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Der starke Mann trat in den Sonnenschein hinaus und machte sich auf den Weg nach dem Schusterhäuschen. So stand er jetzt wohl mit Annastina, daß er sie ruhig zum Essen abholen durfte. Es war gerade die Zeit dazu; den Morgenkaffee hatte er glücklich verschlafen. Er schlenderte ohne Hast dahin, köpfte hier und da mit einer entblätterten Weidenrute einen Löwenzahn und summte sich ein Liedchen, um sinnfällig zu beweisen, wie guten Mutes er sei. Denn so lächerlich er das auch fand, und so wenig er sich das geradezu eingestehen mochte: sein Brief, dieser verflixte Brief an Trautchen, brannte ihm heftig in der Tasche.
Plötzlich erhellte sich sein Gesicht: als hätte Annastina sein Nahen gefühlt, kam sie ihm schon ein Stück vor ihrem Haus entgegen; sie lächelte sonnig und reichte ihm die Hand zu gut kameradschaftlichem, darüber hinaus jedoch insgeheim noch eine ganze Menge sagendem Druck. Für seinen feurigen Handkuß ließ sie ihm gerne Zeit. Wie er dann aber nach einem behutsamen Rundblick den Arm um ihre Taille legen und diesen Kuß auf ihren Lippen eine Fortsetzung geben wollte, wurde ihm das verwehrt.
»Nicht, Gwinner, nicht! Sie wissen: hübsch artig sein ist die Parole und die Bedingung, unter der ich bleibe!«
»No, Annastina!« bat er, und es fiel ihm ein, wie sehr er sich heute nacht für sie geplagt hatte; das war nun sein Lohn! Mit leis gekränktem Pathos in der Armbewegung zog er das Dokument heraus und hielt es ihr stumm eindringlich unter die Augen.
Sie las die Aufschrift und schlug vor freudiger Überraschung die Hände zusammen. Sie sagte ihm und zeigte es ihm unumwunden, daß sie ihm dafür so recht von Herzen zugetan war. Im Weitergehen hängte sie sich sorgsam in seinen Arm und schmiegte sich zärtlich vertrauensvoll an ihn. Da fühlte sein Gewissen sich auf einmal frei und rein. Der Brief bedrückte ihn nicht mehr, wußte er doch, warum er ihn hatte schreiben müssen, und daß damit eine gute Tat vollbracht war. Es machte Annastina glücklich; und dies wog mehr als Trautchens Zorn, selbst als die Ungnade Micheles.
Als sie, nun wieder einen korrekten Schritt Abstand zwischen sich, vor dem Hotel anlangten, strahlte ihnen Philipp Ladurner in seinem feinsten Sommersonntagsglanz entgegen. Er schwang schon von weitem den Panama und zeigte lächelnd seine hübschen Zähne.
»Wie der heut ausschaut!« flüsterte der starke Mann voll Bosheit. »Da müßt' ja einem Menschenfresser das Wasser im Maul zusammenlaufen: so appetitlich und so gut im Fett!«
Der Dichter begrüßte Annastina lebhaft mit der ihm eigenen, ein wenig biedermeierisch gespreizten Herzlichkeit. Toni hingegen schien er genau so anzusehen, wie der ihn ansah: als eine recht überflüssige Zutat zu der schönen Frau.
»Ah, Herr Ladurner!« sagte diese freundlich. »Nun, und die Frau Gemahlin? Noch nicht da?«
»Nein, nein, sie kommt heut nicht zu Tisch – sie hat entsetzliche Migräne!« antwortete Philipp und machte ein glückstrahlendes Gesicht. Britas Verhinderung kam ihm offenbar gelegen. Jedenfalls begann er jetzt die Qualen, die sie bei diesem Zustand zu erdulden hätte, mit behaglicher Breite und der ganzen Phantastik, die ihn auszeichnete, zu schildern. Dem starken Manne, der es gewohnt war, von allem, was sein lyrischer Freund erzählte, kühl im vornhinein neun Zehntel abzuziehen, wurde dieser Krankheitsbericht bald langweilig. Er hörte nur noch mit halbem Ohre zu und versank in seine eigenen Angelegenheiten.
Ach ja! dachte er plötzlich; seine Hand schob sich in die linke Seitentasche seiner Jacke und tastete dort über etwas Kühles, Glattes hin. Unvermittelt drehte er sich kurz auf dem Absatz um und verließ die beiden ohne ein Wort der Erklärung. Während er die Stufen zur Veranda hinaufstieg, zog er das inhaltsschwere Kuvert ans Licht und zeigte es nicht etwa heimlich Annastina, sondern ließ sie es nur sehen. Genau so verschwiegen gab sie ihm, dieweil sie lebhaft auf Philipp einsprach, durch ein sehr leises, trotzdem sehr ausdrucksvolles Senken der Wimpern kund, daß sie sein Vorhaben wahrnahm und freudig billigte. Und nun stand er droben vor dem Briefkasten. Der hatte gar nichts Feierliches, war er doch bloß eine ganz gemeine Pappschachtel mit einem nachlässig geschnittenen Schlitz im Deckel. Dennoch fühlte Toni die Minute des Schicksals bis in die Nervenspitzen. So, jetzt schaute zwischen seinen Fingern nur noch ein kleines weißes Dreieck aus dem Spalt hervor. Nach einem letzten Zögern ließ er los.
»Platsch!« sagte es da drinnen. Mit diesem ironisch gefärbten Laut der Überraschung begrüßte der Brief eine Postkarte, auf die er im Fall zu liegen kam und die ihm, wie er sogleich bemerkte, während der ganzen Reise treulich Gesellschaft leisten würde. Tonis Ohren waren wohl zu stumpf, um dieses belustigte »Platsch!« nach seinem wahren Sinne auszufassen; was er heraushörte, hatte den Klang eines erleichterten Seufzers und sagte sehr zufrieden: »Schluß!«
Bei Tische unterhielt sich Annastina wieder viel mehr mit Philipp als mit Toni. Hatte das diesen aber schon gestern kaum beirrt, so scherte er sich nun ganz einfach den Teufel darum. Mochte der wohlbeleibte kleine Mann sich ruhig in dem Wahne wiegen, sein glücklicherer Rivale zu sein! Freilich, für später lag ihm schon daran, den Menschen wegzuekeln. Aber wie? So furchtbar einfach war die Sache sicher nicht. Hurra, das ging! In einem Ton, als setze er damit ein vorhin unterbrochenes Gespräch fort, sagte der starke Mann plötzlich:
»Und also, gnä Frau, dann bleibt's dabei: heut nachmittag wird fest Porträt gemalen, gel?«
Sie sah belustigt auf und nickte dann ernsthaft und sachlich.
»Sie wollen sich von ihm malen lassen?« rief der Dichter und hielt das offenbar für eine ganz perverse Idee.
»Natürlich nur, wenn du nix dagegen hast?« erläuterte Toni.
»Ja, glauben Sie denn, daß er das kann?« erkundigte sich Philipp, ordentlich besorgt.
»Jawohl, reg dich net auf und gib dir keine Mühe!« erwiderte der starke Mann mit sanfter Heiterkeit.
»Toni, du weißt, wie sehr ich deine Bilder schätze.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Aber sieh dir Frau Nordlind an! Wie in dem Gesicht alles auf Feinheit, auf die Nuance gestellt ist! Es würde mich für dich natürlich nur ungeheuer freuen, wenn du das herausbrächtest. Denn, das gibst du wohl zu, es wäre einmal ganz was andres. Du, Toni, weißt du was: laß mich dabei sein, wenn du malst! Ich glaube, ich seh' da mehr als du und kann dir manches sagen.«
»Ausgeschlossen, lieber Freund! Seh'n muß ich es schon selber, und Pinsel hab' ich auch ohne dich genug.«
– So, das war deutlich! dachte Toni. Aber leider glitt es an Philipp ohne Wirkung ab. Er steckte sich hinter Annastina, und da sie die Bemühungen, ihn loszuwerden, wohl nicht gar zu verdachterregend unterstützen mochte, bekam er Oberwasser. Der starke Mann durfte sagen, was er wollte, er mußte sich schließlich fügen. Das tat er jedoch nur scheinbar. Die Porträtsitzung hatte plötzlich jeden Reiz für ihn verloren. Er brütete über neuen Listen.
Als sie nachher auf dem Siestaplatz im Freien Kaffee tranken, bemerkte Toni, daß sich ein sehr frisches Lüftchen erhoben hatte. Die Blätter der Bäume und Sträucher flatterten alle lebhaft nach einer Richtung und wisperten erschrocken; das Wasser zeigte weiße Schaumköpfe, und man hörte es mit starken, halb ineinander verschwimmenden Schlägen orgelnd ans Ufer branden. Nach einem pfiffigen Seitenblick auf Philipp sprach der starke Mann also zu Annastina:
»Jetzt horchen Sie mal zu, gnä Frau: Porträtmalen kann man ja jeden Tag. Aber so einen guten Wind zum Segeln hat man selten. Wir wollen schon alleweil einmal nach der Leuchtturminsel, von der man abends immer die zwei Lichter sieht. Hätten Sie Schneid daraus?«
»O ja, warum nicht!« erwiderte sie.
»Das wär' ein Unsinn und ein Leichtsinn!« mischte sich hastig der Dichter ein, »Der Wind ist viel zu stark.«
»Mußt ja net mit, wenn du dich fürchtest«, sagte Toni ruhig.
»Ich mich fürchten? Lieber Toni, das glaubst du ja wohl selbst nicht! Ich mein' nur: wegen der gnädigen Frau!«
»Laß das doch ihre Sorge sein! Net wahr, gnä Frau?«
»Oh, ich«, antwortete Annastina, »ich bin als kleines Mädchen schon bei jedem Wetter gesegelt. Mein Vater wußte sich nichts Schöneres als solche Fahrten.«
»Es gibt hier zwischen den Schären auch soviel Unterwasserklippen«, wendete Philipp ein.
»Auf die fahren mir halt net drauf, sondern hübsch drum rum«, tröstete Toni. »Und Ertrinken soll ja auch der angenehmste Tod sein.«
»Red doch nicht so frivol!« rief der Dichter, heimlich zusammenschauernd. »Es ist ja auch nicht das. Wer spricht denn vom Ertrinken! Aber ... Sag, Toni, kannst du heut eigentlich gut auf so lange fort? Ich denk', du erwartest ein Telegramm von Trautchen, wie es dem Michele geht?«
»Was du nur hast!?« wetterte der starke Mann ärgerlich los. »Trautchen is gestern abend in Pasing angekommen. Wenn das wahr wär', hätte ich doch längst das Telegramm! Daß du dir bloß immer meinen Kopf zerbrechen mußt!«
»No, no!« begütigte sein Freund. »Weshalb regst du dich denn gleich so auf!«
Im Grunde wußte Toni selber nicht, warum er heftig geworden war.
»Ich rege mich ja gar net auf!« grollte er mit gedämpfter Stimme weiter.
