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Einen andern Menschen aus edlem Herzen heraus selbstlos zu beglücken, ist nicht immer ganz so einfach, wie das auf den ersten Blick erscheinen könnte. Auch dazu gehören nämlich zwei. Bei dem gewohnten Spaziergang vor dem Abendessen schob heute der starke Mann seinen Arm in den Danielssons und schlug einen Schritt an, der bald sine schöne Entfernung zwischen sie und die übrige Gesellschaft legte.
»Sie ßpringen ja so hastig?« sagte der Schwede zuletzt ein wenig atemlos. Toni schaute sich prüfend um.
»Ja, gehn mir langsamer!« Er mäßigte das Tempo. »Es war nur, weil ... Ich soll Ihnen etwas unter vier Augen ausrichten. Von wem, das werden Sie kaum raten«.
»Was will mich also Frau Nordlind mitteilen?« erkundigte sich Danielsson. Diese Sicherheit verblüffte den starken Mann nicht schlecht. Die feine Einleitung, die er sich zurechtgetüftelt hatte, fiel ins Wasser. Recht überstürzt brachte er nun seine Botschaft vor. Der Schwede vernahm es offenbar mit Fassung, daß nur ihr Trotz der Stifter von Annastinas Ehe gewesen sei. Und als der andre fertig war, fragte er sachlich:
»Ja, warum glaubte Frau Nordlind, daß mir das interesseeren sollte? Denn ich verlobe mir in Prinzip nie zweimal mit eine Dame«.
»Ach, aber daran denkt sie gar net!« widersprach Toni. »Sie hat mir eigens noch betont ...«
»Daß sie mir nur – was heißt es? – retten will for die heilige Kunst?«
»Ja, aber?« Der starke Mann machte große Augen.
»Nun vielleicht, Gwinner, daß Sie nicht die erste Friedenstaube sind.«
»Wie?! Nein?! Sie hat schon früher ...?«
»Das nicht. Direkt zu mir hingeschickt sind Sie der erste. Aber sie hat oft solche Wörter fallen gelassen bei allerhand gemeinsame Bekannte. Und weil ich nicht gut hörete, so zieht sie nun das Zirkel enger. Das habe ich gleich vermutet, da ich sie hierkommen sah.«
»No, Danielsson, das is für Sie doch höchstens schmeichelhaft?«
»So, ist es das? Und denken Sie, daß sie mir dann auch zu retten Lust hatte, wann ich es in Wirklichkeit notwendig bedurfte? Stellen Sie sich ihr in die Situaschon vor, daß ich ein unbekannte arme Teufel geblieben sein sollte! Oder er, Baginsky, sollte es damals gewesen sein! Oh, ich weiß: die romantischste Motiven veranlaßten Frau Annastina, dem Mann zu heiraten; und es spielte keine Rolle, daß er die großen Gelder hatte, und daß der alte Bengt ihm auch sonst gut gebrauchen konnte. Ich bin sogar voll überzeugt: sie glaubt das ehrlich, und es ist nur mein Fehl, wann ich es leider nicht glauben kann; ein ordinäre Realist, wie ich«.
Toni vernahm dies wenig liebevolle Urteil mit zwiespältigen Empfindungen.
»Also? Was soll ich ihr nun antworten?« fragte er nach einem kurzen Schweigen.
»Ja, war es, daß sie mir etwas fragen ließ?« Der Schwede lächelte fein.
»Nein, eigentlich ... Ich sollte Ihnen einfach sagen ...«
»Nun ja, das haben Sie gemacht; und ich hab' es gehört«.
»Aber?« stammelte der starke Mann betreten.
»Sie glauben, Gwinner, daß Frau Nordlind, zu Trotz von ihre heftige Protesten gegen das, doch vielleicht auf etwas andres ßpekuleerte? Und Ihnen erscheint die Situaschon nicht sehr gemütlich, sie au sihrem Irrtum zu nehmen? Ja aber, was soll ich tun? Denn, sehen Sie, zwei Frauen zu heiraten, das kann in die Türkie gehen, aber in Schweden ist es kriminell«.
»Zwei Frauen? Ich versteh' Sie net«.
»Jawohl, ich reise übermorgen und ...«
»Sie reisen?«
»Nach Stockholm. Und, Gwianer, unter Diskreschon for's erste: ich soll dort Hochzeit seiren mit Fröken Kajsa«.
»Was?! So auf einmal?«
»Oh, das ist schon ein altes Plan. Und nur, daß es in den Moment realiseert wird, daran kann möglicheweise Frau Nordlind schuldig sein. So, Gwinner, nun wissen Sie die große Heimlichkeit, als erster; denn auch Kajsa weiß es noch nicht. Und, ehrlich zu sprechen: daß ich es mit ihr besser haben soll als mit der anderen – können Sie zweiflen?«
Toni neigte höflich den Kopf und murmelte etwas vag Zustimmendes. Doch mochte seine Miene unbewußt verraten, daß er den Geschmack Danielssons einfach nicht begriff; denn dieser redete lebhaft weiter, als müsse er ihn überzeugen. Er stellte die beiden Frauen nebeneinander, wobei denn freilich Annastina schlecht bei ihm abschnitt. Und alles, was er ihr vorwarf, führte er auf die Erbkrankheit der berühmten Familie zurück, an der schon Vater Bengt gelitten hätte: ganz grenzenlose Selbstüberschätzung. Sehr herzlich hingegen wurde er, sobald er auf Kajsa kam. Ihr billigte er alle Vorzüge zu, die er Der andern absprach. Das einzige, worin ihr Annastina wohl überlegen wäre, könnte die Kunst sein, sich herzurichten und äußerlich zu glänzen. Doch sich dadurch blenden zu lassen, sei er heute schon einfach nicht mehr jung genug. In seinen Jahren fände man in bengalischer Beleuchtung nicht mehr Ersatz für richtige, gute Wärme.
