Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Achtes Kapitel

Der Rittmeister stellt den Philosophen auf sonderbare Proben, und Hildegard empört sich gegen den kategorischen Imperativ.

Als Hartmut die Länge des hochummauerten Gartens durchschritten hatte und zu den Türmen kam, fand er sich angezogen und auferbaut durch den Anblick des einen von ihnen, der, zur Hälfte eingestürzt und von dichtem Efeu überwuchert, schwermütig stimmungsvolle Kunde zu geben schien von einer größeren Vergangenheit dieser Stätte. Der andere dagegen, rund erhalten und reinlichen Ansehens, das mächtige Mauerwerk unregelmäßig von kleinen nüchternen Fenstern mit weißen Gardinen durchbrochen, erregte ihm ein Gefühl furchtsamen Unbehagens. ›Der sieht aus wie ein preußischer Soldat‹, dachte er, ›kahl und protzig!‹ Und es wäre ihm weitaus lieber gewesen, wenn er hätte vorüberschleichen und dem unbehaglichen Rittmeister entgehen können.

Doch schon scholl ihm von der Schwelle dieser fremdartigen Behausung her ein feierlicher Gruß entgegen:

»Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn!«

Und er sah auf den Stufen einer kleinen Vortreppe Herrn Anton Reff sitzen mit überaus gerötetem Angesicht, eine fast geleerte Flasche im Arm haltend und einen durchdringenden Schnapsgeruch ausströmend. Jener machte einen Versuch, sich an dem Geländer emporzuheben und dem nahenden Gaste entgegenzutreten, sank aber sogleich hilflos zurück und blickte sehr treuherzig und fast schelmisch zu Hartmut empor.

»Herr, sei mir gnädig«, sagte er mit lallender Zunge, »denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken. Und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach, du Herr, wie solange!«

Hartmut streckte ihm die Hand entgegen, um ihn 190 aufzurichten; aber auch das vergebens; alle Sehnen seiner Gelenke schienen zugleich zerschnitten zu sein.

»Ich habe Schnaps getrunken, o Herr«, sagte er mit einer gewissen Freudigkeit, »sehr viel Schnaps habe ich genossen.«

Hartmut vermochte seinen Widerwillen nicht völlig zu verbergen; doch der Küster fuhr mit ganzer Unbefangenheit fort:

»Erkennet doch, daß der Herr seine Heiligen wunderlich führet. Glauben Sie denn, aus sündhafter Begierde hätte ich Schnaps gesoffen, gnädiger Herr? Das sei ferne. Kennen Sie denn nicht unseren lieben Rittmeister? O ja, Sie kennen ihn. Und wie lautet die Lehre unseres lieben Rittmeisters? Der Mensch soll nicht nachgeben ungerechten Gefühlen des Abscheus, der Verachtung oder gar des Ekels! Das ist einer von seinen kategorischen Imperativs. Und darum so will ich auch nicht so sein, und weil mir vor dem Schnaps so sehr ekelt, daß mir von dem Geruch schon ganz schlimm wird, darum so gebe ich doch solchem ungerechten Gefühle nicht nach, sondern trinke ihn nun erst recht mit aller Gewalt, soviel in mich 'reingeht, und das ist 'ne höllische Portion; und das nennen wir hierzulande dem Schnapse Gerechtigkeit widerfahren lassen. Denn der Gerechte erbarmet sich auch seines Viehes. Und davon kommt denn so was. Wie geschrieben steht: Ich gehe krumm und sehr gebückt; den ganzen Tag gehe ich traurig. Es ist mit mir gar anders und bin sehr zerstoßen. Ich heule vor Unruhe meines Herzens. Sehen Sie, gnädiger Herr, so spielt das eben mit mir!«

Er sah mit einem tränenfeuchten Blick zu Hartmut auf und machte einen neuen Versuch, sich zu erheben. Diesmal gelang es, und nachdem er sogar die Höhe der Treppe glücklich erreicht hatte, schoß er wie ein abgehauener Baum vornüber und geradeaus in die halboffene Haustür hinein.

