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Einem Nachtwandler gleich, hatte Toni rasch den Park durchquert, im Kopf ein ungewisses Brodeln von Gedanken, während die Sinne ihre Arbeit instinktiv verrichteten, taub gegen jeden Eindruck. Doch als er zwischen die letzten Bäume kam, wo sich der Blick über die Innenebene der Insel öffnet, stockte sein Fuß. Er stand, er schaute, er atmete tief aus und ein. Wie geisterhaft war hier die Welt! Kein Mond zu sehen! Der mußte irgendwo hinter dem Felskamm da zur Rechten stecken. Und eben weil man seine Quelle nicht wahrnahm, wirkte dies kühle Licht unirdisch fremd. Es sog die Farben aus den Gegenständen und lieh allem den gleichen bleichen, in sich doch tausendfach nach Licht und Schatten abgestuften Ton. Es lockerte die Formen und steigerte sie durch Verwischen der Einzelheiten, durch Ausheben jeder Perspektive ins Ungeheure. Winzig klein deuchte sich daneben der Mensch, einsam inmitten dieser an Leben leeren und zugleich von geheimnisvollem Leben förmlich kochenden Weite. Aus der tief ins Land hereinschneidenden, sich sumpfig allgemach begrünenden Bucht da drüben, die die Kosterer von ihrem Element abgedämmt hatten, um Meeresgrund als Ackerboden für künftige Geschlechter zu erobern, stieg Nebelrauch, legte sich hier in flachen, weich lastenden Lichtschwaden auf die Felder, glitt dort in hohen, schlanken Wolkensäulen vorbei, eine Prozession von Riesen mit weißen Flormänteln über silbernen Rüstungen. Tja, aber was half das alles! Der starke Mann blies einen Seufzer durch die Lippen und ging weiter, heimzu.
»Zum Anschau'n vielleicht net übel«, sagte er halb zerstreut. »Aber zum Malen nix! Motiv für einen Wagnerianer Kitsch!« Und dennoch versank er gleich wieder in das Gefühl hingerissener Ohnmacht gegenüber den stummen Kräften, die diese Nacht entfesselt hatte und walten ließ.
Horch! Ging dort im Schatten unsichtbar nicht einer neben ihm, treulich im Takt mit ihm, nur daß er fester auftrat, mit hellerem, schärfer abgesetztem Laut? Tap, tap, tap, tap ... Toni und Trautchen hatten mehr als einmal gemeinsam festgestellt, daß ihre Tritte hier bei Nacht einen so seltsam starken Widerhall an der Granitwand drüben fanden. Warum denn war's ihm heute, wie wenn der Klang seiner eignen Füße zögernd nur das Echo gäbe auf diesen fremden Schritt, den Schritt des Schicksals, das ihn zwänge, in gleichem Takte mitzugehen, bis an ein unbekanntes, von blinden Mächten vorbestimmtes Ziel? Tap, tap, tap, tap, ... Das klang, als ob es nie begonnen hätte und niemals enden könnte; so ewig klang es wie der Tropfenfall der Zeit, das Ticken des Totenwurms im Innern alles Lebens. Doch nun, ganz schreckhaft plötzlich: Stille, tiefe, hohle, dennoch in großen Wellen steigende und sinkende Stille. Toni stand und starrte mit ungläubig aufgerissenen Augen. Dort vorne hatte sich aus dem Zug der Nebelgeister eine Gestalt gelöst und glitt langsam gegen ihn her, licht, riesengroß und luftig gleich den andern. Im Näherschweben aber verdichtete sie sich, gewann einen Kern, gewann von innen heraus Form und Umriß, schrumpfte ruckweise auf das Maß des Menschlichen zusammen, glitt schon nicht mehr gewichtlos durch die Luft, horch! Tap, tap, tap, tap ... Aufs neue erklang der feste, gleichsam unerbittliche Schicksalsschritt. Nicht Tonis Füße aber weckten jetzt das Echo. Sie wurzelten am Boden, er fühlte sein Herz im Halse pochen, doch ein Pochen der Freude war es, einer Freude, die zuerst noch zweifelte, dann jubelnde Gewißheit wurde und sich in dem einen Wort entlud:
»Annastina!«
»Sind Sie es, Gwinner? Gott sei Dank!« scholl es ihm wie erlöst entgegen. Nun kam sie schnell dahergetrippelt, legte die Hände auf seine Schultern und kuschelte sich bang an ihn. »Ich hab' mich so gefürchtet!«
Als könnte er ihr damit weh tun, so behutsam schlang er seinen Arm um sie; seine Hand klopfte beruhigend ihren Rücken. Er brauchte nicht nach dem Grund für ihre Angst zu forschen. Ein bißchen unbehaglich war's ihm ja selber in der Gespensterstille dieser Nacht vorhin zumut gewesen. Wie weit lag das zurück! Mit kühlem Herrscherhochmut ließ er seinen Blick über die nebelbrauende Ebene schweifen. Nicht klein und einsam mehr fühlte sich der Mensch im Grenzenlosen; das ganze Weltall war nur noch stimmungsvoller Hintergrund für ihn und für sein Glück, sein kleines großes Glück, das ihm, gerade da er die Hoffnung gänzlich aufgegeben hatte, mitten aus dem Dunkel hervor in die Arme geflogen war. Ein Schwindel wollte ihn packen, eine so atemberaubend schwüle Spannung schwoll in ihm empor, als lege sich ein eiserner Ring um seine Kehle. Der Druck des Schweigens steigerte sich zur Unerträglichkeit.
»Ich bin ja da! Wer wird sich denn da fürchten!« murmelte er heiser, nur um irgend etwas zu sagen.
»Jetzt fürcht' ich mich doch nicht«, gab sie vertrauensvoll zur Antwort. »Es war nur ... Man sagt ja, daß die Mitsommernacht nicht ist wie andere Nächte. Auch Sie, von weitem ... Sie kamen so groß und schwer daher wie ein böser heidnischer Troll. Kennen Sie wohl den Troll aus unsern Märchen? Er hatte die schlimme Angewohnheit, unschuldige kleine Prinzessinnen auf sein Zauberschloß zu entführen, das irgendwo da draußen lag, östlich von der Sonne und westlich vom Mond.«
Toni wollte etwas erwidern, brachte aber nichts heraus.
»Nein, nein«, fuhr sie ein wenig spöttisch fort, »Sie brauchen sich nicht zu verteidigen. Ich weiß schon: ein deutscher Professor gibt sich mit so etwas nicht ab und ist ganz ungefährlich. Nicht wahr, Sie sind doch ungefährlich? Oder?« Sie schaute ihn in kokett bangem Zweifel an.