»Und außerdem«, lenkte Philipp nun ab, »auch wegen Brita, wegen meiner Frau! Auf die Partie zur Leuchtturminsel hat sie sich so gefreut!«
»Da fahren mir ein andres Mal halt wieder! Die Insel läuft ihr net fort«, sagte der starke Mann. »Übrigens, es zwingt dich keiner. Net wahr, gnä Frau, Sie trauen sich wohl zur Not mit mir allein?«
»O ja. Und Carlsson ist ja dabei«, antwortete Annastina diplomatisch. »Vielleicht überlegt sich auch Herr Ladurner die Sache noch?« Dies faßte Philipp als eine dringende Einladung auf.
»Wer sagt denn, daß ich nicht mit will!« rief er feurig. »Davon ist keine Rede! Natürlich fahre ich mit!«
»Schau, schau, wie todesmutig!« spöttelte Toni. »No ja, dein Leben wirst du wohl versichert haben? Und Dichter, mei, auf einen Dichter ...! Es bleiben immer noch genug.« So trennte man sich denn, um sich fürs Segeln richtig anzuziehen.
Als die drei nach einer kleinen Stunde wieder vor dem Hotel zusammentrafen, nährte der starke Mann Boshaftigkeit in seiner Seele. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, Philipp die Fahrt doch noch zu verleiden, und wetzte darum seinen Schnabel in wenig liebevoller Weise an ihm. Da aber alle schnöden Witze und alle gruseligen Ausmalungen der bevorstehenden Gefahr nichts nützen wollten, sagte er zum Schluß in verdrossener Resignation:
»Na, worauf warten mir?«
»Ja ...« antwortete der Dichter, wie zerstreut; er schaute sich noch einmal um, als hoffe er, es möchte irgend etwas geschehen, was den nach seiner Ansicht ganz irrsinnigen Plan zunichte machte. Und einen Aufschub wenigstens schien ihm das Schicksal noch gönnen zu wollen. Man hörte Räderrasseln. Dort hinten bog um den Felsen der falbe Kopf des vielberedeten Gespensterpferdes, das im allgemeinen nur eingespannt wurde, wenn es galt, die Koffer von Sommerfrischlern zu befördern. »Ach?!« sagte Philipp, »Reist denn heut jemand ab? Oder sollte jemand kommen? Ist denn noch überhaupt was frei?«
»Nein, es reist schon einer ...«, entgegnete der starke Mann in plötzlich merkwürdig anders gewordenem Ton. Und dann stand für eine Weile ein Schweigen zwischen den dreien.
Der Wagen hatte ein paar Schritte vor ihnen haltgemacht, und ebenso die kleine Schar von Leuten, die ihm folgte. Sechs junge Fischer in ihrer dunkeln Sonntagstracht traten langsam an das Gefährt, hielten flüsternd eine kleine Beratung, sahen prüfend in ihre schwieligen Hände und packten zu. Die Arme rührten sich ihnen schwer und ungelenk vor frommer Sorgsamkeit. Denn was sie unter erregt hervorgezischelten Kommandos vom Wagen hoben, war eines kleinen Mannes billiger Sarg aus gelblackiertem Fichtenholz mit häßlichen silberbronzierten Schnörkeln als Zierat. Dann formte sich der Zug und schritt sehr langsam den Felsenpfad bergab zur Landungsbrücke, voran, hoch auf den Schultern der Träger schwankend, der Tote in seinem engen Haus, dahinter paarweis das Trauergefolge, viele von ihnen Kränze tragend. Ein ärmliches Begräbnis. Aber ein starker Hauch von Würde umwitterte die Armut. Und der strömte aus dem Wesen dieser Leute. Mit gesenkten Stirnen zogen sie vorbei, die Weiber unterm schwarzen Kopftuch, die Männer barhaupt, das helle Haar vom Wind gesträubt. Aller Augen waren, ohne den kleinsten Seitenblick abirren zu lassen, auf den rauhen Weg gerichtet, den ihre Füße gehen mußten, und sahen doch wie in das Grenzenlose. Nicht eines von den klar, herb, kantig geschnittenen Gesichtern zeigte den tränenseligen Schmerz, zu dem sich sonst Leidtragende um der andern willen verpflichtet fühlen; jedes war ganz zusammengerafft in einem tiefen, stillen Ernst. Es sprach daraus gestählte Kraft zu hartem Leben, Vertrautheit mit dem Tode, Religion.
Toni und Philipp nahmen hastig die Mützen ab. In den Mienen der drei trat zu der gefaßt teilnehmenden Kümmernis, die hier am Platze war, ein Ausdruck von Verlegenheit und jener unbewußten Scham, die solche von ihren Wurzeln geschnittene Weltkinder überrieselt, wenn sie zu Zeugen der ruhig großen Gefühle einfacher, bodenständiger Menschen werden. Sie hoben die Köpfe erst wieder, als die Tritte der schweren Stiefel schon zu Verhallen begannen. Auch jetzt noch schauten sie aneinander vorüber und fanden das rechte Wort nicht, das Schweigen zu brechen. Dann endlich fragte Philipp:
»Wer da beerdigt wird?««
»Wohl dieser Fischer«, erwiderte Annastina, »meine Wirtin hat mir davon erzählt. Er war ja geisteskrank; religiöser Wahnsinn, glaub' ich. Die andern wachten Tag und Nacht bei ihm. Und vor zwei, drei Tagen, wie die Wärter einmal nicht aufpaßten, hat er sich erhängt.«
»Gräßlich!« Der Dichter schüttelte sich in einem leisen Schauder. »Da kann einem wirklich die Lust zu einem Vergnügungsausflug vergehen!«
Toni machte sich selbst nicht klar, was eigentlich ihn an diesen Worten reizte. Er sagte höhnisch:
»Ein schlechtes Omen wohl für unsre hochriskante Fahrt, gel? Nein: abergläubisch bist du gar net!«
»Darüber sollst du nicht lachen, Toni!« antwortete Philipp fast feierlich. »Als Dichter spür' ich eben mehr als andre. Und wenn mir ein Leichenzug begegnete, hat das noch jedesmal bedeutet ...«
»... daß jemand gestorben war«, so schnitt ihm der starke Mann das Wort ab. »Und daß wir alle einmal sterben müssen. Na, bleib daheim und bind dir ein Plumeau auf deinen Kopf, daß dir am Land kein Ziegelstein ins Dach schlägt! Geh'n mir, gnä Frau?«
»Warten wir doch wenigstens, bis die da unten mit dem Toten fort sind«, wendete der Dichter ein. Und man verzog denn noch ein Weilchen, bis die drei Boote von der Brücke abgestoßen waren, das große, das den Sarg trug, und die beiden andern mit dem Gefolge. Von kräftigen Fäusten gerudert, stampften sie durch die Wellen und nahmen ihren Weg zur Kircheninsel, in deren Erdenschoß die Leute von diesen Schären alle einmal die letzte Reise führt.
Erst als der Zug drüben in der schmalen Wasserrinne verschwunden war, begaben sich die drei zum Landungsplatz, Toni sprang schnell in den Kutter und streckte von dort Annastina helfend die Hand entgegen. Während sie sie ergriff und ihm vorsichtig folgte, blieb Philipp oben stehen und musterte das ihm so wohlbekannte Fahrzeug mißtrauisch, als sähe er es zum erstenmal. Plötzlich deutete er in die Takelung und fragte Carlsson auf schwedisch, was denn das bedeute, und ob da irgend etwas nicht in Ordnung sei. Die Segel hätten doch eine ganz andre Form als sonst. Der Fischer gab lächelnd die Auskunft, es wären bloß Reffe drin, und anders ginge es bei dem Wetter nicht. Ja, ob man denn dann heute überhaupt zur Leuchtturminsel fahren könne? Zur Leuchtturminsel? Oh, das ginge schon. Warum auch nicht? Nun, weil man augenscheinlich Sturm bekäme. Carlssons klarblaue Augen wanderten prüfend gegen den westlichen Horizont und kehrten von dort zurück. Nein, Sturm, erklärte er, sei wohl kaum zu befürchten. Es gäbe sicher nicht mehr als eine tüchtige Mütze voll Wind.
»Gnädige Frau!« rief der Dichter, nun in deutscher Sprache, sehr aufgeregt. »Toni, hast du verstanden, was er sagt? Eine tüchtige Mütze voll Wind! Ich kenn' die Ausdrucksweise dieser Leute! Das heißt nichts andres als Orkan!«
»Windstärke vierzehn mindestens«, bestätigte Toni kaltblütig. »Das macht doch grade Spaß! Na, kommst du heut noch?«
Annastina blickte den Zaudernden lächelnd an. Carlsson, der trotz vollkommener Unkenntnis des Deutschen genau Bescheid zu wissen schien, verzog den Mund zu einem unverschämten Grinsen. Schon faßte des Dichters Hand an die Wanten, schon hatte er den einen Fuß erhoben, da ließ er plötzlich los und zog den Fuß zurück.
»Nein!« rief er. »Ich komme nicht! Und Frau Nordlind, Sie auch! Ich dulde nicht, daß Sie bei diesem Wetter segeln!«
»Weil sie dich schon um Erlaubnis gefragt hat!« spottete der starke Mann. Seine Finger lösten eilfertig das Tau, das um einen Pfosten des Stegs geschlungen war; zugleich hob er den Kopf auffordernd gegen den Fischer. Und dieser verstand ihn und handelte entsprechend. Der Kutter trieb langsam ab, sah einen Augenblick wie unentschlossen aus, legte sich plötzlich schräg und schoß davon.
Auf dem Kutter herrschte, nachdem das Schmunzeln über Philipp sich gelegt hatte, für eine Weile schweigende Geschäftigkeit. Der Weg zur Leuchtturmschäre führte in seiner ersten Hälfte um einen großen Teil von Koster herum; und zunächst galt es, gegen den Wind kreuzend den nicht sehr breiten Wasserarm zu durchschiffen, an dem die Badeplätze von Gwinners und Ladurners lagen. Die Ufergestaltung wechselte in einem fort; unregelmäßige Böen stürzten sich in die Segel. Da hatte Carlsson ein verzwicktes Manövrieren, und Toni half ihm dabei eifrig. Nachher aber kam man in freies Fahrwasser und hielt nun mit raumer Schoot geradeswegs auf das Ziel zu. Die Hände des starken Mannes durften feiern. Er setzte sich neben Annastina und begann ein munteres, beziehungsreiches Geplauder in Gang zu bringen. Man konnte zwanglos reden; der Fischer verstand zum Glück kein Wort davon.
Hier, wo der Felsrand die Brise nicht mehr hemmte, merkte man erst, daß es wirklich eine tüchtige Mütze voll war. Der Kutter lag ganz auf der Seite und schoß nur so dahin. Er schlingerte schwer; und wenn sein Bug von einem Wellengipfel ins Tal hinabstieß, sprühten unter dem harten Prall dichte Tropfengarben empor, die standen einen Augenblick in traumhaft flüchtigem Regenbogenglanze aufrecht; dann platschten sie mit kurzem, scharfem Wirbelschlag ins Boot. Als plötzlich die volle Wucht solch eines Gusses ihn und Annastina traf, wollte Toni die Lodenpelerine, die er über dem Mantel trug, durchaus um ihre Schultern hängen. Sie wehrte ihm; es entspann sich ein edler Wettstreit, und der führte schließlich aus ihren Rat zu einem Kompromiß, das ohne Frage seine Reize hatte. Der Wetterkragen war gottlob sehr weit und konnte bequem sie beide schützen, wenn sie nur dicht genug zusammenrückten. So machten sie es denn und knöpften sich mitsammen in das wasserdichte Zeug. Er hatte den Arm um sie geschlungen, seine andre Hand lag zwischen ihren Händen und ließ sich zärtlich streicheln. Wärme floß still von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. Zum ersten Male kosteten sie jenes vertraut zufriedene Schweigen aus, das zwischen Liebesleuten die beste Unterhaltung ist.
