war er als wir andern. Am Freitag früh, da ließen doch die Schmerzen auf einmal nach. Ich hielt es für ein gutes Zeichen, ich glaubte, es ist die Rettung. Aber er, er sah mich an wie einer, der alles weiß, der halb schon drüben ist. Er sagte es mir nicht; nein, nein. Er war ja so tapfer und lieb und rücksichtsvoll. Sogar Witze hat er zu machen versucht, um mich zu trösten. Nach dir fragte er oft ängstlich, als ob er ahnte, daß er dich nicht mehr sehen würde. Er wußte ja von meiner Depesche an dich, und er wartete so! Jedesmal, wenn es unten klingelte, hat er gemeint ... Und wie dann mittags die Antwort von Philipp kam, ich brachte es nicht übers Herz. Ich nahm mich eben zusammen und erzählte ihm, du kämst am Abend. Eine ganze Geschichte erfand ich, daß du von selbst und schon vor meinem Telegramm gereist wärst. Es war seine letzte Freude. Ich hab' ihn angelogen. Aber es tut mir nicht leid.«

»Schön war das von dir, Trautchen«, sagte Toni gerührt und warm. »Ich dank' dir!«

Es war, als gefröre mit eins etwas in ihr. Sie saß sehr aufrecht da und schaute gleichsam über ihn hinweg.

»Du brauchst mir nicht zu danken. Deinetwegen hab' ich es nicht getan.«

»Ja, ja, ich weiß ja«, seufzte er. »In deinen Augen bin ich jetzt natürlich der schlechte Kerl.«

»Ach!« fiel es ihr leise von den Lippen.

»Schon gut!« murmelte er mit etwas wehleidiger Gekränktheit. »Du warst zwar einmal andrer Meinung!«

»O Toni, es ist dafür gesorgt worden, daß ich mir sehr klarwerden konnte.«

»Über mich!« ergänzte er bitter.

»Über uns.« So schlicht und still sie diese Worte sprach, es schwang ein tief verborgener Metallton darin mit, eine dunkle innerliche Kraft, vor der er sich sehr klein werden fühlte.

»Trautchen, ich seh' mein Unrecht gegen dich ja ein«, sagte er gedrückt. »Aber du mußt auch ... Für diese Verkettung von unglücklichen Zufällen kann ich doch nichts.«

»Ja«, erwiderte sie versonnen, »es kam recht viel auf einmal.« Sie schaute diesem Gedanken nach; doch plötzlich brach es ungezügelt aus ihr hervor: »Mensch, begreifst du es denn gar nicht, was du mir angetan hast! Zufall! Schieb es nur auf den Zufall! Oh, wenn ich daran denke! Der Junge im langsamen Verlöschen. Er sucht die ganze Zeit so bang nach meinem Blick, seine Augen bitten mich so rührend, bei ihm zu sein mit meinen guten Gedanken in seiner letzten Not. Und dahinein fällt diese Nachricht, und ich kann nicht mehr, kann ihn kaum richtig anseh'n. Immer und immer wieder drängt sich das Bild von der Person zwischen mich und mein sterbendes Kind und beschmutzt mir diese Stunde! Da, wenigstens da, hätte ich ganz dem Michele gehören müssen; und ich gehörte dir, trotz allem! Glaubst du, das kann ich je vergessen!«

Toni murmelte, erschüttert und befangen, etwas Unverständliches. Dann rief er hastig, in dem dunklen Drange, sich irgendwie auf einen Seitenweg zu retten:

»Hat dir der Philipp depeschiert, daß ich den Ausflug mit ihr ...? Das hätt' er bleibenlassen können!«

Trautchen hatte sich schon wieder fest im Zaum.

»So?« fragte sie mit trübseliger Ironie. »Und wenn er nun, wie du's von ihm verlangst, diskret gewesen wäre, dann hätte ich wohl auch heute deinen Brief nicht bekommen?«

»Heute?« Er starrte sie offnen Mundes an.