Ein rauher Laut brach plötzlich aus seiner Kehle. Nun war der eiserne Reif mit eins zersprungen. Toni hatte die Trense zwischen die Zähne genommen. Bevor Annastina so recht wußte, wie ihr geschah, fühlte sie sich mit einer Heftigkeit an seine Brust gerissen, daß ihr die Luft verging und ihr der Boden unter den Füßen schwand. Und es sah aus, als hätte der Blitz, der ihn durchzuckte, auch bei ihr eingeschlagen. Gleich einer geknickten Blüte hing sie in seinem Arm, den Oberkörper ohne Kraft ins Kreuz gelehnt. Sehr bleich schimmerte ihm ihr Gesicht entgegen, mit zitternd geblähten Nüstern, mit Augen, die unter tief gesenkten Lidern hervor in seine Augen starrten, blicklos und blind vor Selbstvergessenheit. Er wußte nicht mehr, was er tat, sein Wille regierte ihn nicht mehr. Wie von der eigenen Schwere gezogen, senkte sich sein Kopf, sanken seine Lippen, langsam und unaufhaltsam, hinab auf ihre Lippen. Da ging es wie ein Aufbäumen durch ihre Gestalt, mit einem halb erstickten Stöhnen warf sie die Arme in einer beinah verzweifelten Leidenschaft um seinen Hals, als müsse sie da Rettung suchen vor sich selbst. Sie küßten sich und wußten nichts mehr als diesen Kuß, der unersättlich war wie der Trunk eines vor Durst fast Verschmachteten. Endlich bog Toni, um nicht zu ersticken, den Kopf ein wenig in den Nacken zurück und sah sie an. So mächtig dehnte das Glück sein Herz, daß es ihm wehtat. Es war jener süße Schmerz der äußersten Seligkeit, die mit dem Tod verwandt ist und das schwache menschliche Gefäß zu sprengen droht.
»Annastina!« flüsterte er heiß, und ein Überschwang von Dankbarkeit ergoß sich in dieses Wort. Daß sie nun sein war, sie, das Feinste, Schönste, Kostbarste, was es auf Erden gab!
Da er sie beim Namen rief, richtete sie sich mit eckig unsichern Bewegungen auf, wie eine Marionette, der man vorsichtig den Faden anzieht. Ein Seufzer aus dem Grunde ihrer Brust, sie öffnete die Augen, große, staunende Augen, die durch die Dinge hindurch in leere Weiten schauten. Ihre Hände flatterten gleichsam empor, zur Höhe ihres Kopfes, schienen in der Luft nach etwas Unsichtbarem zu haschen, drückten sich dann gegen ihre Schläfen, daß die schlanken, funkelnd beringten Finger ganz in dem roten Haar versanken, und glitten von dort zaudernd über die Wangen abwärts auf die Schultern.
»Nein, nein, was tun wir!« sagte sie, als müsse sie sich erst darauf besinnen.
Er gab keine Antwort und wollte durch einen neuen Kuß zeigen, was sie getan hätten. Sie aber entwischte ihm geschickt und stand nun da, den Arm wehrend gegen ihn erhoben, wie mitten im Lauf zu der wundervoll bewegten Statue einer Fliehenden versteinert.
»Geh, Annastina!« bat er. »Ich hab' Sie doch so lieb!«
Sie lachte plötzlich auf.
»Das fehlte auch noch, daß Sie das nicht hätten!«
Er wußte nicht recht, was er darauf erwidern solle, und begann:
»No, also können Sie doch verstehn!«
»Oh, Ihren Geschmack versteh' ich schon.« Sie musterte ihn spitzbübisch zwinkernd aus dem Augenwinkel. »Verstehn kann ich's sogar, daß Sie mich küßten, wenn dieser Überfall auch reichlich dreist war. Aber daß ich Sie wiederküßte, Gwinner, verstehn Sie das?«
»Braucht's gar net. Ich hab's gespürt. Und das genügt mir!« erklärte er, höchst übermütig gemacht durch das neckisch verlarvte Liebesbekenntnis, das hinter ihren Worten hervorlächelte.
»Und ihm scheint das ganz selbstverständlich!« rief sie schmollend. »Um seinetwillen werd' ich meinen heiligsten Grundsätzen untreu. Ich, die ich mir geschworen hatte, niemals wieder zu heiraten! Und nun!«
Da gab es Toni aber einen Riß. »Heiraten« hatte sie gesagt und dieses inhaltsreiche Wort mit einer so beiläufigen Schlichtheit fallen lassen, als kennte sie überhaupt keine andre Art von Beziehung zwischen zwei Wesen verschiedenen Geschlechtes. Er mochte eine recht verdutzte Miene zeigen; denn sie warf plötzlich in eisigster Befremdung das Kinn empor und fragte schneidend:
»Ja, oder meinten Sie vielleicht ...?«
»Nein nein, wie können Sie denn glauben! Nein, Ehrenwort, ich hab' doch ganz gewiß net ...« stammelte er, mit stark verdeutlichtem Entsetzen über ihren, ach, so ungerechten Verdacht.
Hätte er ihr vielleicht kühl und ohne Umschweif erklären sollen, daß, was ihn ihr ins Netz getrieben hatte, nicht eben das Bedürfnis nach einer legitimen Ehegattin war, zumal er, wenn man es genau nahm, solch ein ihm rechtens angetrautes Weib ja schon besaß? O nein, er würde seine Zunge hüten! Es fiel ihm gar nicht ein, sein holdes Abenteuer, das doch gerade erst so vielverheißend anfing, sich selbst mutwillig zu verpatzen. Das war ihm ganz unmöglich in diesem Augenblick!
Ja oder? Ein Blitzschlag der Erkenntnis zuckte auf ihn herab und zeigte ihm den eignen alten Adam am Scheideweg. Was ihm in diesem Augenblick unmöglich war, das wurde, wenn er ihn ungenutzt verstreichen ließ, noch viel unmöglicher. Ein jedes Wort, das er dann weiter spräche, mußte ihn fester binden und verstricken.
Und so geschah es auch. Der starke Mann wollte sich gar nicht warnen lassen von der inneren Stimme. Die wundervollste Frau der Welt begnadete ihn mit ihrer Liebe. Er ließ den Jubel über dieses unverhoffte, niemals verdiente Glück brausend in sich emporschnellen und jede Erinnerung an den Alltag übertönen. Sein ganzes ferneres Leben und die ewige Seligkeit, ohne das kleinste Zaudern hätte er sie um diese Stunde in Tausch gegeben.
Sie aber, seine schöne Elfenkönigin, sie war ein Weib und damit eine Realistin. Und so lenkte sie denn die Rede mit behutsam tastenden, doch trotzdem geradeswegs zum Ziel strebenden Worten aus niemand andres als auf Trautchen, die Toni gerade so schön vergessen hatte, und die außerdem jetzt sicher sehr gut aufgehoben und weich und warm in ihrem Pasinger Bette lag.
Was half's! Er wurde mit der Nase auf die Gewissensfrage hingestoßen, was seine Frau wohl dazu sagen und ob sie sich nicht mit Händen und Füßen gegen die Scheidung sträuben würde. Nun, er beschwichtigte Annastina mit einer großartigen Geste. Das solle sie nur seine Sorge sein lassen. Und sich beschwichtigte er im stillen durch den Entschluß, die Sorge um solche künftigen Dinge mutvoll der Zukunft anheimzustellen und sich erst, wenn es wirklich darauf ankam, den Kopf darüber zu zerbrechen. Dafür schien ihm der Augenblick zu kostbar.