Der Meeresteil, den sie in schräger Fahrt zu überqueren hatten, glich beinah einem langgestreckten Binnensee. Ihnen zur Linken lag jetzt noch der Hochstrand von Koster, schlossen sich weiterhin andre bewohnte Inseln an; zur Rechten bildeten niedre Klippen gleichsam eine unregelmäßige, lockre Perlenschnur: das letzte Bollwerk, das den Schärenhof, dies Labyrinth aus Wasser und Granit, vom offenen Meere trennte. Draußen brüllte das Skagerrak; seine Wellen gischteten wütend über die flacheren unter diesen Felsen hinweg und ließen deren blanke Flanken nur hie und da flüchtig durch die Schaumschleier lugen. Auch von den steiler aufgetürmten Klippen blieb selbst im Windschutz nicht ein Fleckchen trocken, so hoch tobte die Flut daran empor. Im Bund mit den Jahrtausenden hatte sie das Urgestein glatt und rund geschliffen. Nicht einmal die Möwe fand hier einen Spalt, darin sie nisten konnte. Nur die Pflanzenwelt ließ sich nicht ganz vertreiben. Duldete das feindliche Element auch nicht das ärmste Gräschen, geschweige denn ein Blatt – was hier noch treulich aushielt, waren die Flechten, die ihren löcherigen rotgelben Teppich überallhin woben, wo ihnen die Verwitterung ein kümmerliches bißchen Nahrung schenkte. Die Pflanzenwelt ist zäh, und zäher ist der Mensch. Kann seine Kühnheit an einem Platz nicht mehr Hütten bauen, immer noch errichtet er dort Denkmale seiner Tätigkeit, seines hungergepeitschten Lebens- und Arbeitswillens. Gar viele unter den nackten Holmen trugen eins jener dachstuhlförmigen Sparrengerüste, auf denen hierzulande der Stockfisch getrocknet wird, und deren Anblick in Wogenschwall und Felseinöde von unendlicher Trauer umwittert ist. Denn sie gemahnen an Ruinen halb in den Boden versunkener Heimstätten, an bleichende Gerippe einer ausgerotteten Kultur.
Toni sog die steinerne Tragik dieser Stimmung durch die Augen in sich ein. Und sie bedrückte ihn nicht, sie weitete seine Brust, ließ alle Fesseln springen, die der ängstliche Sorgenkram des Alltags darum gelegt hatte. In diesem Bilde der Zerstörung sah er sein früheres Dasein, zu Trümmern geschlagen von der Urkraft der Leidenschaft, der ersten großen Liebe seines Lebens. Wer darf mit Gottes heiligem Sturme rechten, wer ihn der Sünde zeihen! In überschwenglicher Seligkeit preßte der starke Mann Annastina so fest in seinen Arm, daß jäh ein Schauer sie überrieselte. Er fühlte ihr Herz an seine Rippen pochen. Sie atmeten in gleichem, hastig beschwingtem Takt. So heiß schoß ihnen das Blut zu Kopfe, daß es dunkel vor ihren Augen wurde. Die Erde und das Weltall sanken unter ihnen zurück: nur er und sie in grenzenloser Einsamkeit! Von ihren Lippen kam kein Laut, es war ein langes, inhaltsträchtiges Schweigen, das sie fester zusammenband als alle die Worte, durch die sie sonst Brücken zwischen sich geschlagen hatten. Unmerklich ebbte die Erregung ab, ihr Blick wurde immer stiller und tiefer, je länger sie in das wilde Brodeln der Wellen starrten. Schon nicht mehr wie zwei Leute, die sich erst gestern gefunden haben, fühlten sie sich, sondern als säßen sie von je so, Schulter an Schulter, Hand in Hand, eines dem andern zugehörig, als säßen sie von je so und würden immerdar so sitzen, als gäbe es nicht Ziel noch Ende dieser Fahrt. Vergangenheit und Zukunft schienen ausgelöscht, die Stunde leuchtete still im Glanz des Ewigen. Und war doch flüchtig, wie die Erdenstunden sind.
»Ähemm!« so tönte plötzlich ein sehr lautes Räuspern vom Heck herüber. Die beiden fuhren jäh empor. In Carlssons freundlich klugen Mitwisseraugen blitzte ein Fünkchen Spott auf über die verblüfften Gesichter, die ihn voll leisen Unwillens maßen; dann gab er sachlich kund, jetzt wäre man gleich da, doch müsse man das letzte Stück noch kreuzen. Ob wohl der Herr Professor so gut sein wolle, das Focksegel zu bedienen?
Toni knöpfte sich hastig aus dem Wetterkragen und stürzte sich in die Arbeit. Herrgott, war das jetzt aber ein infamer Wind geworden! Die Schoot riß einem ja beinah die Haut von den Händen. Der starke Mann fluchte halblaut in sich herein, und obgleich das auf altbayrisch geschah, verstand der Fischer ihn, wie für gewöhnlich, gut: er warf als Antwort einen mißtrauischen Seitenblick gegen den Himmel und zuckte gleichsam entschuldigend mit den Achseln, als wolle er sagen, daß er das Wetter auch nicht gemacht hätte. Schon schoß jedoch der Kutter in die enge Durchfahrt zwischen der Leuchtturmschäre und einem hochgetürmten Nachbareiland und gewann damit Windschutz und ruhigeres Wasser. Zwei kurze Schläge noch hinüber und herüber, dann lag man wohlgeborgen hinter einem soliden Steindamm fest.
Toni sprang schnell hinaus und faßte Annastina helfend unter den Arm. Zugleich aber schweiften seine Augen in die Runde, und sein Malerherz vergaß vor Andacht fast zu schlagen. In großen, schlichten, herben Linien bauten sich um das enge Hafenbecken schwarzgrau die steilen Hänge auf. Über dem Ganzen lag eine Tempelstimmung von düster feierlicher Majestät.
»Nein!« flüsterte der starke Mann hingerissen. Doch plötzlich prallte er zurück, sein Finger deutete über das Wasser nach der jenseitigen Felswand, und seinem Mund entrangen sich, halb geärgert, halb belustigt, die Worte: »O Jessas naa, o Herrgottsakrament!« Worauf er zeigte, und was ihn jäh aus allem herausgeworfen hatte, war ein riesiges weißes Firmenschild, das denn in dieser weltverlornen Öde so grotesk wie möglich wirkte. Da stand mit großen Buchstaben:
Herzberg & Kantorowitsch
Luebeck
Grabsteine & Kreuze en gros
Eigenes Granitwerk: Svartö (Schweden)
»Nein, so was!« Toni schlug lebhaft mit der Hand auf sein Knie. »Da kann es einem ja bald leid tun, daß unser tapfrer Dichterheld net mit dabei is. Den tät' es jetz' vor Schrecken anderst reißen! Grabsteine gleich en gros, na, wenn das kein Malheur bedeutet!« Recht wohl zumute aber war's ihm selber nicht bei dem Gewitzel, sei's, weil sein Ton dem eignen Ohre falsch klang, sei es, weil er ganz ohne Echo blieb. Denn Annastina antwortete nur mit einem matten Lächeln zerstreuter Höflichkeit. Ihr plötzlich bis in die Lippen blasses Gesicht trug einen Leidensausdruck.
»Is dir net gut?« fragte er erschrocken.
»Es geht schon wieder vorüber«, hauchte sie und kniff den Mund zusammen. »Das ewige Schaukeln! Der Boden schwankt mir noch unter den Füßen; und schwindlig ist mir!«
»Stütz dich auf meinen Arm!« bat er liebevoll. »Was tut man nur?!«
»Es ist ja nicht so schlimm«, sagte sie, hängte sich aber schwer bei ihm ein. »Wenn ich nur etwas Warmes hätte, bloß eine Tasse Kaffee, dann wäre mir sofort wohl.«
»Das kriegt man doch auf diesen Inseln, Annastina. Sprich mit Carlsson!«
Der Fischer gab die Auskunft, man könne das Gewünschte sicher beim Leuchtturminspektor bekommen. Er führe sie gleich hin; er hätte unter den Assistenten hier einen Nevö, dem er in der Zwischenzeit einen Gruß von seiner Mutter ausrichten wolle. Zu lange übrigens sollten sie sich nicht aufhalten, es wäre ratsam, die Heimfahrt bald anzutreten. Er ging voraus; die beiden folgten ihm und stiegen langsam, zuweilen innehaltend, den steilen Pfad hinan.
Ursholm, die Leuchtturminsel, lag im Zug der äußeren Klippenkette, an der sie entlanggesegelt waren, und wirkte hier wie ein Riese zwischen Zwergen. Als breite Kuppel ragte die Schäre trotzig gen Himmel. An der vom offnen Meere abgekehrten Seite schien die Gewalt einer Elementarkatastrophe aus dem oberen Teil ihrer Wölbung ein mächtiges Stück weggesprengt zu haben. Dadurch war dort auf halber Höhe eine Geländestufe entstanden, ein ebener Platz, dem die Hänge, die ihn im Drittelkreis umrahmten, ein wenig Schutz vor den herrschenden Westwinden gewährten, doch nicht genug, daß hier außer ein paar harten und magern Grashalmen etwas von Pflanzenwuchs gediehen wäre. Die Menschen aber, denen ihre Pflicht diesen nackten Steinklotz zur Heimat machte, hatten sich auf seinem beschirmtesten Teil, oben auf dieser Plattform, angesiedelt. Wenn man sie vom Landungsplatz kommend betrat, erblickte man quer vor sich ein breit hingelagertes, rot getünchtes Holzhaus, in dem die kleineren Angestellten, drei Mann, ein jeder mit Weib und Kind, ihre Wohnungen hatten. Es schmiegte sich dicht an den Felsen, der beinah senkrecht dahinter emporschoß und droben auf dem Kamm die beiden eisernen Feuertürme trug. Ihr stilles Zwillingslicht grüßte des Nachts viele Meilen über See hinaus, man schaute danach von allen den Inseln in der Runde bis hin zum Festland. Für solche Wirkung in die Ferne waren es, von hier betrachtet, recht kurze, stämmige Gesellen. Ihr Platz erst lieh ihnen die Herrscherstatur. Wollte man sie besuchen, so mußte man sich nach links wenden, wo ein Pfad seinen Ursprung nahm, der in weitläufigem Zickzack bergan führte und sorglich mit einem Drahtseil gesichert war. Machte man statt dessen eine Viertelwendung nach rechts, so stand man vor einem zweiten, gleichfalls ängstlich unter den Hang geduckten Haus, das kleiner war als das andere, es aber durch Vornehmheit in Schatten stellte. Silbergraue Wände und von weißem Holzwerk umrahmte und geteilte Fenster gaben ihm etwas Freundliches; und hinter den blitzblanken Scheiben erzählten ausgiebig geblaute Spachtelgardinen und viele Geraniumstöcke mit fettgrünem Laub und Blütendolden in leuchtendem Krapp- und Zinnoberrot von wohnlichen Gemächern. Dies war die Residenz des Königs von Ursholm, des Herrn Inspektors Liljeqvist; zu dieser Tür wies Carlsson seine Passagiere, während er selber den Schritt nach der Familienkaserne der Leuchtturmwärter lenkte.