Philister! dachte Toni. Vor Sehnsucht nach Schlafrock und Pantoffeln wirst du gleich gefühlvoll. Ja ja, bequemer glaubst es halt zu treffen mit deiner stummen Null. Na, wart's nur ab! Es können auch bei ihr, wenn sie den großen Zweck einmal erreicht hat, die Krallen zum Borschein kommen. Laut aber sagte er: »Na jedenfalls: herzlichsten Glückwunsch! Es braucht ja keine Redensarten. Sie wissen, wie's gemeint is«.
Danielsons bedankte sich und schüttelte die ihm bieder hingestreckte Hand. Auf dem Rückweg nach dem Hotel verhielten sich die beiden schweigsam. Der neubackne Bräutigam mochte von seinen künftigen Flitterwochen träumen; der alte Eheknüppel hingegen hatte es faustdick hinter den Ohren und wälzte emsig Gedanken, die mit Altar und Standesamt nur eine lockre, man darf wohl sagen, negative Verknüpfung hatten.
Recht taktvoll schonend selbstverständlich müßte er Annastina die Sache beibringen, doch auch nicht gar zu weich in Watte eingewickelt. Denn war es nicht der Trotz gewesen, der sie Baginsky in die Arme getrieben hatte? Na also! Sollte sie diesmal wieder Lust verspüren, solch eine echte Weiberrache an Pelle Danielsson zu nehmen: hier stand der Mann, der ihr sehr gern als Werkzeug ihres Grimmes diente. Oh, ein Vergnügen machte er sich daraus! Zu einer Heirat auszuarten brauchte das deshalb nicht. Man muß ja nicht von allem zweimal haben. So phantasierte einer ganz frisch und frech. Dabei war ihm im Grunde aber gar nicht so furchtbar wohl zumute bei dem Gedanken an sein nächstes Rendezvous.
Die bängliche Unruhe, die Toni bis zum Wiedersehen mit Annastina ausstehen mußte, erwies sich leider als nur zu prophetisch. Wieviel er ihr überhaupt sagen wolle, und wie zart oder kräftig, darnach wurde er nicht gefragt. Sie verstand es sehr geschickt, ihm alles zu entlocken, was er wußte, selbst Danielssons liebloses Urteil über sie und ihre berühmte Familie, den großen Vater an der Spitze. Zuletzt rumpelte dem Ärmsten gar unversehens der Reise- und Heiratsplan des Schweden heraus, trotzdem ihm der doch eigentlich nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut war.
Und wie nahm sie das auf? Oh, mit bewundernswürdiger Gleichgültigkeit! Was scherte sie dieser Mensch, der, wie er heute nun einmal geworden war, sie ja nicht anders als aus seiner Perspektive beurteilen konnte! Sie hatte nichts von ihm gewollt und lächelte über ihn. Es war doch nur ihre überfeinerte Gewissenhaftigkeit gewesen, was sie bewog, den Versuch zu unternehmen, ob er sich nicht aufrütteln ließe und vielleicht noch zu seinem besseren Selbst heimfände. Nun aber hatte sie ihre Pflicht, und mehr als das, getan. Sie brauchte nicht mehr daran zu denken. Und sie war froh darum. Sehr überzeugend froh sah sie nun zwar nicht aus. Nicht zum erstenmal stellte Toni fest, daß sie zuzeiten beinah häßlich werden konnte. Ihr Reiz lag in der Bewegung; dies Steinerne in ihrem Gesicht, wobei das Kinn so hart gemeißelt vortrat, stand ihr nicht. Merkwürdig starr war ihr Blick, merkwürdig starr ihre Miene. Nur dicht vor ihren Ohren, dort wo das Kiefergelenk sitzt, arbeitete es leise zwar, doch heftig unter der Haut. Wer daraus aber hätte schließen wollen, es verberge sich hinter ihrer steinernen Ruhe ein Zorn gegen Danielsson, der wäre auf dem Holzwege gewesen. Wohl zeigte es sich plötzlich, daß sie in der Tat böse war, sogar sehr böse, jedoch nicht etwa ihrem ungetreuen Bräutigam von einst, sondern ihrem getreuen und diensteifrigen Professor Toni Gwinner.
Hei, was für ein Hagelwetter von scharfen Anklagen über sein erschrockenes Haupt herniederbrauste! Mein Gott, was hatte er verbrochen? Na, wenn er das nicht selber einsah!
Daß jene Person den tapferen Pelle zum Mann bekam, war ihr natürlich einerlei. Zumal, da sie noch heute abreiste und dem Pärchen nie wieder begegnen würde. Nein, keinen Widerspruch: sie reiste, noch in dieser Stunde! Was er denn von ihr dächte? Sie müßte ja in den Boden sinken unter dem Blick der beiden, die doch nicht anders könnten, als sich einbilden, sie hätte ihn, diesen Menschen, seiner sogenannten Braut abspenstig machen wollen. Sie! Ihn! Ihr! Warum es ihnen sonst wohl so eilig mit der Hochzeit wäre? Und da läge Tonis Schuld; das, und nichts andres, nehme sie ihm übel. Er hätte es nicht vermocht, Danielsson von dieser sie erniedrigenden Meinung abzubringen, weil er selbst im Grunde diese Meinung eben teile. Jawohl: trotz allen seinen schönen Worten, und trotzdem sie ihm, mit wahrhaft blindem Vertrauen, so viel von ihrem innern Menschen gezeigt hätte, wie wohl noch keinem Mann, sei ihm auch nicht ein Schimmer von ihrem Wesen aufgegangen, sei sie in seinen Augen nur eine Frau gleich andern Frauen. Und dies schien sie nun freilich für eine schwere Beleidigung zu halten.