»Ja, lieber Toni, sechs Stunden vor Micheles Beerdigung.«

»Glaub mir doch, Trautchen, daß mir das selber fürchterlich ...!«

Sie machte eine obenhin beruhigende Handbewegung.

»Ich glaub dir's ja. Und jetzt weiß ich's ja auch nur zu genau, daß es einmal so kommen mußte. Früher oder später, heut oder morgen, diese oder eine andre. Was dir gefehlt hat, war immer bloß die Gelegenheit. Aber den Augenblick dafür hättest du auch mit aller Bosheit nicht schlechter wählen können. Und Toni, warum auf die Art? Schließlich waren wir vierzehn Jahr' verheiratet. Und sie, die Fremde ... Mußte ihr denn gleich alles ausgeliefert sein, was nur wir zwei zu wissen brauchten? Denn den Brief an mich hat dir doch sie diktiert.«

Dieser Vorwurf berührte eine wunde Stelle seines Gewissens. Dem Wortlaut nach traf er ihn aber nicht.

»Und so eine Geschmacklosigkeit traust du mir zu?!« rief er entrüstet. Um ihre Lippen kroch ein ungläubiges, seltsam starres Lächeln.

»Sag, Toni«, fragte sie dann, »die Karte, die gleichzeitig mit dem Briefe kam, die war wohl auch geschmackvoll?«

»Karte? Was denn für eine Karte?« stotterte er. Plötzlich jedoch ging es ihm aus: schon wieder dieser Philipp! – Er suchte nach der rechten Form, Trautchen den Zusammenhang zu erklären, aber er fand sie nicht. Sie unterbrach seine verlegnen Anstalten mit einem matten:

»Laß! Es geht mir nicht um diese Karte, wenn sie mir auch zuerst recht weh getan hat. Es kommt bloß eins zum andern. Gleichviel: es ist jetzt, wie es ist. Versteh mich nur nicht falsch: ich kämpfe nicht dagegen an. Aber, Toni, wenn du so sehr in die andre verliebt bist, daß du meinst, du kannst nicht leben ohne sie, du mußt dafür alles hinwerfen, was war ... Ich kenne dich zwar auch seit einer Weile und hatte dich eigentlich nie für so furchtbar leidenschaftlich gehalten. Nein, nein, sag nichts! Schön, gut: es soll die große Liebe sein, die dich auf einmal, zum erstenmal mit achtunddreißig Jahren, packt. Sag mir nur eins: wozu dieser häßliche Brief? Ich denk', du willst ein Mann sein! Warum bist du nicht selbst gekommen und hast zu mir gesagt: So und so ist es, ich kann nicht anders, gib mich frei!«

»Und was wär' dann gewesen?« entgegnete er lebhaft. »Versetz dich doch in meine Lage! Nimm an, das Michele lebte und wär' gesund – ich konnte damals doch nichts andres glauben –, nimm an, dies alles wäre nicht gescheh'n, und ich, ich käme plötzlich und sagte dir das – frag dich doch selber, Trautchen, ehrlich: hättest du mich überhaupt auch nur ausreden lassen?«

Sie warf den Kopf zurück und setzte zu einer scharfen Antwort an. Auf einmal aber knickte ihre Haltung in sich zusammen. Ihr Blick wurde matt und folgte zerstreut dem Gleiten ihres Zeigefingers, der unbewußt den Schnörkeln einer Arabeske in der Tischdecke nachfuhr. Er spürte, daß seine Worte Eindruck gemacht hatten, und sprach weiter:

»Trautchen, nicht, daß ich ... Glaub mir doch, daß ich diesen Brief bereue, wie sonst nicht leicht etwas in meinem Leben! Aber vielleicht begreifst du jetzt ein bissel besser, warum ich ihn geschrieben hab'.«

Ruhig und von Müdigkeit verschleiert, dabei doch fest und sicher war ihre Stimme, als sie ihm nach einer kleinen Pause Antwort gab:

»Ja, du hast recht.«

Dies hatte er nicht erwartet. Er starrte sie groß an und stammelte:

»Nein, nein, ich weiß schon, daß ich unrecht hab'. Ich wollte nur ...«

Sie winkte ihm lässig ab:

»Laß gut sein: es war mir wohl so bestimmt. Und dieser Brief gehörte auch dazu. Dies alles mußte wohl zusammenkommen, um mir, endlich, den Star zu stechen.«

»Wie meinst du das?« fragte er zweifelnd.