Hartmut folgte ihm in Eile, um vielleicht Schaden zu verhüten, und gelangte, einen schmalen Treppenflur überschreitend, in einen fast kreisrunden Saal, dessen glattgeweißte Wände mit einigen alten Ritterrüstungen und Waffenstücken aus der Zeit des deutschen Ordens, vornehmlich tüchtigen Schlachtschwertern behängt, sonst völlig schmucklos waren. Gleichwohl 191 stellte dies öde, nüchterne Gemach, wie aus den Gerätschaften zu schließen war, offenbar das eigentliche Wohnzimmer des Hausherrn dar. Der Eintretende ward von einem fröstelnden Gefühl überlaufen; wie unwohnlich erschien ihm die Weite des Raumes, wie armselig die Ausstattung desselben, wie klotzig und geschmacklos alle Einzelheiten!

Doch ward sein Auge schnell abgelenkt auf die klägliche Gestalt des armen Anton Reff, der inmitten einer weiten Fläche des leeren Fußbodens halbhingestreckt dasaß und sich vergebens nach einem festen Gegenstande umsah, an den er sich stützen könnte.

»Du hast mich in die Grube hinuntergelegt, in die Finsternis und in die Tiefe«, sagte er traurig.

Hartmut fühlte ein Erbarmen und schob ihm einen großen hölzernen Lehnstuhl, der jedes Bezuges und jeder Polsterung entbehrte, herzu; Anton Reff lehnte sein Haupt daran und sagte mit einem noch mehr milden als blödsinnigen Lächeln:

»Entsündige mich mit Ysop, daß ich rein werde; wasche mich, daß ich schneeweiß werde. Unser lieber Rittmeister wird wissen, daß es nötig war, in diesen tiefen Pfuhl zu sinken, auf daß der Tugendstolz mich nicht überwältige. Denn Sie müssen wissen, gnädiger Herr, er macht es ja auch so: weil er leicht in Überhebung fallen könnte, ebenso wie ich, von wegen seiner großen Tugend und seinem kategorischen Imperativ, darum hat er sich selbst einen Bußtag in jeder Woche ausgesetzt, wo er das Blaue vom Himmel 'runtersündigt mit Schmuggeln und Leuteaufhetzen und Ungehorsam wider die Obrigkeit und sonst noch lauter Verräterei, und bei der Gelegenheit darf ich mir denn auch mal ein bißchen was Feuchtes leisten, weil die Luft am Strande sonst zu scharf ist für mich. Nu werden Sie sagen, dazu wäre wohl erst Mittwoch Zeit gewesen, was unser Bußtag ist, und heute haben wir erst Montag; aber das ist's ja eben: es war auch heute bloß 'ne kleine Vorübung, weil der Tugendstolz diese Woche ausnahmsweise zwei Tage zu früh bei mir ausgeschlagen war. Darum habe ich mich selbst erniedrigt; denn wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden. Wie geschrieben steht im 192 Buche Sirach: Sehet mich an: ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt und habe großen Trost gefunden.«

Hartmut stand in einiger Verlegenheit und wußte nicht recht, in welchem Tone er mit dem seltsamen Trunkenbold reden sollte; auch gab ihm die ausgeplauderte Neuigkeit von den rätselhaften Bußetaten des Rittmeisters Überraschendes zu denken.

Indem seine Blicke also etwas unsicher an den Wänden umherglitten, fielen sie unversehens auf zwei kleine Bildchen, die nicht weit voneinander hängend in leidlicher Kreidezeichnung einen jungen Mann und ein Mädchen darstellten, von denen er das letztere mit freudiger Bewegung sogleich erkannte und einen Schritt näher darauf zu trat.

»Das ist unser liebes Fräulein Lisbeth und der Herr Ulrich Seybold«, sagte Anton Reff, »aber die beiden kriegen sich ja nun doch nicht.«

Und auf Hartmuts wider Willen erregte und fragende Miene fügte er hinzu:

»Unser lieber Rittmeister will es nicht. Sie passen nicht zusammen. Der Herr Ulrich braucht eine stramme Person, die ihn feste an die Leine nimmt. Aber die liebe Lisbeth, sehen Sie, gnädiger Herr, das wäre so ein Bissen für Sie; und Geld hat sie auch. Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat, des lebt er noch eins solange. Verlassen Sie sich darauf, der Herr Ulrich kriegt sie nicht und will sie auch gar nicht. Ich rieche so manchmal was durch die Lüfte und kenne meinen Rittmeister und etliche andere Leute noch außerdem. Und es ist immer gut, wenn man die Nummer im Gesangbuch und den Text von der Predigt kennt, daß man nicht in 'nen falschen Sonntag gerät, auch nicht mit etlichen Morgenschnäpschen im Unterleibe. Fischen Sie sich die, gnädiger Herr, und ich sage Ihnen, Sie brauchen das Trinkgeld für meinen guten Rat nicht aus Ihrer eigenen Tasche zu bezahlen. Tue dem Frommen Gutes, so wird dir's reichlich vergolten, sagt Jesus Sirach.«