»Das is ja net der Fall!« versicherte er eifrig. »Aber wenn dieser Danielsson nun mal ... Was hätt' es denn für einen Zweck gehabt? Hätt' ich mich mit ihm lange streiten sollen?«
»Ach, bitte, bitte!« sagte sie verachtungsvoll und bitter. »Sie sind eben eine friedfertige Natur.«
»Gnä Frau, ganz ehrlich: war das in diesem Fall net das Vernünftigste?«
»Vernünftig? Ja, mag sein. Vernünftig! Danielsson hat mir ja nur die häßlichsten Motive untergeschoben für meine Ehe, er hat, was schwerer wiegt, das Andenken meines Vaters verunglimpft! Nun, Gwinner, ja, Sie sind vernünftig. Das muß man Ihnen lassen. Obgleich, wenn ich mir denke, ich sollte ein Mann sein, und es spräche einer so zu mir von einer Frau, die mir wert ist ... Oder haben Sie nicht noch gestern wenigstens so getan?«
»Nur so getan, Annastina?« rief er feurig und mit sanftem Vorwurf in der Stimme. »Nein, das ist ungerecht! In meinem ganzen Leben hat noch keine Frau ...!«
Hier aber, da er endlich das Boot der Unterhaltung durch die gefährlichsten Klippen aufs offene Meer gelenkt zu haben glaubte und grad so recht im Zug war, erstarb das Wort in seinem Munde. Sie machte nämlich eine böse und gebieterische kleine Handbewegung, als warne sie ihn hastig, nicht zu weit zu gehen; und ihr Gesicht gefror in einem Ausdruck solchen Hochmutes, daß er verblüfft zurückfuhr. Himmel, welch ein Fauxpas war's denn schon wieder, durch den er sie beleidigt hatte? Ein wenig anstrengend war der Verkehr mit ihr doch ohne Frage. Nein, oder galt das gar nicht ihm? Ihr Blick ging schräg an ihm vorüber und haftete dort hinten auf irgend etwas. Ja, was mochte das denn sein?
Und kaum gedacht, da konnte er schon hören, was sie sah. Ein fast asthmatisches Schnaufen ließ ihn jäh erbleichen. Er fuhr herum. Oh, seine Ahnung! Trautchen! Erhitzt, in zügigem Sturmschritt fegte sie daher und trampste so gewaltig auf, daß nicht nur ihre Fülle bebte; ihm wenigstens war es, als ob auch die Erde bebe. – Verflucht, die ging mir grade ab! konnte er noch denken, bevor ihm ein wohltätiger Nebel für zwei Sekunden die Klarheit des Bewußtseins umschleierte.
Da ihn dann ein schmetterndes »Aha!« daraus emporriß, stand seine zornentbrannte Gattin bereits in ganzer Breite zwischen ihm und, na ja, der andern. Es war natürlich Trautchens Stimme gewesen, die ihn so erweckte.
»Guten Tag«, gab Annastina merkwürdig gelassen zur Antwort, doch schloß ihr Toni eine Reprimande ein. Wenn Blicke töten könnten, so hätte Toni jetzt wahrscheinlich zwei weibliche Leichen sich zu Füßen sinken sehen; an mörderischer Wucht gaben die eiskalten grünen Augen den wutsprühenden blauen nichts nach. So aber zeigten die beiden Damen bald, daß sie noch recht lebendig waren.
»Ich muß mir das verbitten!« fauchte Trautchen.
»Sprechen Sie eigentlich mit mir?« erkundigte sich die andre hoheitsvoll.
»Was dachten Sie denn?«
»Nun, Ihrem Herrn Gemahl scheint dieser Ton kaum aufzufallen. Sie irren sich in der Adresse, meine Beste.«
»Großartig auch noch!« brach es aus der empörten Ehefrau hervor. »Erst stellt sie meinem Manne nach!«
»Du lieber Gott, Sie sind wohl eifersüchtig?«
»Und hab' auch allen Grund!«
»Mag gerne sein! dann suchen Sie den Grund aber doch, bitte, in sich, und nicht in mir! Nachstellen ist ja köstlich! Ich hab' bisher zwar oft erlebt, daß mir die Männer nachgelaufen sind ...«
Toni wand seinen Hals im Kragen. Das brauchte sie nun nicht grad' daherzubringen, fand er. Das zog ihm unverdient die schönsten Widerwärtigkeiten zu.
»Die Männer!« sagte seine Gattin mit Verachtung. »Die laufen jeder nach, die sie dazu aufreizt.«
»Kommt ganz drauf an, wodurch man die Männer reizt«, entgegnete Annastina und blickte selbstgefällig an sich nieder.
»Mir ist noch keiner nachgelaufen«, rief die Gegnerin ein wenig unbedacht.
»Ach was? Nicht einmal Ihr Mann?«
Trautchen verschlug's die Rede; und dies erschien Toni als der gegebene Moment, sich ins Mittel zu legen.
»Ich bitt Sie, gnä' Frau«, begann er mehr kläglich als imposant. Da hatte seine Frau mit eins die Sprache wieder:
»Sei du doch ruhig! Misch dich nicht herein!«
Und er – was sollte er auch tun! –, er fügte sich achselzuckend.
»Ich würde strammstehn, Gwinner«, höhnte Annastina. »Das wär' noch deutscher!«
»Sie, Sie, Sie Schwedin!« so sprang Trautchen bereitwillig mit auf das politische Gebiet hinüber.