Doch als er sie nun wieder an seine Brust zog und seine Lippen durstig die ihren suchten, stieß er auf den ungebärdigsten Widerstand. Er nahm ihn anfangs nicht zu ernst, wollte sich nicht groß um ihn scheren und ihn durch sanfte Kraft und Ausdauer überwinden. Da brach sie mit einmal in ein schier verzweifeltes, kindlich lautes, wütendes Weinen aus. Ihm sanken die Arme, gelähmt von Schrecken, nieder, unwillkürlich wich er um einen Schritt zurück. Weibertränen sind eine starke Waffe. Jeder Mann, und antwortete er gleich mit einem Wutausbruch darauf, fühlt sich vor ihnen doch im Unrecht, plump und roh und schuldbeladen.
Toni wußte nicht, was er tun, nicht, was er sagen solle; und was er schließlich sagte, war denn auch so dumm und ungeschickt wie möglich:
»Aber ich will mich ja doch scheiden lassen!«
»Wie gnädig!« rief sie höhnisch und wischte sich voll Trotz die Augen. »Sie finden wohl, daß Sie ein Opfer bringen, wenn Sie mich heiraten? Da muß ich weiß Gott wie dankbar sein für diese edle Absicht und alles und mich selbst vergessen?!«
»Aber Annastina!« bat er vorwurfsvoll und traurig. »Sie wissen doch, wie dankbar ich Ihnen bin!«
»Das merkt man!« klang es kämpferisch zurück.
»Ja mei, was hab' ich denn ...? Und is ein Kuß ...?«
»Nein, Gwinner, Sie sagen: nur ein Kuß! Aber jetzt, hier, in dieser Nacht, die etwas hat, was ... Weiß man, wohin es einen führt? Besitzen Sie die Kraft? Ich weiß nicht, ob ich sie noch besäße.«
»Annastina!« jubelte er. Sie hielt ihn mit einer prachtvoll gebieterischen Handbewegung auf Abstand.
»Nein, es ist häßlich von Ihnen, daß Sie meine Schwäche ausnutzen wollen. Ihr Männer denkt immer nur an euch! Wollen Sie, daß ich keinem mehr gerade in die Augen sehen kann? Wie müßte ich mich vor mir selber schämen, ich, die ich immer stolz war und stolz sein durfte! Ich müßte mich ja auf einer Stufe fühlen mit, sagen wir nur gleich: mit der Person, die der gute Danielsson zu seiner Frau zu machen für geschmackvoll hält!«
»Die Kajsa!« antwortete er leichthin wegwerfend. »Daß Sie sich damit überhaupt vergleichen mögen! Aber Sie! Ich versteh Sie gar net. Was soll da schmutzig sein? Sind mir net freie Menschen?«
Hier hob die schöne Frau den Kopf. Das Wort: Freiheit hatte schon seit frühen Jugendtagen einen Fanfarenklang für sie. War es doch eines der beliebtesten Prunkstücke aus der idealistischen Rüstkammer ihres großen Vaters. Nein, den Verdacht der Philistrosität konnte sie nicht auf sich sitzenlassen; und sie zerstreute ihn darum bei Toni, dem freilich Taten mehr bewiesen hatten, mit höchst scharfsinnigen Erklärungen. Nicht etwa bürgerliche Vorurteile legten ihr Fesseln auf, ihre Bedenken waren vielmehr höchst adliger Natur. Als Bengt Nordlinds Tochter gehörte sie nicht nur sich selbst, sondern sozusagen der Welt, stand sie nun einmal stets vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit. Ach ja, das Leben im Verborgnen wäre manchmal schöner! Wer keinen privaten Namen trägt, sondern, das durfte sie wohl sagen, einen geschichtlichen, der ist hierin nicht frei.
»Und, lieber Freund, was ist denn Freiheit überhaupt!« schloß sie melancholisch lächelnd. Dann aber warf sie das Kinn empor und kehrte urplötzlich in das graue Land der Tatsachen zurück, indem sie fragte: »Und, Gwinner, Sie? Sind Sie denn frei?«
Die Antwort hierauf gab sie dann gleich selbst. Nein, er war nicht frei! Er hatte eine Frau, die, wie man auch über sie denken mochte, ganz sicher ihre schätzenswerten, tüchtigen Eigenschaften besaß. Es wäre seiner in der Tat nicht würdig, die Ärmste so zu hintergehen. Mein Gott, wieviel Gerechtigkeit doch Annastina ihrer bittern Feindin zollte! Freilich war sie dabei offenbar der Meinung, die Untreue ihres Mannes könne Trautchen nur so lange schmerzlich sein, als sie von ihr nichts wüßte.
Toni durfte bitten und betteln, soviel er mochte, Annastina war sehr sanft und nett, blieb aber fest dabei, sie könne ihm erst angehören, sobald sie das vor niemand aus der Welt mehr zu verheimlichen brauchten. Wenn er sie wirklich so sehr liebe, würde er es durchsetzen gegen jeden Widerstand und würde sie nicht zu lange in Sehnsucht dessen harren lassen. Bis dahin aber wäre es klüger, sie trennten sich. Mochte er es auch für schwerfällig halten, sie wolle mit erhobnem Haupt in diese Ehe treten, die ja ihre erste wahrhafte Ehe genannt werden müsse. Und darum ginge sie morgen zu ihren Kindern, zu ihrer Mutter, nach deren Landhaus bei Falun. Dorthin solle er dann kommen und, wie es hergebracht sei, um sie werben. Daß sie sich nicht knechtisch und aus Zwang in die bürgerlichen Bräuche schickten, wäre wohl selbstverständlich: freiwillig und überlegen wollten sie sich ihnen beugen. Und wenn man's richtig betrachte, bliebe ja auch die konventionelle Form nur so lange konventionell, als man sie nicht mit neuem Inhalt fülle. Dazu aber, dies zu tun, wären sie wohl die rechten Leute, sie beide!
Toni, der sonst im Leben für hohe Worte nicht viel übrig hatte, ließ sich heut gern davon berauschen. In seinem Liebestaumel steckte ihn dieser Ton sogar ein bißchen an, und er wurde selber in seiner Ausdrucksweise nicht viel weniger als poetisch. Er bat Annastina eindringlich, sie möge doch hier auf Koster bleiben, damit er wisse, wo er sie während der Trennung zu suchen habe. Sonst hielte er das nicht aus: an einem fremden Orte könne er sie von fern nicht sehen und nicht fühlen. Vor ihm brauche sie ja auch nicht zu flüchten, denn er selber reise schon morgen heim und würde dort die Sache regeln. In wenig Tagen hoffe er zurückzukehren und ihr sagen zu können, daß alles im rechten Gleise sei. Und hier, auf ihrer Zauberinsel, wo sie sich gefunden hätten, wolle er ihr das sagen. Für die Werbung bei ihrer Mutter käme dann später noch die Zeit. Ja, der Umgang mit einer feinen Frau veredelt rauhe Männersitten.