»Toni, was hat's für einen Zweck, in Einzelheiten nach der Schuld zu forschen, die eines oder das andre trifft! Gehn wir aufs Ganze! Unsere Ehe war eben eine einzige Lüge. Du brauchst nicht aufzufahren, Toni. Freilich: du hättest auch so manches anders machen können; und wenn du ein anderer gewesen wärst, wer weiß! Aber der erste Fehler, aus dem dann alles später von selbst hervorwuchs, liegt bei mir.«

»Nein, ich versteh' dich net«, murmelte er fassungslos.

»Du verstehst mich sehr gut«, gab sie zurück. »Worum dreht sich dein Brief von Anfang bis zu Ende? Daß ich dich aus Berechnung genommen hab'.«

Er wehrte mit beiden Händen ab.

»Davon hab' ich kein Wort hineingeschrieben!«

Sie schüttelte leis den Kopf über ihn.

»Nun, wie du willst! Ich aber hab's darin gelesen. Und nicht erst in diesem Brief. Schon von jeher. Wozu mußt du dich drehn und winden und so tun? Es ist ja wahr.«

»Was ... ist wahr?«

»Ja, Toni, ich ging damals herum und suchte nach der guten Partie. Und hätte ich von deinem Erfolg, deinen Verkäufen im Glaspalast noch nichts gewußt an dem Abend in Oberammergau, es wär' wohl nie ein Paar aus uns geworden.«

Ein Frösteln rann Toni den Nacken herunter. Er spürte den Zug von Größe in Trautchens gegen sich selbst unbarmherziger Ehrlichkeit und maß daran die Größe des Schicksalsschlags, der sie getroffen hatte. Davor kam in ihm keine kleinliche Gekränktheit über ihr Bekenntnis aus. Er schaute ohne Blinzeln in das harte Licht der Wahrheit und sagte, einfach wie sie:

»Manchmal hab' ich mir das gedacht.«

»Sag ruhig: immer, Toni!« erwiderte sie. »Du schobst diesen Gedanken zwar gerne von dir, weil er dir unbequem war und auch nicht gerade schmeichelhaft; im Grund aber gedacht hast du das immer, und schon von der ersten Stunde an. Warum hast du mich da geheiratet?«

»Ja, wie?« stotterte er. »Nachdem es einmal so weit gekommen war? Da hätte ich dich sehen mögen, Trautchen!«

»Also aus Edelmut?« fragte sie mit mattem Spott.

»So schöne Sprüche liegen mir recht wenig«, so verteidigte er sich. »Aber man hat doch ein Gewissen.«

»Nun, Toni, wenn dir der Edelmut nicht zusagt, nennen wir es Gutmütigkeit, oder noch besser wieder gleich beim rechten Namen: Bequemlichkeit, Angst vor Szenen und Aufregung, Angst schon vielleicht vor jedem ernsten Wort! Gewiß, ich geb's dir zu: wenn du mich damals hättest sitzenlassen, ich wär' sehr unglücklich gewesen. Aber bin ich denn heute glücklich? Damals hatte ich noch das ganze Leben vor mir, ich konnte, wie's auch ging, noch alles von der Zukunft erwarten. Jetzt sind die besten Jahre hingeopfert für etwas, was nicht Stich hielt. Worauf soll ich noch hoffen! Die Jugend ist vorbei; ich habe auch den Mut nicht. Den hat man nur, solange man sich noch Illusionen macht über sich und über andre. Was ich hatte, woran ich mich halten konnte, ist doch zerronnen wie, nun eben, Illusionen. Was war es denn auch sonst? Bis auf das Michele! Aber er ist ja tot, ich hab' kein Kind mehr, es war mein einziges! Nein, nein, sag' gar nichts, Toni; ich weiß, daß du dafür nichts kannst. Auch hier bin ich es wieder. Ich glaubte so klug zu sein und war so dumm. Wieviel schöner hätte des Jungen kurzes Leben sein können, wenn er nicht so allein mit uns Großen gewesen wär'! Und ich stände jetzt nicht so zwecklos und verlassen in der Welt. Freilich, um unseretwillen sind die Kinder nicht da; aber was sind wir ohne Kinder!«