Hartmut empfand dieses Gerede als etwas Widerwärtiges und Gemeines, und doch durchschauerte es ihn zugleich seltsam 193 mit einer sanften Wärme, als ob ein unwirkliches Traumgebild der Erde und den derb schauenden Sinnen ein wenig näher gerückt wäre. Doch er schüttelte wehmütig das Haupt und wandte die Blicke hastig von dem Bilde des Mädchens ab.

In diesem Augenblick erscholl von draußen her ein kräftiges Räuspern, und wie von einem Zauberstabe berührt, wälzte Anton Reff sich herum, klammerte sich mit den Händen an die Arme des schweren Sessels und kletterte mit großer Mühsal, aber doch erfolgreich, daran in die Höhe, bis er sich auf die Füße gestellt hatte, um dann mit fast unbegreiflicher Geschwindigkeit zur Tür hinauszufliegen, wie in einem waagerechten Fallen. Zuletzt hörte man ihn draußen mit unsäglichem Poltern, Schurren und Krachen die Treppe hinaufstolpern.

Nicht lange danach trat der Rittmeister ein. Mit einem stolzen Blick auf die mittelalterlichen Waffenstücke rief er ohne weitere Einleitung:

»Ja, sehen Sie, Herr Doktor der Philosophie, das waren Kerle, unsere preußischen Deutschritter! Gepanzert ganz in Eisen und Pflicht! Groß im Siege, groß im Untergange. Sind aber gar nicht untergegangen! Haben dennoch gesiegt und siegen noch jeden Tag weiter. Den allerherrlichsten Sieg hat unser Ritterorden erst zu unseren Lebzeiten errungen, als sein Großmeister Immanuel Kant sein wahres Feldgeschrei in die Welt schmetterte, seinen kategorischen Imperativ, den großen Siegesruf über all das polackische, kassubische und masurische Gesindel um uns her und den Siegesruf auch über die Franzosen und die anderen Lumpenhunde Bonapartes! Passen Sie auf, junger Rheinbündler, wenn Sie noch ein paar Wochen oder Monate in unserem schönen Lande bleiben, werden Sie etwas erleben, das Sie sich nicht haben träumen lassen! Ich sage Ihnen, die alten Ritter werden den Schlachtruf ihres neuen Großmeisters hören und werden aus ihren Gräbern aufstehen und ihre rostigen Schwerter packen – da, nehmen Sie einmal ein so altes Ritterschwert in die Hand, Sie hinterdeutscher Jüngling, und sehen Sie zu, ob Ihnen nicht ein 194 paar Funken von altpreußischem Kriegsfeuer durch den Arm in die Seele sprühen!«

Er nahm, schnell vorschreitend, zwei tüchtige Schwerter von der Wand, drückte das eine Hartmut in die Hand, stand ihm gegenüber und sprach:

»Das sind die zwei kleinsten Dinger, die ich aufgetrieben habe. Und sehen Sie wohl, das da ist nicht zu schwer für Sie, Sie heben es ganz leicht. Also vorwärts auf einen kleinen Gang – Sie haben als Studiosus doch fechten gelernt?«

Hartmut nickte nur stumm und ward blaß vor Schreck, als er den schlimmen Alten plötzlich mit ausgelegter Klinge kampfbereit vor sich stehen sah.

»Herr, aber wie stehen Sie denn da?« rief dieser jetzt, und sein Tigerblick spielte furchtbar um den zitternden Jüngling, »Sie sehen ja aus, als ob Ihnen eine ganze nichtswürdige Realität des Raumes auf die Kniekehlen drückte! Das kommt davon, wenn einer aus dem Reich sich unterfängt, Kantische Grundwahrheiten zu bezweifeln! Kopf in die Höhe! Hacken zusammen! Wär' ich Ihr Korporal, ich ließe Sie so lange auf einem Beine stehen, bis Sie die Idealität von Zeit und Raum mit Pauken und Trompeten in sieben Tonarten verkündeten. Aber Sie, lieber Herr, Sie können ja nicht einmal sitzen! Gestern abend hinter der Bouteille, wie saßen Sie denn da! Wie die reine praktische Unvernunft! Wie ein Kater auf dem Schleifstein! Und das will über Kant mitreden! Und doch sind Sie der Schlechteste noch nicht aus dem Reich; wer zwanzig Stunden hintereinander auf einem Flecke sitzen und Rheinwein trinken kann, ohne abzufallen, der kann doch immer schon etwas. Erstes Stadium der Brauchbarkeit. Zweites wäre: zwanzig Stunden lang Wasser trinken. Zehnmal schwerer. Versuchen Sie's, Herr. Aber jetzt – Herr Doktor, Sie zittern ja!«