Der Inspektor war abwesend, er hatte droben bei den Türmen dienstlich zu tun; aber seine Frau, eine quicke, mollige Person, so an die Fünfzig, mit leicht ergrautem Haar über dem frischen, rosigen Gesicht, empfing Toni und Annastina mit wortreicher Herzlichkeit. Sie war sofort bereit, den beiden für Geld und gute Worte einen extrastarken Kaffee zu brauen. Daß ihre Gäste, namentlich die arme junge Frau, eine Stärkung brauchten, fand sie weniger auffallend, als daß sie bei solchem Wetter überhaupt gesegelt wären. Sie ihrerseits würde sich heute auch nicht durch eine Million, die man ihr dafür bieten könnte, aufs Wasser locken lassen. Sie neige nämlich gleichfalls zur Seekrankheit. Annastina versicherte, wie das so üblich ist, daß sie vollkommen fest sei und ihr kein Wellengang etwas anzuhaben vermöchte; sie fühle sich nur etwas benommen und durchkältet, weiter nichts. Frau Liljeqvist rechtete mit ihr nicht um den Namen, den sie ihrem Zustand beilegen wollte, sondern empfahl sich alsbald mit der Zusage, daß sie den Kaffee gleich bereiten werde.
»Die Frau ist nett«, sagte Annastina und zeigte ein Lächeln, das immer noch recht müde war. »Überhaupt ist es nett hier.« Der starke Mann nickte. Er konnte ihr nur beipflichten. Denn sie hatte recht. Er wußte selbst nicht, warum diese im Grund doch mit richtig kleinbürgerlichem Ungeschmack eingerichtete Stube so harmonisch, so urbehaglich wirkte. Lag es an ihrer Enge und Niedrigkeit, sie ihr etwas von einer Schiffskajüte liehen, wozu auch der Wind gut stimmte, der heulend durch den Schornstein fuhr und das Dach knarzen und ächzen machte? Lag es an dem Gegensatz, den diese liebevoll ausgeräumte Sauberkeit mit spiegelndem Holzwerk und wohlgepflegten Blumen auf den Fensterbrettern zu der kahlen Steinlandschaft draußen abgab? Lag es an dem Geist des Friedens, der sichtbar zwischen diesen Wänden waltete, der einen beim ersten Schritt über die Schwelle fühlen ließ, daß die Bewohner gut zusammen lebten? Wer will das wissen! Man kann es nicht beschreiben und begründen; diese Luft ist in einem Hause, oder sie ist nicht da. Hier war sie, und die beiden vom Zufall her verschlagenen Gäste amteten sie wohlig ein, ohne lang zu fragen, woher sie wehe.
Für solche Untersuchungen fehlte es ihnen schon einfach an der Zeit. Toni fand nämlich, daß es bei dem gegenwärtigen Zustand seiner Liebsten die beste Kur wäre, wenn man sie auf andere Gedanken brächte. So setzte er sich denn, kaum daß sie allein geblieben waren, dicht neben sie auf das Sofa und versuchte es zunächst mit einem Kuß von großer Ausführlichkeit. Da der dann schließlich doch sein Ende finden mußte, geschah es zum erstenmal, daß Annastina nach einer solchen Hingerissenheit nicht über sich selbst erschrocken tat. Für ihr Gefühl wie für das seine hatte diese Sturmfahrt die letzte Scheidewand von Fremdheit weggeräumt, die bisher trotz allem noch zwischen ihnen gewesen war. So geschah es denn, daß sich die beiden noch öfter küßten und erschrocken auseinanderfuhren, als sich endlich vor der Tür ein warnendes Geklapper von Porzellan erhob.
Frau Liljeqvist mußte den Eindruck gewinnen, daß schon der bloße Duft ihres Kaffees Wunder wirkte, so blühend sah die junge Frau jetzt aus. Die merkwürdige Atemlosigkeit, in der sich ihre Gäste befanden, schien ihr gottlob nicht aufzufallen. Sie war wohl mit Tischdecken, Nötigen und später mit lebhaftem Geschwätz viel zu beschäftigt, um irgendeinen unbequemen Verdacht zu schöpfen. Irgend etwas gemerkt schien sie aber doch zu haben. Weshalb denn hätte sie sonst nachher mitten aus etwas anderem heraus und ohne jeden Zusammenhang der Vermutung Worte geliehen, die Herrschaften seien sicher erst ganz kurz verheiratet? Annastina errötete heftig, da sie dem starken Manne das auf deutsch wiederholte. Er aber zeigte keine Spur von Verlegenheit, nein, es packte ihn ein solcher Übermut, daß er ganz aus freien Stücken etwas tat, wozu ihn sonst nur die äußerste Notwendigkeit zwingen konnte: er sprach schwedisch, er log sogar auf schwedisch.
» Tre dagar!« sagte er strahlend und hielt Frau Liljequist Zeige-, Mittel- und Ringfinger der linken Hand eindringlich triumphierend vor die Nase. Zugleich schlang er den rechten Arm höchst unbefangen um Annastinas Schultern. Wie nett, daß man sich so etwas jetzt offen und mit gutem Gewissen erlauben durfte oder sogar mußte. Denn hatte man sich einmal als Flitterwöchner deklariert, so hieß es auch im Geist der Rolle bleiben, wenn man in ihr nicht unwahrscheinlich wirken wollte.
» Tre dagar!« echote die Inspektorin mit einem bewundernden Seufzer. Unendliches Wohlwollen, das durch einen Schatten von stillem Neid nur wirkungsvoller herausmodelliert wurde, leuchtete von ihrem runden Gesicht. Ihr Blick hätte nicht sprechender sein können; man sah's ihr an: für sie lag dieser Zustand beinah dreißig Jahre zurück. Doch gönnte sie andern Leuten aufrichtig ihr junges Glück und knüpfte nur mit einer süßen Wehmut, die nicht schmerzte, Altweiberfäden der Erinnerung daran. Toni und Annastina spürten beide, daß diese Frau keine saure Spießbürgerin geworden war, daß sie, wie er es sich ausdrückte, von der Liebe was verstand. Und dies schenkte ihnen die vollste Unbefangenheit, ließ sie sich ganz als ein junges Ehepaar benehmen, das sich vor einer guten mütterlichen Freundin keinen großen Zwang aufzuerlegen braucht. Dabei war gar nichts von Komödie mehr, es hatte sich auch für ihr Gefühl beinah zur Wirklichkeit gewandelt. So schrieb denn der starke Mann, als ihm das Gästebuch von Ursholm vorgelegt wurde, ohne Zaudern und Besinnen hinein: Toni Gwinner und Frau aus München.
»Und Frau?« rief Annastina, die ihm auf die Finger gesehen hatte.
»Na ja doch!« erwiderte er halblaut und blinzelte ihr verstohlen zu.
»Nein, lieber Toni«, sagte sie und schaute ihn plötzlich ein bißchen kühl von oben herab an. »Dies mag ja deutsche Sitte sein. Aber mir liegt es nicht, so als bloßes Anhängsel zu paradieren. Ich schreibe mich schon selbst ein«. Sie griff zur Feder und strich die Worte »und Frau« zweimal kräftig durch.
»No, wenn's dir Spaß macht!« Er lächelte gutmütig. Dann aber wurden seine Augen starr. Sie schrieb ja: Annastina Nordlind. »Ja, aber!« flüsterte er ihr verblüfft und hastig warnend ins Ohr.
»Was hast du denn?« fragte sie und fügte einen Bindestrich hinzu, an den sie dann seinen Namen hängte. Er las nun, erleichtert und doch ein bißchen befremdet: Annastina Nordlind-Gwinner.
»So hält man es damit in Schweden«, erläuterte sie. »Wenigstens oft. Ich jedenfalls, denn in erster Linie bleib' ich doch immer eine Nordlind. Das wirst du einsehn können? Oder nicht?«
»J–ja«, druckste er gedehnt hervor. Aber fand keine Zeit, das, was ihm hierbei gegen den Strich ging, mit schonender Behutsamkeit anzudeuten: die Inspektorin mischte sich jetzt eifrig ins Gespräch und fragte, ob die junge Frau eine Verwandte Bengt Nordlinds wäre.
Es läßt sich nicht schildern, mit welchem Stolz die Tochter des großen Mannes dies ihrem Toni verdolmetschte. Also noch auf der äußersten Schäre besaß der Name ihres Vaters Klang und Geltung. Im weiteren erwies sich freilich, daß Frau Liljeqvists Wissen über den großen Mann sich darauf beschränkte, er müsse, wenn sie ihn nicht am Ende mit einem andern verwechsle, ein Maler gewesen sein und demgemäß irgendwelche Bilder gemalt haben. Aber Stolz ist ja, trotz den üppigen Ranken, die er treibt, eine unendlich dankbare, im wahrsten Sinn des Wortes bescheidene Pflanze, die noch in dem magersten Boden kräftig Wurzel zu schlagen und reiche Nahrung zu finden weiß. Außerdem gab die Unbildung der Inspektorin Annastina Gelegenheit, ihr Lieblingsthema anzuschlagen, wobei sie in diesem Falle sehr schön das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden konnte: sie diente der Volksaufklärung und schwelgte zugleich behaglich im Familienruhm. Was Wunder, daß sie warm und lebhaft sprach. Frau Liljeqvist, der es so überzeugend klargemacht wurde, welch einen Glanz dieser Mittsommertag in ihre Hütte getragen hatte, lauschte andächtig, ihre Augen waren ganz groß geworden, sie saß vor lauter Respekt nur noch auf der Kante ihres Stuhles.
Toni hatte den Kopf an Annastinas Schulter zur Ruhe gebettet und spielte mit ihren schönen, schlanken Fingern. Der melodische Tonfall der Stimme, die er liebte, tat ihm wohl, entrückte ihn in holde Träume, erzählte ihm von ganz andern Dingen als von Vater Bengt und der Idee des auf Verträge gestützten ewigen Völkerfriedens.