»Ja, Trautchen«, begann Toni, »ich hätte mir auch mehr Kinder gewünscht.«

»So?« murmelte sie bitter. »Gesprochen hast du aber nie davon.«

»Mein Gott, nachdem du es net wolltest, was hätt' es nützen sollen!«

»Natürlich, Toni: hier wie in allem anderen! Was hätt' es nützen sollen! sagst du. Und doch: aus mir wär' vielleicht etwas zu machen gewesen.«

»Wie meinst du das?« fragte er überrascht. »Und soll das ein Vorwurf sein?«

Sie schüttelte still den Kopf.

»Nein; ich weiß zu genau, woran es bei mir selber fehlte. Du hast mir das ja alles in deinem Briefe aufgezählt. Wozu noch davon reden, Toni! Freilich bedenkst du nicht die Welt, aus der ich herkam: die wohlhabend gewordenen kleinen Leute, diese Beschränktheit, in der sich alles um den Nutzen dreht, ums liebe Geld und darum, was die anderen Spießbürger sagen werden. Ich hab' es ja in diesen Tagen wieder an Minna merken können. Glaubst du, das färbt nicht ab, wenn man von klein auf nichts andres hört und sieht! Und viel davon hat mir bis heute nachgehangen; darüber täuschte ich mich nicht. Aber warum bin ich denn fort aus der Familie und dem allen? Glaubst du, das war so einfach damals? Und wenn ich in die richtige Hand gekommen wäre, dann hätte es vielleicht nicht erst so schwere Schläge gebraucht, damit ... Aber genug! Wozu das alles!«

»Das kommt ja so heraus«, wendete er beklommen ein, »als ob du meinst, ich hätte dich so quasi erziehen sollen? In dieser Hinsicht hast du sonst wohl eher das Gegenteil gedacht.«

»Toni«, erwiderte sie, »ich glaub': in einer Ehe, wie sie sein soll, erzieht sich eins am andern ganz von selbst. Das bringt die Luft schon mit sich, die in einem solchen Haus ist. Die rechte Liebe natürlich gehört dazu. Und ob die auf meiner Seite mehr gefehlt hat, oder auf deiner, das zu entscheiden, überlass' ich dir. Wie es auch zuerst gewesen sein mag, später hab' ich ... Einerlei! Es hat ja keinen Zweck. Du aber ... Hast du je in mir was anderes gesehen als eine immerhin ganz nützliche Person: Haushälterin, Geschäftsführerin, vielleicht noch künstlerische Beraterin?«

»Wie magst du nur so übertreiben!« fiel er ihr ins Wort.

Jedoch sie blieb dabei.

»Mach es dir nur klar: viel anders war es nicht. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich will mich damit nicht reinwaschen. Ich weiß, dies alles kommt daher, daß du dich von mir eingefangen fühltest. Das setzte dir von Anfang an die falsche Brille für mich auf. Freilich: ob du sie durch alle diese Jahre aufbehalten mußtest? Toni, du hörst es gern, wenn man dich den starken Mann nennt. Wärest du es nicht nur mit den Armen, sondern auch sonst, ich meine: mit dem Herzen, dann hättest du vielleicht schon in unserem ersten Ehejahr durch ein paar offene Worte über deinen Verdacht so manches anders machen können. Glaubst du nicht?«

Toni gab sich nicht Rechenschaft darüber, ob es der Ton oder der Inhalt ihrer Worte war, was es plötzlich so heiß hinter seinen Augenlidern werden ließ. Ein leichter Taumel riß ihn hin.