»Wenn er ein Schwede wäre!« gab die andere zurück. »Ja, Gwinner, dann wären Sie vielleicht Mann und Kavalier genug, um mich zu schützen vor dieser Furie!«
»Das geht zu weit, gnä' Frau!« protestierte Toni, doch war sein Ton viel eher der der Bitte. Derweil machte seine Frau Anstalten, als wollte sie der Feindin mit den zehn Fingern in die Haare fahren.
»Ich zeig' Ihnen die Furie schon!« keuchte sie.
»Danke, ist ja wohl nicht mehr nötig«, hatte Annastina die Kraft zu sagen, während sie erblassend einen Schritt zurückwich.
»Nein, so was!« Trautchen staunte entrüstet gegen das Firmament. »Das ist das Höchste! Beschützen soll er sie! Vor mir!«
»Ich schütze mich schon selbst!« erwiderte die Schwedin; ihr zitterten die Lippen, doch sprach sie eisig von oben herab. »Zum Kampf mit Ihnen fehlen mir die Waffen. Und auch die Lust. So überlass' ich Sie denn ganz dem ungestörten deutschen Familienleben. Und Ihren tapfern Gemahl möge der liebe Gott beschützen! Der Schutz der Schwachen ist ja sein Beruf. Adieu!« Eine kurze Wendung auf dem Absatz, dann räumte sie das Feld, lang ausschreitend, als läge ihr nicht viel daran, erst noch groß Antwort zu bekommen.
Toni schielte ihr zaghaft nach. Nein, dieser Hüftenschwung, mit dem sie ihre Verachtung so plastisch zu bekunden wußte! Hol' es der Kuckuck: sie ging verdammt schön; das konnte ihr auch nicht der Zorn bestreiten. Sein Malerauge eben, und überhaupt! Gar keine Frage, daß sie sich wenig nett gegen ihn benommen, ihm ohne Rücksicht und ohne jeden Sinn eine ganz üble Suppe eingebrockt hatte. Aber was half das alles! Blieb es nicht trotzdem sein Mittsommertraum, der da mit ihr um jenen Fels bog und verschwand? Für immer! Pfüet di Gott! Ach ja ...
Inzwischen hatte Trautchen das rechte Wort gesucht, und jetzt war es entdeckt.
»Dies Luder!« zischte sie. »Und du!« rief sie dann mit funkelnden Augen. »Du ...« Nein, für ihn war ihr kein Name hart genug. Mit einem Ruck drehte auch sie sich um und stürzte nach der andern Seite davon.
Ei, ei, die Siegerin ergriff die Flucht? Wie unlogisch oft Frauen handeln! Und wie genau sie meistens wissen, warum sie's tun! Der starke Mann stand erst verblüfft. Er schaute dahin, wo Annastina, dorthin, wo Trautchen entschwunden war, zwei-, dreimal drehte sich sein Kopf unschlüssig, dann ließ er alles stehen und liegen und hastete mit Riesenschritten hinter der legitimen Gattin her.
Es war kein weiter Weg, den Toni zurückzulegen hatte. Fast erschreckend schnell, bevor er seine Gedanken auch nur ganz oberflächlich ordnen konnte, schon, als er um den Granitrücken in das nächste grüne Tälchen einbog, prallte er fast gegen seine Frau. Sie hatte sich auf einen Felsblock sinken lassen und die Hände vors Gesicht geschlagen; ein wildes, trocknes Schluchzen rüttelte ihre Schultern. Er sah sofort, daß dies nicht jene gut bewährte Methode war, ihn durch ihr Leiden zu entwaffnen, dies nahm sie ernst, dies ging ihr tiefer. Mit schiefgestelltem Kopf besann er sich. Dann trat er auf den Zehenspitzen, unter sonderbar ängstlicher Vermeidung jedes Geräusches, hinter sie, schmiegte die Finger sanft um ihre Arme und sagte, zärtlich und verlegen:
»Geh, Schnucksibucksi, sei net dumm!«
Durch einen heftigen Ruck des Oberkörpers befreite sie sich von der verhaßten Berührung.
»Laß mich in Ruh'! Lauf du nur ihr nach!« rief sie. Und beinah wimmernd kam es dann hervor: »Ich bin so unglücklich!«
»Du lieber Gott, was hast denn, Schnucksi? Das is doch wirklich blöd'!«
»Nein, nein! Du brauchst gar nichts zu reden! Ich will nicht! Geh!«
Statt dessen ließ er sich auf den gleichen Buckel nieder, auf dem sie saß, vorsichtigerweise freilich ganz am andern Ende.
»Schnucksi, nimm doch Vernunft an!« bat er. »Du hast sie selbst gehört. Kannst du denn glauben, die is verliebt in mich?«
»Aber du in sie!« schluchzte sie herzbrechend.
»Ach Quatsch!« erwiderte er tröstend. »Denkst du im Ernst, die wollte was von mir?«
»O nein«, gab sie ein wenig höhnisch zurück. »Das bildest du dir höchstens ein. Und das ist ja so würdelos. Sie? Sie kokettiert mit dir bloß aus Gewohnheit, und weil kein andrer da ist. Nein, du bist nicht der Mann, der diese Sorte reizen könnte. Wenn sie dich so weit hat, lacht sie recht über dich verliebten Esel!« Den letzten Satz warf Trautchen ihrem Toni fast triumphierend ins Gesicht. Daß er von Annastina nicht ernst genommen wurde, das gönnte sie ihm wohl. Ein bißchen Trost beinah schien ihr hierin zu liegen. Wenigstens sanken ihre Hände in den Schoß, sie richtete den Kopf schon mutiger empor und verkündete zum Beschluß die allgemeine Weisheit: »Gott, seid ihr Männer dumm!«
Toni, der sich doch sonst nicht eben gern für einen Trottel anschau'n ließ, nahm heute dieses harte Wort nicht übel. Er hatte einfach keine Zeit dazu. Die kleine Ruhepause deuchte ihn gerade der richtige Moment, den Trumpf auszuspielen, den er schon pfiffig zwischen den gespitzten Fingern hielt.