»Ich bin das Fechten nicht mehr gewohnt«, stotterte der Philosoph, »und zudem, so ohne Korb und Binde . . .«

Der Alte stieß sein Schlachtschwert in das Holz des Fußbodens, stemmte beide Arme darauf, stand breitbeinig und sprach:

195 »Herr, wenn man Ihre Seele mit zweizölligen Eisenplatten beschlüge, wäre sie allenfalls noch als Waschlappen zu gebrauchen!«

Und dann nach einer schrecklichen Pause, die Waffe wieder hebend:

»Legen Sie sich aus, mein Herr, wenn Sie nicht in zwei Sekunden zehn Flache um den Schädel haben wollen, daß er aufschwillt wie ein Dudelsack – So – ganz gut – Sehen Sie, es geht schon, wenn Sie nur wollen – Ihre Auslage ist nicht die schlechteste – los!«

Hartmut hatte wirklich in der Angst des Augenblickes sein Schwert erhoben und stand in leidlicher Deckung da. Und nun sausten die Hiebe seines Gegners hageldicht mit betäubendem Rasseln und Klirren auf seine Klinge, von rechts und von links, von oben und von unten, daß die ihm wie ein ununterbrochener Feuerregen dicht vor den Augen aufsprühten, und er jeden Moment darauf gefaßt war, mit gespaltenem Schädel zu Boden zu sinken.

Der Rittmeister aber führte seine Klinge mit spielender Leichtigkeit; obgleich die unsichern und ungeschickten Zuckungen der parierenden Waffe ihm sein Spiel sehr erschwerten, verstand er es doch meisterlich, die Schwertspitze seinem Opfer beständig dicht vor den Augen flirren zu lassen, ohne ihm doch ein Haar zu krümmen.

Allmählich erholte sich denn auch der ärmste Jüngling ein wenig von der Lähmung des ersten Schreckens, seine Haltung ward fester, sein Arm ruhiger, sein Auge gewann die Fähigkeit zu beobachten und die feindlichen Hiebe mit bewußterer Absicht zu parieren, ohne daß er jedoch selbst einen Gegenschlag wagte. Wie jedoch das qualvolle Spiel immer und immer kein Ende nehmen wollte, überkam ihn zuletzt eine verzweifelte Entschlossenheit. Er lauerte und lauerte mitten unter dem schauervollen Schwirren und Klirren der Schwerthiebe, bis er plötzlich einen günstigen Augenblick erfaßte, mit einer gänzlich überraschenden Tiefquart vorfuhr und dem Feinde die Waffe aus der Hand schlug.

196 Nun war er von der ausgestandenen Angst so sehr mit zornigem Gift gesättigt, daß er sich in dem berauschenden Gefühle seines jähen Sieges nur mühsam von einer unritterlichen Ausnutzung desselben zurückhielt. So viel aber tat er wenigstens für sich und seines Herzens Entlastung, daß er den Entwaffneten mit heftigen Lufthieben umkreiste und ein angestrengt toddrohendes Gesicht dazu machte.

Der aber stand so ruhig abwartend, als wenn er jeden Schlag mit den Augen allein parieren könnte, und rief endlich vergnügt:

»Bravo, junger Mann! Ein gesunder Funke steckt doch in Ihnen, nur etwas reichlich tief drinnen und etwas schwer herauszuholen. Angst und Wut sind, wie ich sehe, wirksame Mittel; doch es muß auch bessere geben, mehr vom Imperativ ausgehend. Werden sehen. Werden sehen.«

Während dieses Zuspruchs war Hartmuts Blick unversehens auf das Bildnis des Fräuleins Lisbeth an der Wand gefallen, und alsbald durchzuckte ihn mit freudiger Kraft der Gedanke: Wenn sie mich so sehen könnte! Und wenn ich dennoch ihrer würdig werden könnte! Und die Reden des trunkenen Küsters zogen ihm wieder mit seltsamer Lockung durch die Seele.