»Ja aber, Trautchen«, rief er lebhaft »wenn du das wußtest, warum hast du denn da net gesprochen?«

»Gott, Toni, nachher weiß man's natürlich besser. Und war es denn an mir, zu sprechen? Ich denk': an mir war es, dir eine gute Frau zu sein. Bemerken hättest du das selber müssen.«

Er sah sie groß an, als mache er eine ganz unerwartete Entdeckung.

»Jetzt hast du aber doch gesprochen«, sagte er schnell. »Und es braucht noch nicht zu spät zu sein!«

»Es ist zu spät«, entgegnete sie sehr schlicht und sehr bestimmt.

»Warum denn, Trautchen! Du hast mir das auf einmal in ganz neuem Licht gezeigt. Wir waren, zu allem andern, beide ein bissel selbstgerecht. Jetzt aber, wo wir uns darüber klar sind, daß keines ohne Sünd ist ...«

»Sünde?« so unterbrach sie ihn mit einem wehen, tiefen Lächeln. »Du hast es wohl nicht bös gemeint, und ich hab' es, das darfst du glauben, in meiner Dummheit gut gemeint. Ich weiß nicht, ob es Sünde war. Ich weiß nur, daß man dafür bestraft wird. Und noch in diesem Leben. Ich hab's erfahren, Toni. Vielleicht erfährst auch du es noch einmal. Dann wünsch' ich dir, daß es über dich nicht so hart Schlag auf Schlag kommt, wie es mich getroffen hat. Nun ja, ich hatte es wohl nötig. Ich war sehr selbstgerecht.«

»Sei nicht so trostlos!« bat er ergriffen. »Ach, wenn ich diesen Brief nur ungeschehen machen könnte!«

»Du kannst ihn nicht ungeschehen machen«, sagte sie, und eine so vollkommene Ergebung in das Schicksal klang dabei mit, daß es beinah an ernst entschlossene Freudigkeit zum Schicksal gemahnte. »Nichts kann man ungeschehen machen«, wiederholte sie.

»Gutmachen wenigstens, soweit es geht«, verbesserte er sich. »Wenn man sein Unrecht einsieht! Glaubst du, ich lass' dich jetzt allein? Also Trautchen, versuch es noch einmal mit mir!«

»Nun, und die andre?« fragte sie sachlich. »Bist du dort nicht gebunden? War das nur Spielerei? Wen liebst du: mich oder sie?«

»Darauf kommt's jetzt net an«, haspelte er mühsam heraus. »Hier ist die Frage, wem ich notwendiger bin.«

»Toni, mach dir nichts vor! Was dich jetzt treibt, ist momentane Gefühlsaufwallung. Ich geb' dir zu, daß du ein weiches Herz hast; aber ich brauch' dein Mitleid nicht. Wer weiß, wer von uns beiden übers Jahr das Mitleid nötiger hat!« Trautchen erhob sich, als wolle sie der Unterredung ein Ende machen.

»Dann ist es also Rachsucht!« rief er, plötzlich gereizt, und stand gleichfalls auf.

Sie sah ihn mit einem schiefen Lächeln an.

»Jawohl: wie du von Annastina denkst, glaubst du ja doch, es ist mein Unglück, wenn ich sie heirate«, warf er hin.

»Toni, manchmal hast du doch was von einem Kind!«

»Weich mir net aus!« sagte er. »Glaubst du, ich werde unglücklich mit ihr, oder ich werd' es net?«

Sie zuckte die Achseln.