»Du bist als Frau so klug und weißt das meiste«, begann er leicht ironisch. »Weißt du zum Beispiel auch, daß diese Donna Nordlind einmal mit Danielsson verlobt war?«
Nun machte aber Trautchen Augen. Und ihr gescheiter Mann erkannte, daß er den Faden hielt, der aus dem bösen Labyrinth ins Freie führte. Jetzt frisch drauflos und keine falsche Scheu mehr vor den Nesseln, die unterwegs noch wuchsen und ihre Wurzeln in seinem sogenannten kränklichen Gewissen hatten! Der Skrupelkram war halt ein Luxus, den er sich hier nicht leisten konnte. Und schließlich war ihm sein Hemd wohl näher als die Röcke, in denen Annastina sich so schön bewegte. Sie reiste zudem ab und tat sich leicht, Trautchen blieb da und stand auf ihrem Recht. So erzählte er denn mit edler Unschuldsmiene. Und was erzählte er? Die volle Wahrheit. Denn was er vorsichtigerweise doch verschwieg, hielt er im Augenblick ganz ehrlich für wesenlose Nebendinge. Unter dem Sprechen war ihm auf einmal eines klargeworden und wurde ihm bei jedem Worte klarer: alle Nettigkeiten der Schwedin gegen ihn waren nur bestimmt gewesen, ihn sanft für ihre eigensüchtigen Zwecke einzuwickeln; er hatte in der ganzen Sache bloß recht naiv den geschlenkten Europäer gespielt. Und daß er von dieser wenig ehrenvollen Rolle gerade seiner Frau des langen und des breiten Kunde gebe, konnte ihm kein Mensch zumuten.
Trautchen lauschte ihm schweigend. Und wie sie lauschte! Das befeuerte ordentlich seine Rednergabe. Sie zitterte für ihre Freundin Kajsa, da sie von dem schnöden Anschlag auf deren Glück vernahm. Und daß ihr eigner Mann so, nun, sie wollte annehmen, bloß so gedankenlos gewesen war, sich bei diesem Plan als Vermittler mißbrauchen zu lassen, dafür hätte sie ihm sicher bös den Kopf gewaschen, wenn sie nicht viel zu neugierig gewesen wäre, um ihn auch nur mit einer Silbe zu unterbrechen. Im weiteren dann vergaß sie jeden Vorwurf. Wie Danielsson den Zudringlichkeiten der intriganten Person begegnet war, wie er ihr durch Toni ganz kalt den runden, glatten Korb hatte überreichen lassen, wie ihn gerade dies in dem Entschluß bestärkte, die andere zu heiraten, oh, das tat wohl, das goß in Trautchens Busen heilenden Balsam süßer Schadenfreude.
»Und war sie denn recht wütend?« fragte sie verzückt.
»Na!« bestätigte er mit einem halben Lachen. »Das hast du eigentlich wohl spannen können.«
So viel war klar: er hatte seiner Frau durch diese Indiskretionen ein höchst willkommenes Geschenk gemacht. Und jeder gute Mensch, der fühlt, daß seine Gaben Dankbarkeit erwecken, gerät ja leicht in einen Taumel des Verschenkens. Der starke Mann tat nun ein übriges: er fügte angenehm zu hörende Einzelheiten hinzu. Urteile wuchsen draus hervor, die Annastina unsanft trafen. Was er mit ihr erlebt hatte, stimmte plötzlich alles so gut zu Danielssons gestrigem Urteil. So wiederholte Toni, rein der Bequemlichkeit halber, ziemlich genau des Schweden Worte.
Und Trautchen bekam immer hellere Augen. Verliebtheit macht die Männer blind, das war ein alter, weiser Spruch. Er aber, nein, wie er diese Person durchschaute! Nein, die konnte ihm auch nicht die Spur gefallen. Und dieser Gedanke scheuchte die letzten Schatten von Sorge aus Trautchens Seele.
Da schlich sich nun eine gute Wärme zwischen die beiden ein; herzlicher wurde mählich der Unterton der Worte. Ob er, ob sie vom Platze rückte, weiß der liebe Gott, aber auf einmal saßen sie dicht nebeneinander; es währte gar nicht lange, und Toni schlug seinen Arm um ihre Schultern und sagte zärtlich neckend:
»O je, und Schnucksibucks war eifersüchtig!«
Sie warf einen lächelnden Seitenblick zu ihm hinüber, ganz flüchtig nur; dann senkte sie den Kopf.
»Ja«, hauchte sie und sah dabei so mädchenhaft beschämt aus, daß ihr Gesicht um zwanzig Jahre jünger wurde. Teufel, sie konnte doch auch heute noch hübsch sein!