Auf einmal erklangen dann im Hausgang schwere Tritte und das Schelten einer rauhen Männerstimme. Die Tür wurde höchst energisch geöffnet, und Carlsson schob sich, die linke Schulter voran, langsam in das Zimmer. Er hielt die Mütze ungeschickt in einer Hand und kratzte sich mit der andern verlegen hinterm Ohr. Über seine Schulter schaute das luftbraune, von rundem grauem Vollbart umrahmte Gesicht eines Mannes, dem man sofort den alten Kapitän ansah. Und dies war niemand andres als der König von Ursholm selbst. Mit wahrhaft königlicher Kurzangebundenheit befahl er denn auch dem Fischer, nun endlich einmal sein Maul aufzutun. Und er gehorchte und stotterte, die Mütze zwischen den Fingern drehend, etwas davon hervor, daß es mit der Heimfahrt für heute nichts mehr würde. Der Wind sei stärker geworden, als er erwartet hätte.
Er möge ruhig sagen: Sturm, polterte der Inspektor los. Jetzt nach Koster hinüberzusegeln, und namentlich mit solch einem Kerl am Ruder, bedeute den sicheren Tod. Dies flache Fahrwasser würde bei solchem Wetter auf weite Strecken einfach bis zum Grunde aufgewühlt. Es sei schon gestern Sturmwarnung erlassen worden, und wenn Carlsson das tausendmal nicht gewußt hätte, wäre es um so mehr seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, die eigne Nase in den Wind zu stecken. Aber man kenne das: die ganze Bande hier in der Gegend sei durch die Sommergäste toll geworden und total verdorben durch den leichten Verdienst. Kurzum, was auch der arme Sünder an Entschuldigungsgründen daherstammeln mochte, es zog ihm nur noch härtere Vorwürfe auf den Hals. Und endlich wurde ihm bedeutet, er solle sich sofort zum Teufel scheren, was Carlsson sich nicht zweimal sagen ließ.
Nun bestürmte Annastina den Inspektor mit Fragen, und er antwortete kurz, in nachwirkender Erregung noch ein wenig brummig. Ja, von Heimsegeln sei heute keine Rede. Wie lange der Sturm dauern könne, wisse er auch nicht, vielleicht einen Tag, vielleicht zwei oder drei, vielleicht noch länger. Sie übersetzte diese Auskünfte sogleich dem starken Mann.
»Wir müssen wohl oder übel bleiben«, schloß sie.
»Ja«, antwortete er unsicher.
»Schicksal!« Halb seufzend und halb lächelnd sprach sie das vor sich hin. Er nickte schweigend, hob die Schultern und wies ihr mit einer Gebärde der Machtlosigkeit die leeren Hände. Inwendig in ihm brausten die Gedanken. Dies letzte Wort, das ihr so leichthin über die Lippen geglitten war, schwoll für ihn an zu mächtigem Orgelton. Jene Nachmittagsstunde trat ihm vor die Erinnerung, da er mit den andern auf dem Siestaplatz gesessen und ein Boot beobachtet hatte, von dem er noch nicht ahnen konnte, daß es Annastina trug. Philipp war es ja wohl gewesen, der damals die Bemerkung machte, dies Segel komme so bestimmt daher, so unabwendbar wie das Schicksal. Das war die Art, auf die das Leben spielte. Die dümmsten Dichterphrasen schuf es rückwirkend zur Prophezeiung um.
Ob sie denn nun bei ihm ein Unterkommen finden könnten, fragte Annastina den König von Ursholm. Es wäre ja nichts anderes zu machen, erwiderte der Inspektor. Das Nähere solle sie mit seiner Frau besprechen, er wolle draußen noch ein bißchen nach dem Rechten sehn. Und damit ging er. Seine Verbeugung zum Abschied wurde schon durch einen Schimmer von Jovialität verklärt, wie denn der alte Seebär überhaupt, ohne das gerade stürmisch zu äußern, allmählich immer freundlicher und menschlicher geworden war. Ja, Annastinas Reiz widerstand auch ein wetterharter Mann nicht leicht.
Frau Liljeqvist erklärte, es würde eine Ehre und eine Freude für ihr Haus sein, das junge Paar zu beherbergen, solang es eben wegen des Wetters nötig sei. Es ginge auch ganz gut, Platz hätten sie genug, seit ihre beiden Töchter fort wären. Sogar mit etwa fehlenden Toilettegegenständen könne sie zur Not aushelfen; hier draußen gewöhne man sich daran, manches auf Vorrat einzukaufen, wenn man ein seltnes Mal nach Strömstad komme. Auch über das Essen würden die Herrschaften nicht zu klagen brauchen, den Vergleich mit der Beköstigung in Olsons Hotel brauche es sicher nicht zu scheuen. Sie hielten selber was auf einen gut bestellten Tisch: irgendein Vergnügen müsse der Mensch schließlich haben hier in der Einsamkeit, wo es weder Theater noch Kinematographen gebe. Ewig und ewig lesen schade nur den Augen, ganz zu schweigen davon, daß heutzutag die Leute meistens so überspannte oder so häßliche Bücher schrieben. Die Stücke wiederum, die ihr Grammophon spiele, hätten sie alle sicher schon fünfhundertemal gehört. Zum Schluß stumpfe man doch auch gegen Kunstgenüsse ganz unwillkürlich ab. – Vielleicht wollten die Herrschaften sich gleich die Schlafgelegenheit ansehen, damit man wisse, was noch etwa fehle, und, soweit möglich, für Abhilfe sorgen könne. Die freundliche Wirtin machte ein paar Schritte und öffnete einladend die Tür zum Nebenzimmer, das noch weit kleiner als die Wohnstube war. Allerhand naiver Zierat an den Wänden und auf der Kommodenplatte verriet, daß hier für gewöhnlich junge Mädchen aus dem Kleinbürgerstande hausten, und zwar deren zwei. Dies ersah man aus den zwei unschuldsweiß lackierten Betten, die da friedlich nebeneinander standen. Als der starke Mann unvorbereitet dieses Bild gewahrte, zog er die Augenbrauen hoch.
»Still!« wisperte seine Liebste leise, aber heftig, trotzdem er nicht einen Laut von sich gegeben hatte. Bloß alles Blut schoß ihm ins Hirn. Gleich danach ging Frau Liljeqvist auf den Vorplatz hinaus, um frische Wäsche zu besorgen. Kaum waren die beiden allein, da trat Annastina dicht vor Toni hin und schaute ihm drohend ins Gesicht. »Sie wissen, wofür wir hier gelten!« sagte sie. »Wir dürfen uns nicht lächerlich machen! Wie es nun ist, geht es nicht anders. Und was ist denn im Grunde auch dabei! So viel kann ich von Ihnen wohl erwarten? Ich werde mich vor Ihnen doch nicht zu fürchten brauchen? Oder?« Es sprühte förmlich Wut aus ihrem Blick. Das Sie, mit dem sie ihn auf einmal wieder anredete, schien so etwas wie eine spanische Wand zwischen den zwei Betten errichten zu wollen.
»Nein, nein!« wehrte er betreten ab.
»Sie sind doch ein Mann!« fügte sie, den Kopf in den Nacken werfend, stark hinzu. Mochte nun auch gerade dieses Argument logisch auf etwas wackeligen Füßen stehn, vielleicht wirkte es eben durch seine Kühnheit so hinreißend.
»Ja, Annastina!« rief Toni in einem Taumel edler und opferfreudiger Begeisterung. Und er gelobte es sich fest zu: ihr rührend schönes Vertrauen sollte nicht enttäuscht werden. Sie las in seinen Mienen, und ihr gefiel, was sie da las. Der nette Kerl verdiente wohl, daß man ihn jetzt wieder duzte.
»Ich weiß es, Toni: du bist der, für den ich dich immer hielt!« Voll und kindlich ruhte ihr Blick in seinen Augen. Dann plötzlich überlief sie ein kleiner Schauer, sie senkte mit glühenden Wangen den Kopf, als sie nun verwirrt hervorstieß: »Und das soll dir auch nicht vergessen werden!«
Der Wechsel auf die Zukunft, den sie damit einen flüchtigen Moment lang in der Luft flattern ließ, schien ihn so reich zu machen wie gutes Bargeld: er quittierte durch einen Handkuß voll ergriffendster Dankbarkeit. Nur ein rohes Gemüt hätte es Einbildung schelten können, daß der starke Mann seine Liebe zu Annastina als ein Verjüngungsbad empfand. Er war wirklich wieder sehr jung geworden.
Nach dem Abendessen blieben sie gleich so beisammen sitzen, die zwei Paare, das alte und das junge. Jetzt in dem sanften Licht der Hängelampe wurde die Wohnstube erst richtig gemütlich und glich nun zum Verwechseln einer Schiffskajüte. Annastina und Frau Liljeqvist unterhielten sich lebhaft und schienen ein Herz und eine Seele zu sein. Auch die Männer fanden Gefallen aneinander und waren sich recht nahe gekommen. Hier bildete nicht die Sprache das Verständigungsmittel, sondern der steife Kognaktoddy, der in großen Wassergläsern vor ihnen dampfte. Sonst beschränkte sich ihr Meinungsaustausch auf häufigere Wiederholung eines sehr schlechten Leitmotivs. Mit einem kurzen »skål!« schlug der Inspektor es an, und Toni verzierte das Thema ein klein wenig und erwiderte: » Min skål, din skål, alla vackra flickors skål!« Dieser Trinkspruch veranlaßte dann den grauköpfigen Seebären stets, sein Glas mit täppischer Galanterie huldigend gegen Annastina zu erheben. Ein Zwinkern seiner blauen Äuglein ließ sie gleichzeitig merken, wie wenig blind er dafür wäre, wo hier das hübsche Mädel zu suchen sei. Sie dankte ihm durch ein kleines, schmeichelhaft erschrockenes Lachen, bei dem die Grübchen in ihren Wangen tanzten; und auch bei Frau Liljeqvist erweckte diese Kurmacherei keine Eifersucht. So sah ihr Alter nicht mehr aus, daß er der jungen Frau hätte gefährlich werden können, ganz davon abgesehen, wie verliebt die in ihren eignen Mann war. Zu nett, die beiden zu beobachten! Schulter an Schulter, Arm an Arm geschmiegt, saßen sie auf dem Sofa. Von Zeit zu Zeit, wenn sie glaubten, es sähe es gerade niemand, fanden sich ihre Hände, ihre Augen versanken starren Blickes ineinander, und ihre Lippen formten heimlich ein Liebeswort, so leise, daß es kaum die Luft bewegte.
Schließlich konnte die brave Hausfrau ihre Freude daran nicht mehr bei sich behalten. Sie mußte die Bewunderung für dieses reine Eheglück in herzhafte Worte fassen. Annastina lächelte sie unter leisem Erröten an und entgegnete liebenswürdig, dies Urteil schmeichle ihr um so mehr, da es ja von höchst sachverständiger Seite käme. Sie wenigstens sei überzeugt, daß auch Frau Liljeqvist nicht gerade unglücklich verheiratet sei. Hier wendete sie sich an den Herrn Inspektor und fragte ihn, was er denn dazu meine. Der Alte nickte langsam mit wägend schiefgelegtem Kopf, tat einen mächtigen Zug aus der Shagpfeife und blies eine rollende Rauchwolke gegen den Lampenzylinder. Er sei halt ein verteufelt guter Kerl, entgegnete er schmunzelnd, und außerdem hätten sie sich von jeher mit sehr kleinen Wohnungen behelfen müssen. Da gäbe es so wenig Platz für Zank und Streit.