»Wer will in solchen Dingen prophezeien, Toni! Um das zu wissen, gibt's nur einen Weg: probier's! Sehr möglich, daß es dein Unglück ist. Probierst du's aber nicht, so bleibt's in deinen Augen ganz bestimmt aus ewig das verlorene große Glück. Und ich dürfte dann jeden Tag aus deinen Mienen die stumme Klage lesen, was du für mich geopfert hast aus lauter Edelmut. Darauf verzichte ich.«

»So einer also bin ich nach deiner Ansicht?« murrte er tief gekränkt. »Dann freilich! Aufdrängen will ich mich dir net. Dir scheint ja diese Trennung net sehr nahzugehen.«

»Ach Toni«, antwortete sie mit seinem untergründigem Spott. »Und du glaubst nur im Augenblick, daß sie dir so entsetzlich nahegeht. Frag dich nur ehrlich, ob dir nicht im Grund ein Stein vom Herzen fällt! Die andre hätte dich wohl nicht so leichten Kaufs entlassen.«

Er erschrak davor, wie hellsichtig sie durchschaute, was als halb unbewußte flüchtige Regung in seinem Innersten aufgeblitzt war. Aber er sagte:

»Wie wenig du mich kennst! Ja, also, dann ist es wohl das beste ...«

»Es ist das einzige«, gab sie zurück. »Und alles Reden ändert nichts daran. Leb wohl!«

Er stand unschlüssig. Endlich murmelte er:

»Nun, eine Hand wirst mir am End' noch geben können zum Adieu!«

Sie tat es. Aber ihre Finger lagen wie leblos in den seinen.

»Toni, leb wohl! Ich wünsche dir nichts Böses.«

»Ja, Trautchen, eins noch: muß es denn überhaupt sein, daß wir uns deshalb als Feinde anschaun? – Von meiner Seite ... Du sollst dich über nix zu beklagen haben«.

Ein trübes Lächeln glitt um ihre Mundwinkel und verschwand. Ja, Männer! Fuhr er da nicht schon wieder mit vollen Segeln auf das Meer der Zukunft hinaus?

»Das wird sich später alles finden«, erwiderte sie. »Ich bin furchtbar müde. Nimm s mir nicht übel, Toni, aber geh jetzt!«

»Ja, ich geh' schon.« Er ließ ihre Hände los, wendete sich dann schnell ab und schritt zur Tür hinaus. Sie folgte ihm und blieb auf der Schwelle stehen. Während er den Mantel anzog und Hut und Tasche nahm, arbeiteten seine Gedanken: er hatte die Empfindung, als müsse er ihr noch etwas sagen. Und schließlich sagte er:

»Und wo ...? Ich will jetzt an das Grab vom Michele.«

»Was? In der Nacht?« erwiderte sie. »Auf dem Pippinger Friedhof. Der neue Pasinger ist so öd und häßlich.«

»Im Eck dort an der Mauer?« fragte Toni. »Dort, wo ich damals – weißt du, der Bub war mit uns – gesagt hab', daß ich nach meinem Tode liegen möchte?«

»Ja. Wie lange mag das her sein? Knapp ein Jahr. Wer hätte wohl gedacht ...! Und jetzt liegt dort der Bub. Und du wirst nie da liegen.« Dies brachte sie als schlichte Feststellung hervor, mit jener großen Ruhe, die ihm heute schon ein paarmal kalte Schauer den Rücken heruntergejagt hatte.

»Also dann ...«, murmelte er mit halberstickter Stimme und stieg gesenkten Kopfes rasch die Stufen hinunter. Doch plötzlich überfiel es ihn, daß sein Davongehn nicht besser sei als eine feige Flucht. Trotzdem hob er die Hand zur Klinke und öffnete die Haustür. Aber er schloß sie wieder und drehte sich noch einmal zurück.