»Geh, geh!« Er rüttelte sie aufmunternd ein bißchen. Ein befreiter Seufzer zitterte durch ihre Lippen. Heiß spürte sie einen Hauch von Feuchtigkeit hinter den Lidern. Nach all der Angst durchdrang sie nun die Freude. Und in ihr regte sich ein Ahnen, als könnte doch noch etwas werden aus der Verjüngung ihrer Ehe hier auf Koster. Toni aber sagte vergnügt:
»Das kenn' ich ja an dir noch gar net: Eifersucht! Da fühl' ich mich ganz kolossal geschmeichelt.«
»Das darfst du aber auch!« gab sie zur Antwort und schob die Unterlippe drollig schmollend vor. »Eigentlich sollt' ich dir's gar nicht zeigen, daß ich noch so verliebt bin in dich.«
»Warum?« lachte er keck. »Zeig es nur ruhig! Damit beweist du höchstens einen ausgezeichneten Geschmack. Und sonst hab keine Sorge! Die g'fährliche Sirene reist heut noch ab, und ich bleib' hier.«
»Das kann sie leicht behaupten!« wendete Trautchen mißtrauisch ein.
»Nein, glaub' mir nur: sie reist. Die geniert sich jetzt viel zu viel. Sie war auch viel zu fuchtig. Und wenn sie sich hier sogar eine Villa bauen würde, du alter, dummer Schnucks, darum brauchst mir auf ein zweites Mal noch lang' net wie ein Indianer nachzuschleichen.«
»Ach, doch nicht deshalb!« wehrte sie lebhaft ab. »Ich bin ja ...« Sie stockte, sprang unvermittelt auf und schlug sich vor die Stirn. »Herrgott, das hab' ich drüber ganz vergessen!«
»Nämlich?« fragte er ruhig und erhob sich langsamer.
»Ja, Toni, ich kam doch, weil ... Nein, daß ich das total vergessen konnte!«
»Na, wenn's dir inzwischen wieder eingefallen is, so darf ich vielleicht das große Geheimnis auch erfahren«, entgegnete er mit leisem Spott. Er glaubte nicht recht an ihre anderen wichtigen Gründe.
»Das Telegramm«, rief sie wie abwesend.
»Für mich ein Telegramm? No ja: wahrscheinlich Sauerländer.«
»Nein, nein, von Minchen. Lies!« Sie reichte ihm ein zusammengefaltetes Papier, das sie gedankenlos die ganze Zeit fest in der linken Faust gehalten hatte. Er griff danach.
»Jessas, sie hat sich doch net am End' verlobt? Das wär ein harter Schlag für ihren Bräutigam.«
»Ach, Toni, nein: das Michele!«
»Was is denn los?« stieß er hervor. Denn wenn es um den Buben ging, griff das ihm gleich ans Herz. Seine Hände zitterten und stellten sich recht ungeschickt beim Öffnen der Depesche. »So red' doch!« bat er nervös. Aber da konnte er's schon selber lesen. Und halblaut sprach er dabei die Worte mit: »Michel heute 39,5 Grad. Minna.«
»Was denkst du davon?« fragte Trautchen. Er schlug heftig mit dem Handrücken auf das Blatt.
»Das is doch ein saudummes Frauenzimmer! Ja: Sachsen, ich sag's ja! Sie spart die Worte und bildet sich was ein, wie eegonom'sch sie is. ›Michel heute 39,5 Grad.‹ Hast du schon so was erlebt!«
»39,5 Fieber«, erläuterte sie betrübt.
»Ja, daß sie keine Kältegrade meint, hab' ich mir auch gedacht«, höhnte er grimmig. »Und weiter weiß sie nix! No ja: sie spart wahrscheinlich den Doktor auch.«
»Ach, Vati, es ist vielleicht ein Brief verloren.«
»Woher denn! Briefe gehen net verloren! Aber das is die Dande Minchen, wie sie im Buche steht!«
Trautchen seufzte gepreßt.
»Was meinst du, was der Junge hat?«
»Kann ich das schmecken?« knurrte er grob.
»Du, Toni, wenn es nur nichts Schlimmes ist! Ich weiß nicht: ich hab' so ein Gefühl. Und wie er damals, als wir reisten, auf dem Bahnhof ...«
»Gefühle hat sie! Geh, hör auf und tu um Gottes willen net gleich unken!« rief er ungeduldig. Er fürchtete wohl von ihren Ängsten angesteckt zu werden und sprach sich Mut zu, indem er die Sache möglichst leicht nahm: »Wegen dem lumpigen bissel Fieber!«
»Ich habe keine Ruhe, Toni. Sei mir nicht böse: ich fahr' hin.«
»Was für ein Unsinn, Schnucksi! Bloß net so übertrieben und hysterisch! Da muß man doch erst hören, was ihm fehlt. Du wirst schon sehn: gar nix Besondres.«
»Ja aber: 39,5! Und das Telegramm ist doch vom Vormittag!«
»No«, widersprach er, »und letzten Herbst, weißt nimmer: die Temperatur? Und wie der Doktor kam: verdorbner Magen! Nix! Ein Dreck! Nein, ich sag' dir was: mir depeschieren mit bezahlter Antwort. Und dann wird man ja sehn ...«
Trautchen hätte so gern wie er die Ferienruhe hier oben bis zum vorgesetzten Ende ausgekostet; aber der Gedanke ging einfach nicht in sie hinein, daß sie ruhig auf Koster bleiben und das kranke Michele der Pflege ihrer Schwester überlassen könnte. Alle Vernunftgründe, die ihr dargelegt wurden, konnten gegen ihr Gefühl nicht verfangen. Der Zug, der heute abend von Strömstad abging, war nicht mehr zu erreichen, aber morgen in aller Frühe fuhr sie. Wenn Toni das lieber wolle, brauche er gar nicht mitzufahren. Und sei die Sache nicht gefährlich, so käme sie wohl bald zurück.