Und trotzdem, stellte nun die Inspektorin mit leisem Kichern fest, habe diese Enge einmal einen gewissen Jemand nicht gehindert, einen vollen Teller Erbsensuppe an die Wand zu feuern, aus Eifersucht, hihi!
Ach was, Erbsensuppe mache keine Flecken, behauptete der König von Ursholm kühn. Das wäre nun rund siebenundzwanzig Jahre her und schiene einer gewissen Jemandin doch riesig geschmeichelt zu haben, da sie es gar nicht vergessen könne. Sie sage ja auch immer, daß er in jenen weit zurückliegenden Tagen viel netter zu ihr gewesen sei als heute. So neckten sie sich noch eine Weile weiter. Dies war mit der Zeit die Art geworden, auf die sie sich ihre Liebe zu erklären pflegten. Und das hörte auch das junge Paar aus all den kleinen Schraubereien leicht heraus. Man hatte gegenseitig Freude aneinander. Tief friedliches Behagen waltete im Lichtkreis der bescheidenen Lampe, ein guter Geist ging durch das Zimmer.
Toni, dem das wärmende Getränk das Blut schon schneller durch die Adern trieb, wurde sich plötzlich des starken Glückempfindens, das er bisher verträumt genossen hatte, klar bewußt. Hier saß er, Hand in Hand mit Annastina, bei wohlgesinnten Menschen, denen er keine Rechenschaft schuldig war, unerreichbar für die grämliche Welt mit ihren Ansprüchen und Pflichten, von der unbändigen Natur selber auf diesem sturmumtobten Felsen festgehalten, herrlich machtlos, ein froher Sklave seines Schicksals. Und eine Ahnung, zugleich beseligend und erschütternd, streifte ihn, daß dies wohl eine der ganz großen, ganz glücklichen Stunden seines Lebens sei, eine der Stunden ohne Wunsch, eine der Stunden der gütigsten Erfüllung. Oder sind das nicht Stunden? Sind es immer nur Augenblicke, schon verloren und verscherzt, da sie nur tastend der Gedanke berührt, unser Gedanke, der die Andacht zur Gegenwart nicht kennt und, einer unruhvollen Spinne gleich, Fäden der Hoffnung oder Furcht zum Strande der Zukunft wirft?
Der starke Mann erkannte die Gefahr, er wehrte der Bewußtheit, er wollte wieder träumen. Er goß den Rest aus seinem Glase schnell herunter und lehnte seinen Kopf an die Schulter der liebsten Frau. Ein kurzes, leise gurrendes Stöhnen des Wohlbehagens drang aus seiner Kehle. Ihm ging es jetzt so gut, er wollte seßhaft sein in seinem Glück. Jedoch durch diesen Plan wurde ihm ein Strich gemacht. Als nämlich der Inspektor Anstalten traf, ihm seinen dritten Toddy zu bereiten, war Annastina auf einmal furchtbar müde und verlangte sofort ins Bett zu gehen. Der alte Seebär, gleichfalls eine seßhafte Natur, widersprach dieser ausgefallenen Idee mit Feuer. Aber er strengte seine Beredsamkeit umsonst an. Die rothaarige Schöne schüttelte charaktervoll den Kopf und erhob sich. Und Toni folgte ihrem Beispiel als gut gezogener Mann. Nicht einmal Überwindung kostete ihn das. Schon war wieder der stille Hafen der Gegenwart verlassen, ein freundlicher Wind blähte die Segel des Gedankenschiffleins und trieb es in das sanft bewegte Meer der Hoffnungen hinaus.
Herr Liljeqvist übrigens, so bat Annastina, möge sich durch ihren Aufbruch nicht hindern lassen, ruhig sein drittes Glas zu trinken. Der Alte gab ehrlich zu, dies ohnehin im Sinn gehabt zu haben. Doch würden er und seine Frau sich für das halbe Stündchen, das sie noch wachzubleiben gedächten, in die schöne warme und gemütliche Küche setzen, damit ihr Geschwätz die gar so müden Herrschaften nicht störe. Zuerst wolle er ihnen bloß noch ein kleines Schlummerständchen bringen, nachher solle alles mäuschenstill sein. Da er sich bei diesen Worten zum Grammophon begab und es kaltblütig aufzuziehen begann, versicherte man ihm, daß man höchst unmusikalisch und solcher Genüsse darum eigentlich nicht würdig sei. Dies aber nahm der Herr Inspektor nur für eine Redefloskel übertriebener Bescheidenheit. Ach was, er täte es ja gern, es mache keine Mühe, und das Instrument stände nun einmal da, so solle es jetzt auch was Deutsches und was Schönes zu Ehren seiner Gäste spielen, sagte er und kramte ruhig weiter in seinem Plattenvorrat. Man schüttelte sich nun die Hand und dankte einander für den Abend. Dann verfügten sich die jungen Leute in ihr Schlafgemach.
Als Toni die Kerze auf dem Nachttisch angezündet hatte, trat er vor Annastina hin und wollte ihre Hände fassen. Seine Augen starrten ihr mit einem treuen Hundeblick bittend ins Gesicht, Sie wich zurück und musterte ihn befremdet.
»Nein, Toni, nicht! Wissen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben?«
»A!« stieß er rauh hervor. Er hatte seine heiligen Gelübde von heute nachmittag vergessen und wünschte nicht, daran erinnert zu werden.
Aber nach seinen Wünschen wurde nicht gefragt, und all sein stummes Flehen war umsonst. Annastina besaß eine sehr prinzeßliche Art, den Widerstand zu bändigen. Man fügte sich ihr nicht nur, man gab ihr sogar gegen den eigenen Willen recht, weil sie von ihrem Rechte, zu befehlen, so felsenfest überzeugt war. Sie verlangte von Toni, er solle, bis sie im Bette läge, sich an das Fenster stellen und hinausschaun. Und er gehorchte, das heißt: er begab sich schleppenden Schrittes an den befohlenen Platz und kehrte ihr den Rücken. So weit, daß sein Blick die Fähigkeit erworben hätte, die Bretter der geschlossenen Laden zu durchdringen, ging schließlich auch ihre Macht nicht. Mußte er deshalb seinen Gesichtssinn fast völlig ausschalten, so spitzte er dafür seine Ohren und lauschte angehaltnen Atems auf das verstohlene Rascheln ihrer Gewänder. Das Blut klopfte ihm gewaltig in den Schläfen. Plötzlich trat etwas ein, was ihn gewaltig störte: in der Wohnstube drüben begann das Grammophon zu näseln. Und was es von sich gab, das war nichts andres als der Hochzeitsmarsch aus »Lohengrin«. Der starke Mann erlag für einen Moment der Last der eignen Lächerlichkeit, sein Rücken wurde rund, die Arme baumelten kraftlos an den Schultern.
Sei es nun, daß er so von hinten ein recht komisches Bild abgab, sei es, daß Annastina gleichfalls das Musikstück erkannte: sie ließ ein spitzbübisches Kichern hören. Das entflammte den Mut sich umzudrehen. Aber dies Unternehmen erstickte im Versuch, so hastig untersagte sie es ihm, so deutlich klang aus ihrem Ton die Drohung, daß er es zu bereuen haben würde. Drum legte er denn wieder den Ausdruck der Ergebung und Geduld in seine Rückenlinie. Und namentlich die Geduld hatte er sehr nötig: schon das Grammophon brauchte eine endlose Zeit, bis es seine anzügliche Begleitung zu Tonis verdrossenen Gedanken heruntergedudelt hatte. Aber auch nachher beeilte sich Annastina so wenig, daß er wahrhaftig zu dem Glauben kam, sie weide sich hartherzig an seiner Qual.
Schließlich aber war sie so weit und schenkte ihm Bewegungsfreiheit. Man kann sich denken, wie stürmisch er herumfuhr. Sie lag im Bett und hatte sich bis unter die Nase zugedeckt. Ihr in der Mitte gescheiteltes Haar, das straff und schlicht dem Kopfe anlag, und der dicke Zopf, der sich vorwitzig über die Decke schlängelte, gaben ihr etwas grenzenlos jungmädchenhaftes, wozu der bange und unschuldvolle Ausdruck der Augen noch ein übriges tat. Vor so viel Kindlichkeit mußte sich wohl jeder unreine Gedanke in den dunkelsten Winkel verkriechen, wenn auch mit widerspenstigem inneren Knurren. Nun kehrte Annastina ihr Gesicht gegen die Wand und hieß Toni machen, daß er auch zur Ruhe käme. Er brauchte wenig Zeit zum Ausziehn; und kaum war er im Bett, als sie schon die Kerze löschte.
»So!« sagte sie zufrieden. »Gute Nacht!«
»No, was? Die Hand werd' ich dir wohl noch küssen dürfen zum Gut' Nacht?«
»Nein!« erwiderte sie bestimmt und fügte mit einem magern Tröstversuch sanfter hinzu: »Morgen! Sein Sie vernünftig, Toni! Schlafen Sie! Ich bin so müde«.
Jawohl, das war das Rechte, Schlafen Sie! Als ob man das so auf Kommando könnte! Und weil sie müde war, sollte er Schlaf haben! Nein, bis zum Morgen tat er bestimmt kein Auge zu! Geschah ihr ja bloß recht, wenn er nicht schlief! Und merken sollte sie es schon! Er begann sich aller Augenblicke schwer von der einen Seite auf die andre hinüberzuwälzen, und zwischendurch verkündeten ihr jammervolle Seufzer, was er litt. Sie stellte sich eine Weile taub. Als dies aber nur den Erfolg hatte, daß er sich immer wilder gebürdete, herrschte sie ihn schließlich ungeduldig an:
»Nein, das ist ganz unmöglich, Toni! Denken Sie doch an mich! Sein Sie ein Mann! So kann ich doch nicht schlafen!«
»Ja, ja, verzeih!« gab er erschrocken im Armsünderton zurück. Er hatte sich mittlerweile in eine große Sentimentalität hineingeseufzt und wollte selbstlos edel sein. Vielleicht könnte demütiger Gehorsam ihr eher das strenge Herz erweichen. Er biß die Zähne aufeinander und hielt sich tapfer mäuschenstill.
Und, weiß der liebe Gott: Annastina schlummerte jetzt nicht etwa beruhigt ein. Nein, sie fing an zu lauschen, ob sich denn Toni gar nicht mehr rühren würde, der rücksichtsvolle gute Kerl; den Titel mußte sie ihn schon geben. Kaum, daß man seinen Atem noch vernahm! Leicht fiel ihm das nicht! Er könnte sicher die ganze Nacht nicht schlafen, der närrische Mensch!