»Trautchen«, begann er stockend, »muß es so sein? Ich weiß, du verachtest meine Gefühle. Und ja, du bist die Mutter. Ich sehe ein, daß das noch etwas anderes ist; und ich versteh' es so gut, daß du in dieser Stunde ganz in dem einen aufgehst. Aber das Leben geht doch weiter. Du kannst es net bis zum Ende bloß mit der Trauer um das Michele füllen. Du mußt ihm wieder Inhalt geben, ein Ziel, ein ...«

»Toni, ans Ziel führt uns das Leben ganz von selbst. Ich bin zu zielbewußt gewesen. Um mich mach dir nur keine Sorge! Ich weiß schon, daß ich weiterleben muß. Das ist ja meine Strafe. Man kann sich nicht drum drücken. Es wird uns nichts von dem erspart, was wir verdient haben. Wer sagt dir denn, daß ich in Zukunft nichts tun will, als nur immer trauern! Das Michele ist tot und über meine Hilfe hinweg. Den Lebenden kann man helfen. Arbeit findet sich schon für einen, dem's ernstlich drum zu tun ist.«

Und wieder kam sich Toni arm und ausgeschlossen vor.

»Schau, Trautchen«, sagte er, »wir waren vierzehn Jahr beisammen. Und wenn du ... Am End' bin ich dir doch der Nächste.«

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Mein nächster ist, wer mich braucht; du brauchst mich nicht.« Und als er widersprechen wollte, fuhr sie fort: »Toni, es führt zu nichts. Ich kann vor Müdigkeit kaum auf den Füßen stehn. Leb wohl! Laß es dir gut gehn, wenn du kannst!«

»Ich geh' schon!« antwortete er hastig. »Aber ich komme wieder, morgen früh. Man sagt ja: Zwischen heut und morgen liegt eine lange Zeit. Vielleicht denkst du bis dahin nicht mehr so schlecht von mir. Also: ich komme!« Und schon sprang hinter ihm die Tür ins Schloß. Es war, als hätte er Trautchens Antwort gar nicht mehr erst hören wollen.

Und nun war ihre Kraft zu Ende. So mutig sie gesprochen hatte, jetzt starrten ihre Augen in die kommenden Tage wie ein totes, hoffnungslos graues Nebelmeer. Auf der Stelle, wo sie stand, sank sie, am Türstock niedergleitend, in sich zusammen, schlug die Hände vor ihr Gesicht und weinte, weinte ...

 

Toni schritt zwischen den schwül duftenden Rosenbeeten den Kiesweg entlang auf das Gartentor zu. Doch bevor er es erreicht hatte, hielt ihn ein dunkler Zwang an. Er blieb stehen und warf einen Blick nach dem Hause zurück. Sein altes Haus! Im Äußeren trug es in jeder Linie den Stempel seiner Persönlichkeit, und innen war es ihm doch mehr, als er je gewußt hatte, zur warmen Heimat geworden. Sonderbar ausdrucksvoll, lebendiger als so mancher Mensch, schaute es ihm heut abend mit stillem Vorwurf entgegen, verzaubert durch das Mondlicht, das aus der weißen Mauer, wo nicht der tiefe, weiche Baumschatten sie deckte, gleichsam ein kaltes Feuer sprühen ließ. Ein schwerer Seufzer kam aus Tonis Brust. Er riß sich los und setzte wieder langsam Fuß vor Fuß. Als dann die Pforte hinter ihm zugeschlagen war, beschleunigte die innere Unruhe seinen Schritt. So ging er unter Linden, die leise rauschten und die Nacht mit süßem Blütenatem erfüllten, durch Pasings stille Straßen nach Pipping, wo das Michele begraben lag.