Er war gerührt, vielleicht ein wenig beschämt von diesem großherzigen Vertrauen, sah jedoch ein, daß er es auch auf keine zu harte Probe stellen durfte, wollte er es nicht ins Gegenteil umschlagen sehen. Was sie denn von ihm glaube? fragte er mit schöner Entrüstung. Daß er sie nicht allein fahren ließe, sei wohl ganz selbstverständlich. Nein, kein Wort weiter! Wenn sie hier fortging, ging auch er, und damit basta! Kaum hatte er das energisch festgestellt, als ihm der jähe Abschied von Schweden gar nicht mehr so schmerzlich schien. Das Michele würde solch eine Freude haben! Und freute er selber sich etwa nicht auf das Wiedersehn! Bedachte man es recht, so war ja von der Zauberinsel der beste Rahm auch abgeschöpft. Was für besondere Genüsse dürfte er sich denn künftig auf Koster noch versprechen? Als geistige Nahrung dreimal des Tages lyrisches Ehepaar, als leibliche die ewige Fischkost, gemildert höchstens hier und da durch totes Schaf. Sieh da: und schon erschienen dem starken Mann am Horizont der erste saftige Kalbsbraten, das erste bœuf à là mode mit Knödeln daheim in Pasing. So malte er sich die leisen Freuden des Resignierten aus und täuschte sich tapfer über die Wehmut hinweg, die, ohne daß er's richtig wußte, inwendig sein Gemüt mit tausend scharfen Spitzen prickelte.
»Nein, Vati, aber bleib doch wirklich!« sagte Trautchen, deren Vertrauen durch seine Reiselust ins Ungemessene schwoll. Und da er mit einer majestätischen Handbewegung nur stumm abwehrte, wußte sie viel triftige Gründe und lag ihm dringend an. Trieb ihm das auch die Stacheln tiefer in die Seele, oh, er blieb fest. Und so entspann sich ein edler Wettstreit, an dem die Engel im Himmel ihre Erbauung haben mochten. Toni kannte seine Frau sehr gut und fühlte deutlich, daß er sie jetzt durch die sonst nicht unbeliebte Fügsamkeit nur kränken könnte. Hier war zu ihrem Glücke vielmehr der bockigste Ungehorsam seinerseits vonnöten. Und er blieb Sieger. Trautchen beugte sich seinem Willen und genoß die Niederlage still in ihrem Herzen, wenn ihr dabei auch das Gewissen ein wenig schlug: er hatte hier so ausgezeichnet arbeiten können. Und daß er trotzdem gerne mitging, der gute Kerl, fand sie beinah ergreifend. Sie sah ihn mit blanken Augen an.
Doch faßte sie sich bald, und ihr praktischer Sinn stellte sie fest auf den Boden der Wirklichkeit. Es gab ja heute noch viel zu tun. Sie entwarf den Schlachtplan und verteilte die Arbeit klug nach den Kräften und den Fähigkeiten. Das Kofferpacken übernahm sie selbst; er sollte derweil an Minchen depeschieren, das Segelboot für morgen früh bestellen und Sorge tragen, daß im Hotel die Rechnung vorbereitet würde. Als sich die beiden trennten, hätte niemand glauben können, daß der gute Friede, der sie einte, aus dem Boden einer Eifersuchtstragödie erwachsen war. Das lag da hinten irgendwo, schon halb vergessen. Die Unruhe um das Michele, die nun auch ihn ansteckte, schob sonst alles in die Ferne, zog gleichsam einen Vorhang davor, beschränkte den Blick auf das eine, in dem sie einander so recht zugehörig waren.
Toni und Trautchen wandelten selbander zum Abendessen und sahen alles, Fels und Baum und Strauch und Wiese, gleichsam mit neuen Augen an, als reisefertige Leute, die auch die kleinsten Dinge, die sie vorher über dem Ganzen verachtet hatten, nun der Erinnerung fest einprägen müssen.
»Es ist mir ordentlich ein Trost«, sagte sie, »daß Danielssons mit uns fahren, auch in der Bahn bis Malmö. Das ist dann noch wie ein Stückchen Koster. Ach ja: wo fortgehn, wo es schön war, gibt doch immer einen Riß, etwas von seinem Herzen läßt man da.«
»Man kann ja wiederkommen«, tröstete er rauh und nüchtern. Er wollte ihr nicht zeigen, welch starkes Echo ihre Wehmut in ihm weckte.
»Das sagt man so«, gab sie leise zurück. »Und wenn man wiederkommt, es ist nicht mehr dasselbe. Wir sind nicht mehr dieselben. – Sag, Vati, hast du niemals das Gefühl? In unseren Jahren ist doch jeder Abschied schon fast wie ein Schritt zum Grabe.«
»Ach Schnucksi, sei net so elegisch! Mit der Philosophie, da kannst auch sagen, daß die Geburt der erschte Schritt zum Tod is. Aber wer dadrum heulen wollt' hätt' net gar viel vom Leben. Für uns hat's mit dem Grab ja noch ein bissel Zeit. Und wenn das gleiche nimmer wiederkommt, na kommt was anderes. Laß gehn! Weiß net einmal, ob das in jedem Fall solch ein Malheur is! Noch eine Sommerfrischen mit der ladurnerischen Sippschaft, mir wär' es ja genügend. Froh bin ich, bal ich die Gesellschaft nimmer siech!«
Auf Trautchen machte dieser flotte Exkurs nicht viel Eindruck, sie lauschte ihm nur halb und blieb in der weich aufgelösten Stimmung. Plötzlich jedoch riß etwas anderes sie wirksam daraus empor: dort vorne, wo das Sträßchen vom Schuhmacherhaus her einmündete, erschien der gramgebeugte Kopf des vielberedeten falben Gespensterpferdes, ihm folgte knickebeinig der Rest des Gaules, und daran hing ein kleiner Bauernwagen, der unter der Bürde von drei riesigen Koffern ächzte, die es nur einmal auf der Insel Koster gab. Weil Granitbuckel und Wacholdergestrüpp gerade hier den Weg dicht einsäumten, mußte das Ehepaar, bevor es Raum bekam, das Fuhrwerk zu überholen, sogar eine Zeitlang Schritt vor Schritt geduldig hinter ihm dreinschleichen, in einem wahren Leichenzugtempo, fand Toni. Jetzt war es wieder er, in dem die Wehmut mächtig wurde. Trautchen hingegen schaute schon wieder lebensfroher in die Welt.