Wie sonderbar stark auf einmal in dieser Stille die tausend Stimmen des Dunkels wurden! Über allem der tiefe Orgelton des Meeres, das wütend gegen die Leuchtturminsel ansprang. Dazu heulte der Wind ums Haus, pfiff schwellend und sinkend durch den Schornstein, klapperte mit den Fensterladen, ließ alles Holzwerk stöhnen und ächzen. Ein Weltuntergangskonzert der entfesselten Elemente, vor dem Menschenwerk und Menschenleben erzitternd klein und machtlos wurden. Und dennoch, Toni und Annastina fühlten plötzlich jedes sein Herz so mächtig pochen, daß dieser Laut den Aufruhr der Natur verschlang. Die Melodie des Blutes schwoll zu betäubendem, hirnzersprengenden Gedröhn. Dann plötzlich warf sich ein neuer, ungewohnter Ton spitz dazwischen: das hastige und doch scharf abgesetzte Galoppieren von kleinen Füßen droben auf den Brettern der Decke.
»Was war das?« flüsterte sie atemlos.
»Weiß auch net. Eine Ratte?« murmelte er mühsam und heiser.
»Toni, ich fürchte mich!« rief sie mit heller klagender Kinderstimme. Ihre Hand tastete hilfesuchend über seine Bettdecke. Schon hatte er sie ergriffen. Ein Stöhnen brach aus seiner Kehle. Brausende Finsternis riß ihn in ihren Wirbel. Und Annastina? Sie hatte so lange mit dem Feuer gespielt, daß nun die Glut auch über ihrem Kopf zusammenschlug.
Toni erwachte plötzlich aus einem tiefen und gesunden Schlafe. Seine Augen blinzelten ins Licht und schlossen sich gleich wieder, als könne er so die Bilder kostbarster Erinnerung klarer sehen. Annastina! klang es in ihm. Daß es etwas so Schönes, so Herrliches auf Erden gab! Wie blind und dumm und arm war er durch dieses Dasein hingestolpert und hatte seines Lebens beste Zeit versäumt! Nein, doch noch nicht versäumt! Der Zauber war gebrochen, in den ihn Trautchens bürgerlich kluge Vorsicht eingesponnen hatte.
– Jung bin ich! klang es hell in Toni. Jung genug, um von der wundervollsten Frau geliebt zu werden! Sein Herz wurde groß in Dank und frommem Staunen. Ja, konnte er's denn glauben? War das nicht alles nur ein Traum? Er spielte mit diesem Schreckgedanken und scheuchte ihn lächelnd fort. Um aus dem Traum Wahrheit zu machen, brauchte es weiter nichts, als daß er die Lider aufschlug. Dies tat er nun frisch und wendete den Kopf. Jedoch der helle Ausdruck der Erwartung gefror zu blödem Staunen. Nanu, das Bett war leer? Er hob sich leicht auf den Ellenbogen empor und schaute sich im Zimmer um.
Annastina, schon fertig angezogen, stand, mit dem Rücken gegen ihn, am Fenster und starrte nachdenklich in den grauen sturmdurchtosten Tag hinaus. Er runzelte die Brauen. Eine Beklemmung schnürte seiner Freude mit eins die Kehle zu.
Nein, und wie ihm dies Erwachen ein anderes zurückrief! Sonderbar! Genau auf den Tag, vielleicht auf die Minute vor vierzehn Jahren war's gewesen, am Morgen nach Johanni. Und hier wie dort das Hüttchen in der Felsenöde, und hier wie dort das leere Lager neben ihm, und ... Wiederholt sich denn das Leben? Ach Unsinn! herrschte der starke Mann sich an. Was ihm schon diese dummen Zufälligkeiten sagten?! Trautchen und Annastina, hieß das allein nicht Unterschied genug? Und doch: so wenig sich die beiden Frauen glichen, der stumme Vorwurf rotgeweinter Augen würde ihn auch heute durchbohren, genau wie damals. Hatte Annastina ihm nicht selbst gesagt, sie würde sich so etwas nie verzeihen, sie vermöchte mit dem Bewußtsein davon keinem mehr offen ins Gesicht zu sehn?
Aber was half das! Einmal mußte es ja sein. Er wollte sie schon trösten, wollte sie einfach überwältigen mit seiner Dankbarkeit für ihre große, alle Schranken niederreißende Liebe. Also: nur Mut! Und Toni räusperte sich zaghaft. Sie schaute sich um. Zuerst erschrak er beinah, weil ihre Miene alle seine Befürchtungen Lügen strafte. Von Trostbedürfnis zeigte sich da kein Schatten und keine Spur von Reuetränen.
»Du hast so gut geschlafen«, sagte sie mit einem lieben Lächeln, Ihm fiel ein Stein vom Herzen, es wurde ihm vor Freude heiß im Kopf. Nach kurzem, zierlich kokettem Zaudern huschte sie schnell heran, setzte sich auf sein Bett und gab ihm einen Kuß. Dann senkte sie die Stirn wie ein verschämtes kleines Mädchen und hielt die Hände flach nebeneinander gegen seine Brust. »Jetzt«, begann sie und stockte, bevor sie weitersprach, »jetzt kann uns nichts mehr trennen!«
Dies Wort wollte ihn für den Bruchteil einer Sekunde fast ernüchtern. Nicht einmal Trautchen, der sie doch schnödeste Spekulation vorwarf, hatte ihm auf die Art gleichsam die Quittung präsentiert. Doch kaum geboren, war der Gedanke schon verscheucht. Annastina barg ihr Gesicht an seiner Schulter und flüsterte:
»Du Lieber!«
Er warf die Arme fest um sie, Mund preßte sich auf Mund, Dann aber befreite sie sich sanft und trat zwei Schritte zurück,
»Ach, Annastina!« bat er.
»Nein, nein!« Sie hob den Zeigefinger neckisch wehrend gegen ihn. »Jetzt steigt der Herr mir endlich aus den Federn! Und ich hab' Hausfraunpflichten. Ich sorge in der Zeit fürs Frühstück. Ist's so recht?« Sie ging zur Tür und faßte nach der Klinke. »Nicht, Toni? Du beeilst dich und läßt mich nicht zu lange schmachten nach dem Kaffee. Ach so, du glaubtest wohl, nach dir? Und wenn's so wäre, würd' ich's dir nicht sagen. Denn eingebildet bist du schon genug.« Ein helles Lachen, ein spitzbübisches Zwinkern, draußen war sie. Mit beiden Füßen sprang der starke Mann aus seinem Bett. O Himmel, Herrgott, war das Leben schön!
Verdankte der Kaffee seine Güte auch der Kochkunst von Frau Liljeqvist, daß Toni ihn als den besten Frühtrunk empfand, den er noch je genossen hätte, war Annastinas Werk. Wie sie die Kanne hob, um einzuschenken, wie sie mit spitzen Fingern die Zuckerstücke aus der Dose holte, wie sie ihm seine Brote strich, darin lag eine Anmut, die ihn hinriß.
Toni ließ sich in dankbarem Behagen auf diese hübsche Art bedienen und verwöhnen. Er fühlte sich sehr heimisch in der Rolle des frischgebacknen Ehemanns. War er gleich eigentlich, wenigstens zur Zeit noch, mit einer ganz anderen verheiratet, ach was! Heute war heut! Und heute, vielleicht auch morgen noch, konnte ihn nichts erreichen von jener feindlichen Welt dort überm Wasser, die sein Zivilstandsregister kannte.
Gerade, wie er nun das Leuchten dieser Gewißheit in seinem Blick aufgehen ließ, zuckte er plötzlich nervös zusammen. Hallo, was war denn das? Er hatte draußen einen Laut vernommen der ihm in dieser Wildnis widerlich fehl am Orte schien: ein kreischendes Metallgetriller von ordinärer Durchdringlichkeit. Und richtig, seine Ahnung trog nicht: in der Tür erschien der alte Liljeqvist und meldete, Herr Gwinner werde von Koster aus am Telephon gewünscht. Im Vorgefühl unangenehmer Dinge sprang Toni auf und lief hinaus.
»Hier Gwinner!« rief er in den Apparat. »Wer dort?« Die Antwort war wegen starker Nebengeräusche schwer verständlich. Bald wußte er aber doch, daß er mit Philipp Ladurner sprach. Er hatte auch nichts anderes erwartet »No ja, und dann? Was willst du?« fragte er mürrisch.
»Seid ihr noch gut auf der Leuchtturminsel angekommen?« fragte es zurück.
»Bedaure, nein. Wir sind ertrunken«, erwiderte der starke Mann mit schöner Seelenruhe.
»Ach, Toni, deine Witze! Und habt ihr denn einigermaßen ein Nachtquartier gefunden?«
»Ah, Platz genug! Das reinste Hotel!«
»Ja, und wie ist es denn? Könnt ihr nun heute wohl zurück?«
»Nein, ausgeschlossen! Bei dem Sturm! Was sagst du? Aber Philipp, wenn du gar so Sehnsucht hast nach uns, komm du doch!« Toni grinste.
»O nein, nicht deshalb!« Man sah den Dichter förmlich mit beiden Händen die Zumutung von sich weisen. »Es liegt nur seit gestern hier ein Telegramm für dich«.
»Was!« rief der starke Mann.
»Ein Telegramm, eine Depesche an dich!«
»Ja, ja, ich hör' ja schon! Und was steht drin?«
»Soll ich es öffnen?« fragte Philipp, und man hörte, wie neugierig er selber auf den Inhalt war. »Sofort! Wo hab' ich es bloß hingesteckt? Einen Moment!«
»Ja, mach doch!« drängte Toni. Das Herz klopfte ihm heftig. Die Zeit, die der andre brauchte, wurde ihm zur Ewigkeit. Immer nur dieses Brausen und Pfeifen und zwischendurch dies sonderbare trockne Knattern im Telephon! Jetzt meldete sich des Dichters Stimme wieder:
»Bist du noch da?«
»Ja doch, lies vor!«
»Also, Toni: von Trautchen. Sie depeschiert ...« In diesem Augenblick wurde das Knattern so laut, daß es die weiteren Worte übertönte. Dann plötzlich ein schmerzhaft harter, heller Knall und danach Totenstille.
»Philipp, noch einmal! Ich hab' dich net verstanden. – Was nur mit dem saudummen Apparat is? Philipp! Hörst du net? He, Philipp!«
Hol' es der Kuckuck! Unterbrochen! Toni rief Annastina. Sie möge so gut sein und den Inspektor bitten, die Verbindung wiederherzustellen. Der Alte kam und kurbelte und lauschte, kurbelte und lauschte ...
Schließlich fragte er, ob sich am Ende irgendein besonderes Geräusch im Hörrohr hätte vernehmen lassen. Und als er von dem scharfen Knall erfuhr, nickte er gleichsam beruhigt. Dann sei eben einfach der Draht gerissene. Das käme bei Sturm sehr häufig vor. Wie lang' die Störung dauern würde? Tja, das wisse er selber nicht. Handle es sich um einen Bruch auf einer von den Wasserstrecken zwischen zwei Inseln, so müsse zum Flicken ruhiges Wasser abgewartet werden. Ein paar Tage könnten leicht darüber hingehn.
»Teufel, Teufel!« murmelte der starke Mann. Das war ja eine schöne Geschichte, das! Hätte doch dieser lyrische Spitaler gescheiter noch eine Viertelstunde mit dem Anruf gewartet! Dann wär' die Leitung zuvor kaputt gewesen, und man brauchte sich jetzt den Kopf nicht zu zerbrechen. Ja, ja, man soll sich nur so recht auf etwas freun – da wird einem auch prompt ein Knüppel zwischen die Füße geworfen! Nun war das Beste von der Sache schon dahin!