Er stellte nun seine wütenden Scheinangriffe ein und stand wieder still und mißtrauisch da, eine neue Tücke erwartend, mit arbeitender Brust und bebenden Gliedern. Der Rittmeister betrachtete ihn fast mitleidig:

»Sie armer Herr«, sagte er bedächtig, »wenn die Natur Ihnen so schlechte Nerven gegeben, und die Erziehung sowenig dafür getan hat, sie durch den Willen zu beherrschen, so begreife ich nur das eine nicht, woher gerade Sie den Mut nehmen, in einem öffentlichen Vortrage Ihre Mitmenschen über die Lehre Kants von der Bemeisterung krankhafter Gefühle durch die Macht des Willens aufklären zu wollen. Sollten nicht vielleicht von allen Sterblichen Sie am wenigsten zu der Rolle eines solchen Mahners berufen sein?«

Hartmut errötete und senkte hastig den Blick vor dem Bilde, beschämt und verwirrt; dann aber hob er ihn schnell, 197 sah dem Alten sicher ins Auge und sagte mit ganz fester Stimme:

»Herr Rittmeister, was mir diesen Mut gibt, ist an erster Stelle das Bewußtsein, daß ich wie wenige Sterbliche erfahren bin in den schmerzvollen Kämpfen zwischen dem göttlich-edlen Willen und der dunklen, häßlichen, gemeinen Naturgewalt des niederen Begehrens, des dumpfen Fürchtens und des dumpfen Hoffens. Oh, ich weiß davon zu reden, wie dem Elenden zumute ist, der immer kämpft und immer unterliegt und immer wieder den hoffnungslosen Kampf aufnimmt, weil die bohrende Qual der Selbstverachtung ihn nicht ruhen läßt in dem Sumpf, in den die brutale Faust der ungleich begabenden Natur ihn von Geburt an hineinstieß und hohnlachend immer von neuem hineinstößt. Ich weiß davon zu reden, wie jenen Verdammten zumute ist, die ausgeschlossen sind von dem Himmel freudig selbstbewußter Menschenwürde und sich doch ewig mit verzehrender Qual nach diesem Himmel sehnen. Wer von der Natur mit herrlicher Siegkraft stählernen Willens ausgerüstet mühelos Herr wird seiner Begierden und feigen Schwächen, der steht wohl mit Recht geehrt und groß da vor den anderen Menschen; zu erzählen aber hat er ihnen wenig von den Schmerzen, die ihre, der ohnmächtig Kämpfenden, arme Brust durchwühlen. Daß ich aber solche Dinge zu erzählen habe, das ist's, was mir das Recht und den Mut gibt, öffentlich davon zu reden.«

Der Rittmeister hatte sich wieder breit auf sein Schwert gestemmt und sah dem so schwungvoll Redenden verwundert und nachdenklich ins Gesicht.

»Und dann noch ein zweites«, fuhr dieser mit schnell gedämpfter und nun ganz schüchterner Stimme fort, »ich nehme mir diesen Mut auch daher – daß ich den Mut besitze, öffentlich zu reden.«

»Ein rechter Mut!« rief der Alte verächtlich. »In hundert Kohlköpfe hineinzureden, das nennen Sie Mut? Für Ihre Trauerseele freilich mag auch das schon Mut bedeuten, aber sonst –«

»Haben Sie schon einmal frei vor einem lauschenden 198 Publikum gestanden, Herr Rittmeister?« unterbrach ihn Hartmut zagend.

»Herr, was bilden Sie sich ein?« brauste der Alte auf, »das sollte ich nicht kennen? Vor meiner Schwadron habe ich gehalten im Frieden und im Kriege, mit offenen Mäulern starrten die Kerle auf mich und lauschten, und dann – eine stramme Rede – und der Schluß hieß allemal: Vorwärts! Und vorwärts ging's wie ein Donnerwetter auf Karrees und Batterien los – Herr Doktor der Philosophie, zum Draufgehen braucht's allenfalls ein bißchen Mut – viel auch nicht –, aber zum Reden braucht's keinen!«

»Vielleicht nicht vor Ihren willigen und demütigen Untergebenen, Herr Rittmeister, doch wenn Sie es einmal vor einem kritisch gestimmten, kalten Publikum versuchen wollten – ich für mein Teil bekenne offen, ich habe mich soeben unter Ihren grausamen Schwertschlägen bitterlich geängstigt; aber sosehr wie allemal in dem Augenblick, da ich vors Publikum trete, habe ich nicht gezittert.«

Der Alte riß die Augen weit auf und strich mit zwei Fingern die Augenbrauen.