Ein strahlendes Lächeln belohnte ihn für seine wohlgesetzte Fügsamkeit; dabei wußte sie es graziös so zu drehen, als ob sie sich mit dem Verbleiben auf Koster seinen Wünschen füge. Jetzt durfte er ihr, wenn auch nicht auf den Mund, so doch die Hand mit aller Innigkeit und Ausführlichkeit küssen; er bekam sogar die Erlaubnis, sie noch bis vor das Schusterhäuschen zu begleiten. Mehr noch: sie hängte sich in seinen Arm und schmiegte sich im Schreiten zuweilen selbstvergessen an ihn an. Dann schoß Toni immer die Hitze durchs Blut, und der Atem stockte ihm gleich für Sekunden. Doch nahm er sich fest zusammen. Er hatte sich vorhin ihren Tränen gegenüber doch gar zu sehr als der plumpe Bauer empfunden. Um keinen Preis durfte er schon wieder ihr Zartgefühl verletzen. Er sah's schon ein: um sie richtig anzufassen, mußte er noch viel lernen; sie war ja etwas so viel Feineres, Höheres, Vornehmeres, als was ihm sonst von Frauen jemals in den Wurf gekommen war. Sie selber hielt sich ja dafür, und das ist stets das beste Mittel, auch dafür zu gelten.
Es gab aber auch noch einen andern Grund, der Toni Hemmungen auferlegte. Bei aller Leichtigkeit, mit der seine Worte über die Hindernisse setzten, die noch auf den von Annastina gewiesenen Weg zum Glücke lagen, in seiner Vorstellung wuchsen diese Hindernisse allgemach zu wahren Chimborassos an. Es würde nicht so einfach und durchaus kein Vergnügen sein, die Dinge, die ihnen beiden ohne weiteres einleuchteten, auch Trautchen klarzumachen. Herrschaft, er mochte gar nicht daran denken und versank doch immer tiefer in dies nicht eben hoffnungsvolle Grübeln.
Und Annastina schien mit klugem, weiblichem Instinkte zu erraten, was ihm so auf die Stimmung drückte. Um ihm zu helfen, fragte sie ihn mit warmer Anteilnahme, wie er denn überhaupt zu dieser Frau gekommen sei. Er begrüßte es als Erlösung, daß das schwüle, peinliche Schweigen unterbrochen wurde, und begann zu erzählen, langsam und stockend anfangs, nachher mit einer flackernden Lebhaftigkeit, die wohl gleichsam ihn selber übertönen sollte. Als könne er seine Untreue dadurch rechtfertigen, ließ er Trautchen nicht gerade in schmeichelhaftem Licht erscheinen. Er erhob ja keine deutlichen Anklagen gegen sie, irgendwie aber konnte man aus seinen Worten doch entnehmen, daß sie ihr Herz für ihn wohl kaum würde entdeckt haben, wenn seine Bilder nicht auf jener ersten Ausstellung im Glaspalast so eingeschlagen hätten. Das glaubte er auch selber ehrlich, sein alter Verdacht von Anno dazumal wurde jetzt, da es ihm so paßte, gerade auf den Tag nach vierzehn Jahren mit einem Schlage zur Gewißheit. Trotzdem fühlte er sich nicht so recht wohl bei seinen eignen Worten. Denn im Grund: was Trautchens ursprüngliche Motive gewesen sein möchten, seitdem war so viel Wasser den Fluß hinabgeflossen, war auch so viel geschehen, hatte er denn doch so vieles Liebes und Gutes von ihr erfahren!
Ein Zufall wollte es, daß eben jetzt ganz in der Nähe aus einem Eschenbaum ein Hahnenschrei erscholl. Irgendein Bauerngockel, der sich, statt brav und ordentlich in seinen Stall zu gehen, sein Nachtquartier dort oben gesucht hatte, mochte von dem Geräusch ihrer Schritte erwacht sein und verwechselte nun den hellen Mondschein mit dem Lichte des anbrechenden Morgens. Dies Kikeriki ging Toni durch und durch. Und die Legende fiel ihm ein von jenem Simon aus Galiläa, der auch beim Krähen dieses Vogels reuig einsah, daß er verleugnet hatte, was er nicht verleugnen durfte. Nicht, daß der starke Mann sich nun beim Hahnenschrei gerade schamrot abseits gedrückt und bitterlich geweint hätte, aber er stotterte plötzlich etwas von Trautchens doch immerhin vorhandenen guten Eigenschaften und machte gleichsam einen Nebel von halben Worten, abgerissenen Phrasen, von einerseits und andrerseits um die Geschichte seiner einstigen Verlobung.
Und wieder war es Annastina, die ihm half. Mit beiden Händen langte sie in den Dunst, erwischte festen Griffes den Kern seiner Erzählung und hielt ihn in ein unbarmherzig klares Licht empor. Sie fand es schön von ihm, daß er die Dinge nicht beim rechten Namen nennen wollte; sie aber täuschte er damit nicht: es war schon, wie sie es sich von Anfang an gedacht hatte! Man konnte wahrhaftig auf die Idee kommen, sie selber hätte in diesem Augenblick noch keine Ahnung von Tonis künstlerischem Ruf und Ansehn, so ehrlich entrüstete sie sich über Trautchen, weil die schon, bevor sie ihm ihr Jawort gab, etwas davon hatte läuten hören.
Trautchen hätte ihn aus Berechnung geheiratet, machte sie ihm klar, und hieraus sei mit zwingender Notwendigkeit alles Weitere erwachsen. Mein Gott, Annastina machte der armen kleinen Frau gar keinen Vorwurf daraus: sie konnte ja nichts dafür, daß sie aus einem Milieu kam, wo man so denkt und diesen Horizont hat. Und sie bestritt ihr auch ihre sogenannten Tugenden gar nicht und zog es nicht in Zweifel, daß sie ihm eine treue und besorgte Gattin gewesen sei; das hatte aber schließlich in ihrem eignen wohlverstandenen Interesse gelegen. Wenn eine sich ihren Mann auf diese Weise erlistet hat und sonst nicht eben sehr viel Reize aufbieten kann, muß sie doch wenigstens in dieser Hinsicht alles tun, um ihn zu halten. So eine kann doch gar nicht anders, als sich jeden Tag und jede Stunde fürchten, daß das Gebäude, welches sie auf dem unsoliden Grund der Lüge errichtete, plötzlich zusammenstürzt. Ja, sah denn Toni gar nicht, warum sie ihn nach dem traurigen Nest von Pasing hinausgelockt und ihn dort in ein kleinbürgerlich häusliches Behagen eingesponnen hatte? In jeder Berührung ihres Mannes mit der großen Welt barg sich Sie Gefahr für sie, er könne ihr entgleiten. Gewiß, sie war eine in ihrer engen Weise brave Frau, eine Musterfrau für einen Kaufmann und Beamten. Für Toni als Künstler aber paßte sie nun einmal nicht, Toni als Künstler hatte sie in voller Unschuld um das Beste des Lebens betrogen, zu allem Anfang schon und später immerfort. Betrogen hatte sie ihn um die Atemluft, eben die Luft der großen Welt, in der allein ein Künstler auch Großes vor sich zu bringen fähig ist, weil er nur dort die Quellen rauschen hört, aus denen das neue Werden strömt, betrogen hatte sie ihn zu schlimmerletzt um seinen Anspruch auf eine feinfühlige, verständnisvolle Gefährtin, wie sie ein jeder wahre Mann braucht, damit sein Dasein sich erfülle und vollende: die Gefährtin, die seinen Geist beschwingt, statt ihn zu hemmen. »Hab' ich nicht recht?« so wendete sich Annastina, auf einmal stehenbleibend, an Toni und blickte ihm mit ihren rätselgrünen Augen herzlich durchdringend ins Gesicht.