Zum Glück fand Annastina ein kluges Mittel, ihn zu trösten: sie spottete über seine Unruhe. Herrgott, es handle sich doch sicher um weiter nichts, als um die inhaltschwere Nachricht: »Glücklich in Pasing angekommen.« Ob er's denn selber nicht ein bißchen kleinbürgerlich finde, hinter jedem Telegramm gleich irgendeine Hiobsbotschaft zu suchen.
Nein, sich als Kleinbürger von dieser Frau der großen Welt bemitleiden zu lassen, tat Tonis Eitelkeit zu weh. Er raffte sich aus dem Trübsinn empor und gab ihr lächelnd recht, auch innerlich bei sich. Seinen Brief an Trautchen hatte er erst gestern nachmittag in den Kasten geworfen. Und hinter Micheles harmloser Halsentzündung eine Gefahr wittern zu wollen, das grenzte doch an Hysterie. Er machte seine Ohren taub für das Geraum der Sorge. Uns wollte die sich doch wieder eifrig tuschelnd hören lassen, so schien Annastinas Feingefühl das gleich zu spüren. Sie wurde dann besonders weich und zärtlich und fachte hiermit eine Freude in ihm an, die die ganze übrige Welt hinter einem prasselnden Flammenvorhang verbarg. Oder sie lenkte ihn von der Schau nach innen dadurch ab, daß sie ihm einen weiten Ausblick öffnete über die klug in Dunkel gehüllte nächste Zukunft hinweg in die blauen Fernen künftiger schönerer Zeit.
Toni berauschte sich an ihrem Wesen, ihren Worten, an Leidenschaft und Hoffnung. Nur um so durstiger, mit um so heißerer Gier schlürfte er den Taumeltrank, den sie ihm reichte, weil ihm vom Grunde dieses Bechers unsichtbar zwei ruhige, erbarmungslos sichere Augen entgegenstarrten: die leeren, in ihrer Leere rätseltiefen Augen der Lebensangst, die hinter dem Genusse lauert, wie unter einem jugendschönen Antlitz heimlich der weiße Schädel grinst. Ins Unbewußte hinabgescheucht, nicht tot war Tonis Sorge. Dort unten, wo kein Gedanke vor ihr Wache hielt, lag sie, zum Sprung geduckt, und harrte ihrer Zeit.
Noch einmal sang das Tosen der Elemente Toni und Annastina auf der Leuchtturminsel in guten Schlaf. Als sie der nächste Morgen weckte, war der Sturm endlich müde geworden. Dafür plätscherte nun der Regen still herab und legte rieselnde Gespinste von Silberfäden an die Scheiben. So kam der Nachmittag, bevor man sich ohne die Furcht, durch und durch naß zu werden, einschiffen konnte. Die zwei hatten es auch da noch gar nicht eilig damit. Ohne daß eins es dem andern sagte, ohne daß es ihnen überhaupt richtig bewußt ward, empfanden sie beide diese Ursholmer Tage als etwas, das so nie wiederkäme.
Carlsson und der Inspektor waren es, die, sobald es nicht mehr regnete, dringend zum Aufbruch mahnten. Der Wind flaute zusehends ab, es sei jetzt höchste Zeit, wenn man noch heute bei Tag Koster erreichen wolle. Und die Seeleute behielten mit ihrem Mißtrauen gegen das Wetter recht. Kaum hatte man den kleinen Hafen verlassen, da zeigte sich's schon, daß der Kutter, trotzdem das letzte Fetzchen Leinwand gesetzt war, betrüblich langsam vom Flecke kam. Wie verschmitzt auch der Fischer die Segel stellte, um jeden Lufthauch einzusaugen, alsbald schlotterten sie wieder ohnmächtig und verdrossen. Dabei herrschte noch vom Sturm her starke Dünung. In langsamem, heimtückisch sanftem Takte hob die tief atmende Flut das fahrtlose Schifflein und ließ es wieder gleitend sinken, hob es und ließ es sinken, hob es und ließ es sinken.
Wer nicht ganz fest war, konnte da wohl ein sonderbares Gefühl ums Zwerchfell herum, in der Kehle und hinter der Stirn bekommen. Annastina wurde davon sehr bald gepackt. Sie erblaßte plötzlich bis in die Lippen und streckte sich längelang auf der Bank aus, erlaubte Toni gerade noch, ihr seinen zusammengerollten Wetterkragen als Kissen unter den Nacken zu schieben, bat ihn dann aber beinah heftig, sie nicht mehr anzurühren und kein Wort zu ihr zu sprechen. Ihr sei es zum Sterben elend. Er trollte sich mit hangenden Schultern zur andern Bank, setzte sich und stützte den Ellenbogen aufs Knie und das Kinn in die Hand. Verstohlen mitleidvoll schaute er zu ihr hinüber. Sie sah wirklich nicht so aus, als ob es ihr zum Sterben wäre, sondern schon fast wie tot. Merkwürdig spitz waren ihre Züge geworden, der Knochenbau trat scharf hervor, in den Senkungen dazwischen lagen kränklich gefärbte Schatten, deren ins Violette spielendes Grau schlecht zu den roten Haaren stand. Die ganze Schönheit Annastinas war ausgelöscht.
Und war nicht alle Schönheit der Erde wie ausgelöscht? Toni stieß einen Seufzer hervor. Die Landschaft aus Wasser und Granit, die ihn sonst bald durch heitere Anmut, bald wieder durch feierliche Größe hingerissen hatte, heute lag sie in gottverlassener Melancholie unter dem gleichmäßig düsteren Himmel: eine kalte Trauer wehte von ihr her und drang bis in die Tiefen seiner fröstelnden Seele. Er suchte sich emporzuraffen, aber umsonst: er konnte nicht dagegen an. So scheuchte er denn die Gedanken fort; und sie ließen sich willig scheuchen. Er versank langsam in eine Art Betäubung. Auch hinter seiner Stirn rumorte es dumpf.
Wenn bloß erst diese Fahrt ein Ende hätte! Aber sie schien ewig dauern zu wollen. Der Wind schlief gänzlich ein. Carlsson mußte sich, mit saurer Miene, zum Rudern entschließen. Er tat es lustlos; denn nützen konnte all seine schwere Müh' und Plage auch nicht viel. Eintönig klopften die Riemen in den Dollen und schlugen gleichsam den Takt zu dem trägen Steigen und Sinken des Kutters. Toni horchte in wachsender Erbitterung auf diesen Laut. So neigte sich der Tag. Bleigraue Dämmerung stieg, einem dünnen Rauche gleich, aus dem Meer empor. Bald würde es Nacht sein. Da aber wuchs von neuem eine sonderbar fahle Helligkeit. Toni schaute sich überrascht um. Im Westen, wo die Sonne hinter dichter Wolkendecke zur Rüste gegangen war, stand jetzt auf einmal ein breites und hohes Stück klaren Himmels, mattgelb am Horizonte, nach oben mählich in ein blasses Grün verlaufend. Der Widerschein davon legte sich silbrig auf das Wasser und verwandelte es in schwerwogendes geschmolzenes Metall. Tief sammetschwarz standen die kleinen Klippeninseln gegen den geisterhaften Glanz. Toni gemahnten sie an eine Reihe von schwarzen Särgen. Er hätte weinen mögen und wußte nicht, warum.
Zur Landungsbrücke beim Hotel wäre man wohl kaum vor Mitternacht gelangt. Carlsson setzte deshalb seine Passagiere am ersten Steg ab, den man auf Koster erreichen konnte, ganz in der Nähe des Gwinnerschen Badestrandes. Von dort war es gottlob kein weiter Weg mehr bis zum Schusterhaus. Annastina hatte es eilig, heimzukommen. Vor dem Gedanken, heute noch etwas essen zu sollen, drehte sich ihr der Magen um. Sie sehnte sich nur nach ihrem Bett und wollte es bestimmt vor morgen mittag nicht verlassen. Schwer hing sie an Tonis Arm, als sie so durch die sinkende Nacht über den steinigen Pfad stolperten. Auch sein Schritt war nicht sicher. Der Boden schwankte ihm fort und fort unter den Füßen. Wie da erst ihr zumut sein müsse, konnte er sich leicht vorstellen. In lebhaftem Mitleid versuchte er es ein paarmal, sie mit einem zärtlichen Streicheln, einem ermunternden Zuspruch zu trösten. Aber sie wies das immer merkwürdig gereizt zurück. Und durfte ihm auch klar sein, daß diese Heftigkeit gar nicht ihm galt, er fühlte sich doch bitter gekränkt und fragte sich selber ein bißchen tränenselig, ob es mit ihrer Liebe zu ihm denn schon vorbei sei. Mit einer Art von Wollust hätschelte er diese sentimentalen Erwägungen: vielleicht, weil sie ihm einen greifbaren Grund lieferten für die dunkle Traurigkeit, die immer schwerere Gewichte auf seine Seele lud.
Annastina war viel zu sehr mit sich und ihrem Zustand beschäftigt, um seine still pathetischen Anstalten zu beachten. Schließlich aber, da sie ihn an der Tür ihres Hauses mit kurzem Abschied entlassen wollte, mußte sich ihr wohl aufdrängen, was für ein wehleidig vorwurfsvolles Gesicht er schnitt. Ein mattes Lächeln geisterte um ihre Lippen, sie legte die Fingerspitzen zu leichtem Druck auf seine Schulter und sagte sanft:
»Sei mir nicht böse, Lieber! Ach, wenn du wüßtest, wie mir ist! Auf morgen, Toni! Du holst mich doch zum Mittag ab, nicht wahr? Schlaf schön! Und sei vergnügt! Morgen ist alles anders. Ja!« An herzliches Nicken, ein Spitzen ihrer Lippen wie zum Kusse, und schon schnappte die Tür hinter ihr ins Schloß.
»Morgen«, sprach ihr der starke Mann mechanisch nach. Sonderbar, dies: morgen schien ihm unendlich fern. Ein Weilchen stand er und starrte auf den Fleck, wo sie verschwunden war, als sähe er sie noch. Dann wendete er sich ab und ging. Als er aber um den nächsten Felsbuckel bog, der ihn gegen jede Sicht vom Haus her deckte, fuhr plötzlich ein Ruck durch seinen Körper. Toni begann zu laufen, lief, bis ihm schier die Brust zerspringen wollte, blieb keuchend stehen, ließ sich jedoch nicht Zeit, richtig Luft zu schöpfen, und rannte schon wieder. Er strauchelte über einen Stein, stürzte, schlug sich das Knie wund, raffte sich ärgerlich fluchend empor. Weh tat das. Einerlei! Nur weiter! Ihm frommte kein Aufschub mehr, die Frist war um, die Sorge ließ sich nicht mehr beiseitedrängen und lügnerisch vermummen. Die Angst, die ihr Opfer so lange heimlich geduckt belauert hatte, jetzt war sie ihm an den Nacken gesprungen, schlang ihre Pranken würgend um seinen Hals und hetzte ihn.