»Dann sind Sie ja ein ganz unmenschlicher Hasenfuß!« rief er fast mit einer gewissen Bewunderung aus. »Dummes Zeug, Publikum! Hundert Kohlköpfe habe ich gesagt. Das genügt. – Nein, das genügt nicht. Sie haben ganz recht, junger Mann, ich bin Ihnen den Beweis schuldig. Bin ihn mehr noch mir selber schuldig. Außerdem habe ich Ihnen Revanche zu geben: ich zwang Sie zu einem kleinen Duell, Sie fordern mich zu einem anderen; alles in Ordnung. Zwar nur ein Maulduell, tut aber nichts, Ihr Recht soll Ihnen werden; August Jageteufel hat noch keinem Hund sein Recht verweigert. Ganz schön; also heute abend will ich Ihnen Rede stehen vor Ihrem sogenannten Publikum. Will Sie und Ihre Kohlköpfe schon zusammenreiten, daß die armen Seelen es spüren sollen bis in die Flügelspitzen. Habe schon bessere Leute in Grund und Boden gedonnert als Sie mit Ihrem Vogelstimmchen. Mut! Mut! Das nennen Sie Mut! – Gut; schön; lassen wir das bis heute abend; wir werden sehen; ich 199 werde nicht fehlen; will Sie übrigens selbst einführen. Brauchen dann niemanden zu fürchten! Kritik gibt's hier nicht; ich verbürge Ihnen, daß keiner mucksen soll. Also abgemacht. – Jetzt aber, Herr Redemeister, hätte ich vorerst noch ein Stückchen für Sie zum Zeitvertreib, bis Ihre Schwester wiederkommt, nur ein Pröbchen zur Nervenstärkung. Können Sie gut eine Pistole knallen hören?«

Hartmut starrte erblassend geradeaus, als sähe er bereits in die Mündung eines Schießgewehres hinein.

»Lassen Sie gut sein, armes Kind«, sagte der Alte, milde lächelnd, »es soll Ihnen nicht an den Kragen gehen, nicht einmal an ein Ohrläppchen, höchstens ein bißchen an die Nerven. Nur aufs Knallen kommt es diesmal an, nicht aufs Treffen. Stellen Sie sich einfach vor, ich sei ein Publikum, und Sie brauchen nicht einmal zu reden, sondern schweigen sich langsam aus, und ich knalle Ihnen Beifall. Sie werden schon sehen: haben Sie nur die Güte, mir zu meinem Schießstande an der Gartenmauer zu folgen.«

Hartmut nickte in schaudernder Ergebung und wankte dem Voranschreitenden tapfer nach zur Tür hinaus.

Auf der mittleren Stufe der kleinen Freitreppe, die in den Garten führte, stand der Rittmeister plötzlich zusammenzuckend still und beugte, scharf aufhorchend, den Kopf vor mit einem Ausdruck der Aufregung und inneren Anspannung, als ob etwa ein ferner Kanonendonner das Anrücken einer feindlichen Heeressäule verkündete. Hartmut lauschte gleichfalls, vernahm jedoch nichts als ein zartes Miauen, und gleich darauf schmiegte sich nicht weit von dem Turme ein weißes Kätzchen zwischen den Büschen hindurch auf den offenen Gartensteig. Mit einer stürmischen Bewegung sprang der Alte ins Haus zurück und erschien gleich darauf wieder mit einer Waffe im Arm, die für eine alte Donnerbüchse oder Feldschlange gelten konnte, sich in Wahrheit aber alsbald als eine große Handfeuerspritze erwies; er erhob diese, zielte und wollte eben den Stempel hineinstoßen, als er plötzlich zurückzuckte und den Arm langsam sinken ließ, wie wenn eine unsichtbare Riesenfaust ihn mit Mühe niederdrückte.