»Wie Sie das alles aber so genau wissen können!« murmelte er in einem fast andächtigen Staunen.
»Das wußte ich schon früher«, gab sie mild und wie verträumt lächelnd zur Antwort. »Lange, bevor ich Sie zum ersten Male sah. Gefühlt hab' ich es, aus jedem Ihrer Bilder. Denn hinter dieser Spaßmachergebärde, diesem manchmal grausamen Hohn sah das doch immer hervor: die Klage eines vom Leben sehr Enttäuschten, unendlich Einsamen«.
Toni war von der Fülle an Weltschmerz, die sie in seiner ironischen Mythologie entdeckte, vielleicht ein wenig überrascht. Doch welcher Künstler läßt sich nicht gern für tiefer ansehen, als er selbst geahnt hat. Er glaubte ihr also aufs Wort, was sie in ihn hineingeheimniste. Und das übrige tat die Stimmung dieser Nacht. Wie sie dann langsam weiterschritten, begann sie ihm das neue Leben auszumalen, das ihm an ihrer Seite für die stumm verschluckten Leiden entschädigen würde. Und hier sparte sie mit den lichten Farben nicht. Die schönste Jakobsleiter baute sich in kühner Perspektive vor seinem geistigen Auge auf und führte geradeswegs bis in den Himmel.
»Ach, wär's erst bloß so weit!« warf er schwärmerisch dazwischen und stieß einen herzhaften Seufzer aus. Und sie verstand auch diesen Seufzer gleich.
»Ja, ja, ich weiß schon: Ihre Frau«, sagte sie sinnend. »Ich kenn' die Sorte Frauen. Sie haben nicht so viel Stolz, den Mann gutwillig freizugeben, der sie nicht mehr liebt. Ich weiß auch, leider, aus Erfahrung, was eine Scheidung vor diesen deutschen Gerichten zu besagen hat! Ohne ihr Einverständnis ist es gar nicht möglich. Und das zu kriegen, ach lieber Freund, es wird wohl ein Stück Arbeit. Nein, ich beneide Sie wirklich nicht darum. Vor sie hintreten und ihr das klarzumachen – sagen Sie ehrlich: trauen Sie sich überhaupt die Kraft zu?«
»Doch, doch!« rief er mit hastigem Eifer. Aber so ungeheuer sicher klang das am Ende nicht.
Da hatte sie einen klugen Einfall und hielt damit auch nicht hinter dem Berge: Ob es denn nicht besser wäre, wenn er zunächst überhaupt nicht hinführe, sondern ihr vorher alles schriftlich erklärte? Es war das erstemal in seinem Leben, daß Toni die Zumutung, er solle einen Brief schreiben, mit Beifall begrüßte. Jetzt erst erkannte er, wie vollkommen unmöglich es ihm gewesen wäre, dies alles Trautchen ohne Vorbereitung ins Gesicht zu sagen. Nicht eine Silbe davon hätte er über die Lippen gebracht. Wenn sie es aber schon zuvor wüßte, würde sie selber das Gespräch in Gang bringen, davon war er nur zu überzeugt. Dann hieß es also bloß noch, den Nacken steif zu halten. Und den Entschluß faßte er mit aller Bestimmtheit. Lächerlich machen wollte er sich weder vor Trautchen noch vor Annastina! Und Trost gewährte weiter eins: bis sein Brief hinkam und ihre Antwort wieder an ihn zurück, verging bald eine Woche. Um so lange also schob sich der Kampf Stirn gegen Stirn nun noch hinaus.
»Ja, es ist besser!« rief er. »Ja, ich schreibe! Gleich morgen! Aber, Annastina, bitte: jetzt, wo ich dableib', dürfen Sie deshalb net fort! Gel?«
Sie sträubte sich zuerst mit einiger Koketterie. Doch sagte sie schließlich ja; das heißt: wenn er verspreche ... Nun, er versprach ihr natürlich wieder alles und noch einiges mehr. Zum Dank dafür redete sie ihm jetzt gut ermunternd zu. Es regle sich ja fast jedes Ding im Leben leichter, als man sich's beim Darangehen vorstelle. Er müsse Trautchen bloß das Ganze nun auch richtig schreiben: so und so und so ... Daß eben nicht mehr und nicht weniger als seine menschliche und künstlerische Zukunft daran hänge. Du lieber Himmel, schließlich hege niemand die Absicht, sie ungerechterweise zu verkürzen. Materiell könne er ja nach ihren Begriffen glänzend für sie sorgen. Und was die Hauptsache sei: ihr bliebe doch das Beste, ihr Kind. Bei diesem Wort stieß Toni auf einmal einen kurzen Laut hervor, erschrak aber gleich selbst darüber und konnte ihn gerade noch zur Hälfte verschlucken.
»Nein, Gwinner!« rief Annastina lebhaft. »Das können Sie ihr nicht antun! Darauf hat jede Mutter, und mag sie sein, wie sie wolle, ein heiliges Recht!«
Er wehrte müde mit der Hand ab. Es fiel ihm gar nicht ein, zu widersprechen. Daß Trautchen den Buben nicht hergeben würde, soviel konnte ihm selbst wohl klar sein.
»Ist Ihnen dies Opfer zu groß? Dann sind Sie selbstverständlich frei«, erklärte Annastina edelmütig.
»Nein, nein doch, Annastina! Aber ...«
Sie streichelte ihm sanft den Arm und hatte linde Worte des Trostes. Der Junge könne sie ja oft besuchen. Dann solle er in ihr die zweite Mutter finden. So, wie sie hoffe, daß Toni ihren Töchtern nicht das sein werde, was man einen Stiefvater nennt. Er würde sich sicher ausgezeichnet mit ihnen stehen: als guter, fröhlicher Kamerad, wie sie ihn kenne.
»Die beiden Blonden!« sagte sie voll Herzlichkeit. »Sie sind sehr fein und eigenartig, schon richtige kleine Menschen. Ach, unsere Kinder überhaupt! Ihr Männer könnt das ja gar nicht so verstehn. Ich bin aber eine Mutter und brächte es darum niemals übers Herz, einer andern Mutter etwas zuzumuten, wogegen ich selbst mich wie eine Löwin wehren würde. Und wenn ich nicht glaubte, es wäre zum Glück der Kinder, ich sag' es ehrlich, Gwinner: niemals würde ich dann Ihre Frau. Überhaupt: Sie dürfen zusehn, daß Sie den beiden Blonden gefallen! Auch davon hängt es ab. Nicht nur bei meiner Mutter, auch bei ihnen müssen Sie um mich werben. Ihr Jawort ist es, was zuletzt entscheidet.« Dies brachte sie in einer anmutigen Mischung zwischen Scherz und Ernst hervor.