»So scheint sie also doch zu fahren«, stellte sie befriedigt fest.
»Ich hab' dir's ja gesagt«, brummte er ein wenig mürrisch. Hatte sie denn an seinen Worten erst noch zu zweifeln brauchen!
Jawohl, die Tochter des großen Nordlind fuhr; das wurde den beiden zur unumstößlichen Gewißheit, als sie den Siestaplatz vor dem Hotel betraten. Drunten erblickten sie Carlssons Boot schon unter Segel. Annastina aber stand, heute sehr reisemäßig strikt in Dunkelblau gekleidet, die Fäuste mit Schwung in die Taschen des Staubmantels versenkt, auf der Landungsbrücke und schaute hartnäckig übers Meer, dorthin, wo fern die Festlandküste dämmerte. Sie wendete den Kopf nicht, und aus ihrer stolz verachtungsvollen Haltung sprach der grausame Entschluß, ihn bis zur Abfahrt auch nicht ein einziges Mal mehr zu wenden.
– Sie meint, sie kann uns ärgern, wenn sie zeigt, wie sie sich ärgert! dachte Trautchen triumphierend und genoß es von Herzen, daß ihre Feindin sich so sang- und klanglos drücken mußte. Gleichzeitig erwachte wiederum und stärker ihr Gewissen, und sie begann sich Vorwürfe zu machen, weil sie Toni, der hier schon zwei so gute Bilder gemalt hatte, mit heimnehmen und mitten aus dieser Schaffensfreude reißen wollte. Und während sie noch schwankte, ob sie ihm das nicht sagen soll, kam ihr von außen der entscheidende Anstoß. Der dicke Olsson, der Hotelwirt, der heute nachmittag in Strömstad Einkaufe gemacht und dabei die Post geholt hatte, trat heran und überreichte ihr einen Brief. Der war von Minchen, und in ihm stand, der Doktor hielte Micheles Unpäßlichkeit nicht für gefährlich: es sei nur eine Halsentzündung, eine leichte Angina. Verdacht auf Diphtherie bestehe nicht.
Das tröstete beide Eltern sehr. Trautchen gab zwar, trotz ihres Mannes Zureden, für sich den Reiseplan nicht auf, erklärte es aber für einen Unsinn, wenn Toni nicht hierbliebe und so schön weiterschaffte wie in der letzten Zeit. Und mit dem Jungen könne es ja nach Minnas Brief schon nach ein paar Tagen besser sein. Dann käme sie zurück und brächte ihn einfach mit. Der starke Mann empfand sofort, daß ihm jetzt ein ganz ernstgemeinter Urlaub angetragen wurde. Er stimmte freudig zu und erklärte, erst wenn auch das Michele da sei, würde es in Schweden richtig nett. Doch war's ihm innerlich nicht unlieb, zunächst eine Zeit der Einsamkeit und stiller Selbstbetrachtung vor sich zu sehen. Es hatte doch was verflixt Sonderbares, wie dort die vollen Segel über das blaue Meer glitten und das entführten, was ... Na, hol's der Kuckuck! Vor allem tüchtig schaffen! Das deuchte ihn die wirkungsvollste Kur. Sein oft herbeigeseufztes Erlebnis hatte er, wenn auch nicht in der beglückendsten Form, nun doch gehabt; und er beschloß, aus seinen großen Schmerzen Bilder im mittleren Sofaformat zu machen.
Als sie nachher beim Essen saßen, kam Minchens Antworttelegramm und beruhigte auch das immer noch ängstliche Mutterherz vollkommen: Das Fieber hatte gegen Abend nachgelassen. So gab es denn eine fidele Abschiedssitzung. Trautchen konnte jetzt nicht mehr verbergen, daß sie von Pelles und Kajsas großem Geheimnis wußte und an dem Glück der Freundin innig Anteil nahm. Da gab es nun ein lebhaftes Gratulieren, und die Verlobung wurde mit Pomp gefeiert. Der ganze Sektvorrat des Hotels ging hierbei drauf: fünf Flaschen von drei verschiedenen Sorten.
Je mehr Toni trank, desto schnödere Witze machte er über die wohlriechende Huldin, teils, weil seine Gattin das gern hörte, teils auch nach dem Rezepte des Fuchses mit den Trauben. Und als es dann zur allgemeinen Verbrüderung kam, da gab er Kajsa einen so recht überzeugten Kuß, patschte ihr auf die Schulter und sprach zu Danielsson die billigenden Worte:
»Mit der, mein Lieber, triffst es besser wie mit deiner selig gebliebnen Jugendflamme! Denn der wär' die Bisgurn bald bei jedem Knopfloch 'rausgehangen!«
Philipp, die treue Haut, versuchte eine Lanze für Annastina zu brechen, doch wurde ihm darauf nur die mitleidige Antwort:
»Ja, red nur recht blaublümerant, du Frauenkenner!«
Stolz in die Brust warf sich der starke Mann und fühlte sich nicht nur als Frauenkenner, sondern auch als Frauenüberwinder. Was brauchte er die Weiber! Er hatte seine ewig Geliebte: die Malerei.