200 »Nein!« sagte er dumpf; und nach einer kurzen Pause: »Oh, das Biest!« Und es lag eine Fülle von Abscheu in dem einen Worte.

Hastiger schritt er nun, seine seltsame Waffe doch im Arm behaltend, auf die äußerste Ecke des Gartens zu, die ein stattlicher Birnbaum mit seinen Zweigen füllte.

»Dies ist mein Schießstand«, sagte der Alte, »weiterer Vorkehrungen bedarf es nicht. Machen wir eine erste Probe. Sehen Sie den rostigen Nagel dort in der Rinde des Stammes? Wollen Sie sich gefälligst ganz genau merken, wie tief er im Holze sitzt; so, und nun treten Sie ein wenig zur Seite – genug, genug, Herr, genug! Ich schieße ja nicht mit Kartätschen; und in die Mauer können Sie doch nicht hineinkriechen!«

Er hob die Pistole und zielte kurz; ein Knall ertönte und fast gleichzeitig ein scharfer Klang am Baume, und Hartmut stellte mit Staunen und einem leisen Schauder fest, daß der Nagel um ein weniges tiefer in die Rinde getrieben war.

Der Rittmeister nickte mit ruhiger Befriedigung. »Das nennt man bei uns: den Nagel auf den Kopf treffen«, sagte er, »und darauf kommt hier in Preußen alles an. Merken Sie sich den Spruch, junger Rheinbündler. Und zum Überfluß noch ein paar Schüsse, damit Sie sich überzeugen, daß meine Hand heute sicher ist und Sie mir vertrauen können.«

Er gab noch ein halbes Dutzend Schüsse ab, alle mit dem gleichen sicheren Erfolge.

»Haben Sie jetzt die Meinung gefaßt, daß ich mich auf mein Auge verlassen kann?« fragte er sanft.

Hartmut nickte bewundernd und in bänglicher Erwartung dessen, das da kommen sollte. Nur zu bald fand er sich hierüber aufgeklärt.

»Gut«, sagte der Alte freundlich, »dann haben Sie jetzt also die Güte, selbst sich an den Baum zu stellen.«

Hartmut stand wie erstarrt und blickte ihn mit stummer Frage ins Gesicht.

»Oh!« rief der Alte mit einem Ton des Kummers, »aber Sie fürchten sich doch nicht etwa gar?«

201 Jener entfärbte sich immer sichtlicher und blieb ohne Rede und Bewegung.

»Ja, denken Sie denn, ich werde auf Sie schießen, Sie merkwürdiger Jüngling?« rief der Rittmeister mit anscheinender Verwunderung, »sollte mir einfallen, mich um Ihretwillen in Gerichtskosten zu stürzen! Habe gar nicht den Ehrgeiz, meine Rede heute abend an Ihrem Sarge zu halten. Seien Sie ganz ruhig, hier geht alles vernünftig und gesetzlich zu. Oben über Ihren Kopf hinweg will ich schießen, und zwar ins weiche Holz, daß die Kugel auch nicht abspringen kann. Die Geschichte mit dem Wilhelm Tell von Herrn Schiller werden Sie ja kennen; ich schieße Ihnen aber das Obst nicht vom Schädel herunter, sondern ziele einen ganzen Schuh höher; folglich verlange ich von Ihnen nicht halb soviel Courage, als der kleine Junge sie gezeigt hat. Sind Sie also bereit?«

Jetzt ermannte sich Hartmut plötzlich zu einer klaren und sehr entschiedenen Antwort:

»Nein, Herr Rittmeister, dazu werden Sie mich nicht bereit finden. Mag die Gefahr für mich dabei auch noch so gering sein, ich würde es doch für gewissenlos halten, mein Leben um einer Spielerei willen der Möglichkeit eines unglücklichen Zufalls auszusetzen.«

Der Alte blickte ihm sehr scharf ms Auge.

»Ist das die ganze Wahrheit oder eine halbe?« fragte er lauernd.

Hartmut verstand ihn und errötete.