Eigentlich erschien Tonis gesunder Bauernvernunft diese Idee, die Kinder könnten ihm einen Korb geben, ein bißchen überspannt, obgleich dem fraglos ein schönes Gefühl zugrunde lag. Na aber, reizende Kerle waren sie einmal gewiß, die Töchter dieser Frau. Er nahm sich fest vor, daß sie bei ihm den rechten Vater nicht entbehren sollten. Trotz alledem: das Michele! Da würde er sich hart tun! Zum erstenmal in dieser Nacht geschah es, daß Annastina seine trübe Miene falsch auslegte.
»Kopf hoch, mein Freund!« sagte sie lächelnd. »Das ist nun mal nicht anders: hinein in eine verfehlte Ehe kommt man leichter als wieder draus heraus! Nein, nein, ihr Männer! Ich begreif' es nicht, wie Sie sich so harmlos konnten fangen lassen!« Das brachte sie in einem Ton hervor, daß der starke Mann sich der Naivität seiner grünen Jahre bis in den Grund der Seele schämen mußte. Um sich in ihren Augen wieder halbwegs zu rehabilitieren, vielleicht auch, weil er gern auf andere Gedanken kam, vergaß er jede Diskretion und schilderte, in zarten Andeutungen bloß, versteht sich, sein Abenteuer droben am Aufacker, damals auch in so einer Mittsommernacht. Nun ja, man hätte sich halt fortreißen lassen. Und dann natürlich ... Net wahr? Annastina war starr.
»Ja, ist das möglich?« rief sie mit einem schneidenden Auflachen. »So hat sie das gemacht! Sich Ihnen an den Hals geworfen und nachher die Rechnung präsentiert!«
»No, daß das Spekulation von ihr gewesen is, glaub' ich zwar net; das war schon ...«, so suchte Toni die überraschend drastische Wirkung seiner Worte zu dämpfen.
»O Gwinner!« Sie lächelte, beinah gerührt von Mitleid. »Also noch heute! Wo Sie sich doch so lange kennen! – Na ja, ein bißchen spricht wohl auch die liebe männliche Eitelkeit mit herein. Aber ich sag' nur: diese Frau! Echt ist das aber! Mein Gott, welch eine Welt! Nein, diese kleinen unschuldigen Bürgermädchen! Von denen kann man wirklich noch was lernen!«
Er schwieg geniert und wünschte sich, er hätte lieber von Anfang an den Mund gehalten. Auch sie sagte nichts mehr und staunte nur immer kopfschüttelnd weiter vor sich hin. Es fröstelte sie augenscheinlich bei dem Gedanken an Trautchens eiskalte Raffiniertheit: zusammenschauernd schmiegte sie sich dicht an Toni, als wolle sie da Wärme suchen. Wenn es dabei verteufelt warm zu werden anfing, das war er. In diesem langen, schwülen Schweigen gewann auch die Phantasie solch einen weiten Spielraum. In immer verlockenderem Lichte zeigte sich ihm der Entschluß, wieder einmal auf Gedeih oder Verderb die Trense zwischen die Zähne zu nehmen. Bloß, er getraute sich's nicht recht und schielte zweifelnd zu ihr hinüber. Schließlich setzte er sich eine Frist: er nahm sich vor, jetzt noch bis zehn zu zählen, und dann ... Da wollte es das Schicksal, daß sie, gerade bei der Ziffer Sechs, aus dem Baumschatten in die Mondhelle des freien Platzes vor dem Schusterhäuschen traten. Im gleichen Augenblicke fuhren sie beide jäh zusammen, und die ganze Stimmung war wie abgeschnitten: Spitzel hatte ein infernalisches Gekläff erhoben und zerrte mit einer Wut an seiner Kette, daß es ihn auf die Hinterbeine emporriß und einfach nur um sich selber drehte.
»Was hat der Hund? Er bellt sonst nie«, sagte Annastina und hielt sich die Hände vor die Ohren.
»Tja ... Ja ...?« stammelte der starke Mann. »Und heute bellt er«, fügte er hastig und in einem so auffälligen Tone größter Ahnungslosigkeit hinzu, daß sie ihm unwillkürlich prüfend in die Augen sah. Er holte verlegen zu einer erläuternden Armbewegung aus, packte aber plötzlich ihre Hand, schüttelte sie mit krampfhafter Innigkeit und drückte einen heißen Kuß daraus. »Dank, Annastina, Dank für alles! Ich ... Auf morgen also!« Damit riß er sich los und machte sich zügigen Schrittes davon.
Erstaunt schaute sie hinter ihm her. Doch als er verschwunden war, nickte sie in einem linden, leis gerührten Verstehen.
»Du lieber, dummer Bär!« flüsterte sie zärtlich. Sie hatte ihn wirklich gern. Dann ging sie auf das Haus zu, vorüber an dessen treuem Wächter, der nach dem Verschwinden des bösen Feindes Ruhe gab und nur noch hie und da halblaut ein kurzes mißtrauisches Blaffen hervorstieß.
Während sich Annastina in ihrem Schlafgemache langsam entkleidete, zog sie, wie das ihr großer Vater sie einst gelehrt, mit unbarmherziger Ehrlichkeit die Bilanz ihres Tages. Der Abschluß war gut, sie durfte zufrieden sein. Sie hatte das vorgesteckte Ziel erreicht, aber das bedeutete ihrer aufs Innerliche gerichteten Natur nicht die Hauptsache. Die Menschlichkeit vor allem! hieß Bengt Nordlinds Wahlspruch. Andere Frauen würden, wo es sich um ihre Liebe und ihr eignes Glück handelt, kaltblütig über Leichen gehen. So etwas lag ihr fern. Nein, welches nachsichtige Verständnis sie heute jener Person bewiesen hatte, von der ihr erst vor wenig Tagen so Empörendes widerfahren war! Wahrhaftig: von niedrer Rachsucht fühlte sie sich in einem Grade frei, daß sie sich selbst nur darüber wundern konnte. Und ihre beiden Blonden – war sie ihnen nicht eine seltene Mutter? Ja, ja, die durften froh sein! Und Toni auch! Was für ein ganz andrer Mensch er werden würde in dieser Ehe, was für ein Künstler!
Fast wollte sie es bedünken, als müsse sogar Trautchen froh sein. Wenn sie nur einen Funken von selbstloser Liebe zu ihrem Mann besäße! Aber Annastina war nicht die Frau, sich über andre naiven Täuschungen hinzugeben. Von der platten Gewöhnlichkeit konnte sie soviel Seelengröße ja auch nicht erwarten. Sie wußte schon: noch hieß es, Kämpfe zu bestehen, und keine leichten. Doch fühlte sie sich guten Mutes. Dies Glück war ihr das Schicksal endlich schuldig. Seit vielen Jahren hatte es ihr nichts als Enttäuschungen und Leid gebracht. Sie wußte wirklich nicht, wodurch gerade sie sich solch ein Los verdient habe. Nein, immer würden nicht die Schlechten triumphieren; es gab noch eine irdische Gerechtigkeit!