Seine Gedanken waren die ganze Zeit bei Trautchen. Er meinte sie noch immer bleich und ernst vor sich stehn zu sehen, nicht mehr die kleine, gemütliche, mollige Frau von ehedem, sondern in jedem Zug auf ihr Wesentliches zurückgeführt, vereinfacht, groß geworden. Warum nur hatte es vierzehn Jahre dauern müssen, bis er hinter all dem äußerlichen Alltagskleinkram ihr wahres Wesen erkannte, das Unvergängliche an ihr, das sie immer regiert haben mußte und heute noch regierte: die starke, keusch verschlossene Liebesfähigkeit, die warme Lebensenergie, die herzhafte Tüchtigkeit. Sprach die im tiefsten nicht auch aus der ernsten Leidenschaft, mit der sie jetzt die harten Schicksalsschläge fromm als Strafe der eignen Sünden auf sich nahm? Wer so im Unglück wächst, ist kein gewöhnlicher Mensch. Und doch war's die Gewöhnlichkeit, was er ihr insgeheim immer zum Vorwurf, was ihm die Ehe mit ihr zur fortgesetzten Enttäuschung gemacht hatte. Nun aber kannte er sie und wußte, daß er um ihretwillen allen holden Mittsommerträumen zu entsagen hatte. Tat das auch weh, und täuschte er sich darüber nicht, daß ihm an Trautchens Seite kein Ersatz für solch ein junges, überschäumendes Glück werden konnte, in dieser Stunde empfand er, was seine Aufgabe und wo sein wahrer Weg war. Wenn er ihn ging und sein Ziel erreichte, so würde sein Leben auch an der rechten Liebe niemals arm sein.

In solchen Gedanken ging Toni fürbaß und stand auf einmal, ihm selber unerwartet, vor dem Pippinger Gottesacker. Er stieg die ausgetretenen Steinstufen hinan und rüttelte an dem Gitterpförtchen, das die niedrige Mauer unterbrach. Vergebens. Es war zugesperrt. Einen Augenblick fragte er sich, ob er nicht einfach hinübersteigen solle. Aber er blieb, wo er war, und starrte verträumt auf das kleine Gräberfeld, dem der Mondesdämmer durch Verwischen und Steigern aller Formen eine eigen schwermütige Schönheit lieh. Micheles frischen Hügel konnte er nicht sehen; der lag da drüben, verdeckt und beschattet von dem spitztürmigen Kirchlein. Und er brauchte ihn nicht zu sehen: er fühlte seine Nähe. Seine Finger hielten noch immer die rostigen Eisenstäbe umklammert, und von ihnen drang eine Kälte durch die Arme in seinen Körper ein. So hielt er Zwiesprach mit seinem toten Buben und verstand, was der ihm zu sagen hatte.

Da er nach einer Weile wieder der Landstraße entlang wanderte, dem Pasinger Bahnhof zu, kannte er seinen Weg genau. Er mußte, wenn es not tat, um Trautchen kämpfen, geduldig um sie werben, bis sie an seine innere Wandlung glaubte. Verlassen durfte er sie nicht, und mochte sie ihn zehnmal noch von ihrer Schwelle weisen.

Wie wenn er für diesen Entschluß belohnt werden solle, eröffnete es sich ihm plötzlich, auf welche Art ihm das gelingen möchte. Jawohl, noch heute abend schrieb er den Abschiedsbrief an Annastina, schrieb ihn so, daß sie ihm nicht den Vorwurf der Untreue oder des Mangels an Liebe machen konnte, sondern klar einsah, welcher heiliger Zwang ihn trieb, ihr sein Wort zu brechen. Und diesen Brief sollte, bevor er abging, Trautchen lesen. Brachte er ihn zu Papier, wie er ihm jetzt vor der Seele schwebte, so war er seiner Wirkung auch auf sie gewiß.

Und kaum saß Toni in dem häßlichen Münchner Hotelzimmer, da griff er schon zur Feder und hatte langes Besinnen gar nicht nötig. Noch nie war ihm das Schreiben leichter von der Hand gegangen. Ein starkes Gefühl schenkte ihm die Kraft des Wortes. Zum Schlusse überlas er die wenigen Seiten noch einmal und war zufrieden. Keine Silbe brauchte er zu ändern. Befreiten Herzens legte er sich dann zur Ruhe. Und da es dunkel um ihn geworden war, konnte er sich zum erstenmal ganz ungeteilt dem trauernden Gedenken an das Michele hingeben. Das tat er, bis alles, was Gestalt war, sich vor seinen geschlossenen Augen in rollende Nebelwolken auflöste. Als sanfter Freund trat heute der Schlaf an sein Bett.


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