Hart, schmal und dürftig war ihr Lager in diesem armen Häuschen. Sie hatte oft darauf gescholten; heut spürte sie es gar nicht, und der Schlummer entrückte sie schnell aus allem Zukunftsplanen ins weite Reich des Unbewußten, wischte jedes Fältchen des Grübelns und der Spannung aus ihren Zügen, goß anmutreichen Frieden reinster Kinderunschuld über sie. So sanft und ruhig atmend schläft nur, wer sich unverbrüchlich auf dem Pfad des Guten weiß.
Da nun das Bellen hinter ihm verstummt war, zügelte Toni seinen Schritt. Auf einmal machte er völlig halt und lauschte. Wie still, wie über alle Begriffe still die Nacht war: er meinte förmlich sein Blut wallen zu hören. Ein flüchtiges Lächeln spielte um seinen Mund, um seine Augenwinkel, und schwand und räumte den Platz einem guten, hellen Ernst. Jawohl! Er nickte stark bekräftigend und setzte von neuem langsam Fuß vor Fuß. Jetzt wußte er erst, wohin so unruhig zitternd seine innere Kompaßnadel gezeigt, wonach ihm die nimmermüde Sehnsucht gestanden hatte alle die Jahre. Zu früh, beinahe um ein ganzes Leben zu früh, war er vor Anker gegangen im faulen Brackwasser des Hafens. Doch noch war Zeit, er hißte seine Segel zu neuer großer Fahrt: Von seligen Inseln in der Ferne orgelten die Stimmen der Tiefe unterm Kiel. Die Stimmen trogen nicht. Und sollten sie selbst trügen, und gab es draußen nichts als Meer und Himmel, Sturm und Wasserwüste: im Fahren liegt das Glück.
Halt, was war das! Es riß ihn mitten aus dem Traum. Und wieder blieb er stehn und horchte, mit vor Aufmerksamkeit gerunzelten Brauen und schief zur Seite gedrehtem Kopf. Nein, er hörte nichts. Ja, aber da! Er starrte auf die beschattete Granitwand: plötzlich schwankte dort, wie aus dem schwarzen Nichts entsprungen, ein kleiner blasser Lichtfleck, in dem ein sonderbares Kochen und Sichgebären wirkte. War die Erscheinung zuerst nur dem tastenden Schimmer eines Blendlaternchens gleich gewesen, so lockerte sie sich nun zum mondbestrahlten Nebelwölkchen, schoß jetzt zu scharfbegrenzter Form zusammen, und jetzt ...!
»Nein!« sagte Toni laut, warf, um sich zu erwecken, die eine Schulter heftig zurück und ließ die Fingerspitzen fest über seine Lider gleiten. Als er sie wieder ausschlug, war alles Ungewöhnliche verschwunden. Einbildung der überreizten Phantasie! Was denn auch sonst? Das fehlte auch noch, daß er, Toni Gwinner, sich aus seine alten Tage mit Halluzinationen und Gespensterseherei befaßte.
Was war dies aber anders als ein Zeichen, wie schwer er sich von seinem Buben trennte, wie sauer es ihm fiel, hinfort in Micheles Augen nicht mehr als das fröhlich bewunderte Ideal mannhafter Vollkommenheit, sondern sozusagen als schlechter Kerl, als windiger Durchbrenner, als pflichtvergessener Vater dazustehn! So würde ihn Trautchen ganz gewiß betrachten; und abfärben würde ihre schlechte Meinung unwillkürlich auf den Sohn. Weil Toni daran nicht zweifeln durfte, nur deshalb hatte er sich ja Micheles Gesicht jetzt eben so stark vorgestellt, daß er es für eine Sekunde leibhaft zu sehen meinte, ihm wohlbekannt und fremd zugleich, mit diesem neuen, sonderbar unjungen Ausdruck, darin sich Trauer, Staunen, Enttäuschung und Verachtung mischten. Ach ja, umsonst wird einem halt auf dieser Erde nichts geschenkt, für jeden Gewinn heißt's aus der andern Seite Opfer bringen. Doch gleich beschlich ihn Scham ob solcher billigen Lebensweisheit. Er fuhr mit vollen Segeln nach seinem Glücke aus; und die er einsam am Ufer zurückließ, sein Weib, sein Kind, die waren es, denen hier Opfer zugemutet wurden.
Mit scharfem Ruck warf er den Kopf dann ins Genick und dachte trotzig: Nein, die Sentimentalitäten dürft' ich mir wirklich schenken! Trautchen? Is sie denn so gefühlvoll? Und eine, die ihr ganzes Leben auf das falsche Rechenexempel aufbaut, ich wär' bloß eine Null, und net ein Einser, die darf sich net gar so beklagen, wenn es zum Schluß net stimmt. Ja mei, der Bub', natürlich nimmt er jetzt die Partei der Mutter, und ich bin halt für ihn der Schuft und Lump. Aber er wird einmal ein Mann und urteilt selber. Was hätt' er schon davon, wenn er mir beim langsamen Vertrotteln zuschaun dürft'! Und ob's ihn dann net besser freut, wenn er sich sagen kann: Mein alter Herr, ein Tugendspiegel war er net, der Mutter is er durch, aber gekonnt hat er verflucht was und geleistet! So ließ sich Toni von der gefälligen Logik ganz ernsthaft überzeugen, ein Vater tue in allem Wesentlichen seiner Elternpflicht genug, wenn er recht schöne Bilder malt.
Den Rest von Mißbehagen, der unter diesen Erwägungen noch immer heimlich auf der Lauer blieb, schlug er beherzt in die Flucht, daß er sich helle Zukunftsbilder vor Augen zauberte.
»Hab' ich ein Glück! Wird das ein Leben!« flüsterte er sich selber mit fast beschwörender Eindringlichkeit zu. Und gleichsam kopfüber stürzte er sich in den Entschluß, nicht eine Stunde mehr zu warten. Sobald er heimkam, gleich schrieb er an Trautchen! Bevor dies harte Stück Arbeit hinter ihm lag, war es ja mit dem Schlafen doch nichts Rechtes. Sich bis zum hellen Tag im Bette wälzen und in Gedanken Briefe schreiben, nein, der Trottel war er nicht! Was einer heute tut, darf er sich morgen sparen. Und für morgen wußte er sich reizvollere Geschäfte. Mit langen Schritten, denn es eilte ihm plötzlich, ging er weiter; und um sich selber seine Festigkeit so recht sinnfällig zu machen, trampste er lärmend auf. Tap, tap, tap, tap, das sollte sagen: Platz gemacht; diese zwei Füße kennen ihren Weg!
Tap, tap, tap, tap, klang es im gleichen Takte von der Felswand wider, unübertönbar, immer noch um ein kleines Heller und schärfer als der Menschentritt. Toni wollte jetzt keine romantischen Philosophastereien mehr damit verknüpfen: ein lumpiges Echo war das, weiter nichts! Und dennoch übersetzte sich ihn, der stete Ton zuletzt in Worte: Tap, tap, tap, tap. Dein Weg? Bild dir nichts ein! Den Weg des Schicksals gehst du. Schmeichlerisch drohend streckte sie wieder die Hände nach ihm aus, die Stimmung dieser Nacht, zeigte sie ihm in Dunst und lichtdurchsickertem Dämmer die Unendlichkeit der Welt, ließ ihn sich selber als verlornes Sandkorn in der Wüste fühlen, winzig und einsam unter Milliarden, kraftloser Raub der windbewegten Luft. Aber er riß sich aus der tückisch einlullenden Weichheit empor. Der Weg des Schicksals? Mochte es denn der Weg des Schicksals sein! War Willensfreiheit etwas andres als ein Wort! Und doch: sein Schicksal, wenn es kommt, erkennen, sein Schicksal wollen, das ist freie Mannestat!
»Annastina!« Er sprach den Namen wie eine Zauberformel aus, die Berge sprengt und alle Türen öffnet.
Kaum in zehn Jahren sonst hatte Toni so viel Briefpapier verbraucht wie heute nacht in den drei, vier Stunden. Immer wieder schien es ihm so nicht recht, und er zerriß den Bogen, den er gerade erst in bittrer Arbeit mit den schön geschwungenen Lettern seiner nicht eben kuranten Schrift bedeckt hatte. Bis es ihm schließlich zu dumm wurde und ihm die Erleuchtung aufging, daß alles Bemühen, die Sache Trautchen mundgerecht zu machen, doch ganz umsonst war. Zum Teufel mit den pflaumenweichen Redensarten und dem Appelieren an ihre schöne Seele! Maulspitzen tat's hier nicht, es mußte gepfiffen sein! Er tunkte die Feder heftig ins Tintenfaß, und siehe: nun flutschte es endlich! Die Gedanken strömten ihm nur so zu und verketteten sich ganz von selber zum schlüssigen Beweis, genau, als stünde irgend ein unsichtbarer Einbläser hinter ihm. Es fiel ihm weiter gar nicht auf, daß dieser dienstbare Geist niemand andres war als sein Gedächtnis, und daß er einfach wiederholte, was er vor einer kleinen Weile von einer klugen Frau sich hatte auseinandersetzen lassen. Er brauchte das nur in sein doch immerhin abweichend geartetes Deutsch zu übertragen. Freilich verwendete er auch darauf in der Eile nicht viel Sorgsamkeit, und so standen mancher Satz, manche gehobene Wendung etwas fremd in ihrer Nachbarschaft. Ihm aber imponierten diese eingestreuten Perlen ganz besonders, als er die sechzehn Seiten zum Schluß noch einmal überlas. Er wußte wirklich nicht, weshalb er immer der Meinung gewesen war, er habe zum Briefschreiben kein Talent. Jedenfalls: den Brief hier sollte ihm nur einer nachmachen! Der hatte Hand und Fuß. Es war alles darin gesagt, und gut, teilweise sogar schön, gesagt.
Wie er nun aber die Blätter faltete und sie ins Kuvert schob, starrten seine Augen aus einmal wieder sinnend ins Leere, und seine Brauen runzelten sich. Trautchen natürlich, an die waren die Feinheiten dieses Schreibens wohl verschwendet. Und Schmeicheleien standen für sie am Ende auch keine drin, trotzdem er sich bewußt war, daß er ihr in allem, wo er's mit gutem Gewissen konnte, vollste Gerechtigkeit hatte widerfahren lassen. Was half's! Sie würde einfach toben, da traute er sich zu wetten!
»Na tobt sie!« sagte er plötzlich laut, sehr grimmig und entschlossen. Es war vielleicht am besten so. Womit denn sonst hatte sie ihn alle die Jahre listig ums Fingerl gewickelt als mit dieser vermaledeiten falschen Süßigkeit! Dem vermochte er schlecht zu widerstehen. Kam man ihm aber dumm, dann lernte man ihn von einer andern Seite kennen! Bitt' schön, sie tat ihm selber den größten Gefallen, wenn sie den bayrischen Zorn in ihm zum Aufbegehren brachte! Nur zu! Nur ungeniert! Er hatte wahrhaftig keine Angst!
Ob wohl den starken Mann eine schamhafte Ahnung davon beschlich, daß sich der Waffen, auf die er sich verließ: Grobheit und Brutalität, gerade die Schwachen aus seinem Geschlecht mit Vorliebe zu bedienen pflegen? Er mochte vielleicht so sein. Wenigstens zögerte er, nachdem er den Kleberand der Umschlagklappe schon angefeuchtet hatte, noch einen Augenblick. Aber, zum Kuckuck, nein: der Brief war gut so! Und es hatte auch gar keinen Zweck, ihn morgen früh bei Tage noch einmal durchzulesen. Schluß endlich jetzt damit! Er pappte ihn zu und donnerte besiegelnd mit der Faust darauf. Dann erhob er sich und reckte die Arme mächtig. So! Und jetzt ins Bett!
Als er das Licht gelöscht und sich zum Schutz gegen die äußerst munter gewordenen Fliegen das Laken über seinen Kopf gezogen hatte, kam die Befriedigung über ihn, die ein Mensch genießt, der ein lästiges, langwieriges Werk glücklich vollbracht hat. Nun ist der schwerste Schritt getan! behauptete er voll ruhiger Zuversicht. Und Annastina wird sich freun! fuhr er mit weicher Rührung fort.
Jawohl, es war ein großer, wichtiger Schritt, ohne Übertreibung der wichtigste seines bisherigen Lebens. Und als wolle er sich jeder Einzelheit dieses historischen Vorgangs für immer ins Gedächtnis prägen, stellte er sich das alles noch einmal vor Augen: er sah sich selber, wie er am Tische saß und schrieb, er sah die Wand, auf der seine Blicke überlegend geruht hatten, mit ihrer banalen, in einer abstechenden Farbe vielfach gestickten Tapete, er sah Trautchens hübsches Reisetintenfaß, ihren in seiner Hübschheit ein wenig dilletantischen Onyxfederhalter, sah die flackernde Kerze auf dem Schiebeleuchter aus graugewordenem Weißblech. Gerade diese dünne, halb durchsichtige, fein geriefte Kerze, die schief niederbrannte, und an der opalweiße tröpfelnde Paraffinstalakiten hingen, hypnotisierte ihn förmlich durch ihr im Geist zurückgerufenes Bild; sie sah er deutlich, bis zuletzt alles von einem träge brodelnden Dämmern überkrochen und verschlungen wurde.
»Kikeriki!« so krähte draußen der heisere alte Haushahn den rot im Osten emporsteigenden Morgen an. Er krähte tauben Ohren: Toni schlief wie ein Holzknecht, der zwölf Stunden rechtschaffener Arbeit hinter sich gebracht hat, schlief sanft und traumlos in den hellen Tag hinein.