»Mag sein, nur eine halbe«, sagte er ehrlich, »aber doch keine ganze Unwahrheit. Einem ernsten Zwecke zuliebe würde ich vielleicht die furchtsame Schwäche überwinden können, um ein Spiel vermag ich es nicht.«

»Ist es kein ernster Zweck für Sie«, fragte jener, »einem Manne zu beweisen, daß Sie soviel Kantisches Lebensblut in sich aufgenommen haben, um Ihrer krankhaften Gefühle und Nervenschwäche Meister zu werden?«

Hartmut trat schnell einen Schritt dem Baume näher, stand still, zauderte, tat noch zwei Schritte vorwärts, dann drei 202 zurück, wischte sich den Schweiß von der Stirn und stotterte endlich mit Tränen in den Augen:

»Ich kann es nicht.«

»Oh, oh, oh!« brummte der Rittmeister, steckte die Pistole in die Tasche, kreuzte die Arme über der Brust und wanderte tief nachdenklich hin und her.

Plötzlich stand er vor dem jungen Mann still und fragte gelassen:

»Halten Sie das Heiraten für eine ernste Angelegenheit?«

Überrascht und verwirrt blickte jener auf und stotterte nach einigem Zögern:

»Unzweifelhaft – äußerst ernst –«

»Sind Sie in meine Nichte verliebt?« fragte der Alte ebenso ruhig weiter.

Hartmut fuhr heftig zusammen, und ein jähes Rot überflog sein Gesicht.

»Herr Rittmeister«, sagte er mit leichtem Trotz, »ich glaube nicht, daß Sie ein Recht zu dieser Frage haben.«

»Ach, haben Sie sich doch nicht wie ein junges Mädchen!« rief jener ärgerlich, »Sie werden ja geradezu rot! In Ihrem Alter steckt man mit einem hübschen Frauenzimmer doch nicht so vertraulich zusammen, wie ich Sie eben abfaßte, ohne sich zu verlieben. In Ihrem Alter ist man überhaupt gewöhnlich verliebt. Schadet auch nichts; ist wenigstens kein Verbrechen. Etwas Vernünftiges ist's freilich auch nicht. Aber diese Liebe ist einmal da als eine dumme Tatsache, die man nicht aus der Welt schmeißen kann, obgleich das für die Welt besser wäre; man muß mit ihr rechnen; sie wenn möglich zu guten Zwecken wenden; man kann sie sogar zum Heiraten benutzen. Ein wahrer Jünger Kants, ein echter Mann sollte zwar niemals aus solcher Sorte Liebe heiraten, denn das heißt zugunsten der eigenen Begierde handeln ohne Berücksichtigung der Pflicht, meist auf Kosten der Pflicht. Doch eines schickt sich nicht für alle. Sie zum Beispiel sind kein echter Mann, der seine Neigungen meistert, sondern ein moralischer Krüppel. Sie geben das zu?«

203 Hartmut zuckte zusammen und schwieg.

»Gut denn«, fuhr der Alte bedächtig fort, »solche Leute wie Sie müssen sich gewissermaßen selbst überlisten, indem sie ihrem schwachen Willen die eigenen Begierden als Bundesgenossen zur Seite stellen. Wenn jemand zu träge, zu unentschlossen, zu feige ist, das Leben kräftig anzufassen, so belausche er seine niederen Triebe und sehe zu, welcher von diesen der stärkste ist, der Ehrgeiz, die Sinnlichkeit oder welche immer, und setze den seinem lahmen Willen als Sporn in die Flanke. So kann er sich langsam zu einem Menschen dressieren, der zwar nicht rein den edleren Zielen des kategorischen Imperativs nachlebt, aber doch ein nutzbares Mitglied des Staates darstellen kann. – Das ist Ihr Fall; meinen Sie nicht auch? Natürlich. Nun hören Sie: ein Mensch wie Sie darf nicht einspännig und liederlich durch die Welt trotten. So ein unsolides Gemäuer wie Sie braucht einen tüchtigen Strebepfeiler; einen solchen finden Sie in der Ehe und im Hausstande. Fest steht also, daß Sie heiraten müssen, junger Herr. Fest steht aber auch, daß Sie viel zu feiger Natur sind, um sich je aus reinem Pflichtgefühl zur Heirat zu entschließen. Es gehört ein ganz anderer Heldenmut dazu, sich mit sehenden Augen eine so ungeheure Schererei auf den Hals zu laden, wie die Ehe ist. Darum also ist es Ihre Aufgabe, sich selbst zu überlisten, Ihren Willen an die Leine zu nehmen, sich Scheuklappen vor die Augen zu binden. Und siehe da! Durch einen Zufall läuft Ihnen eine ganz brauchbare Leidenschaft über den Weg; halten Sie die fest, mein Sohn, benutzen Sie diese Dummheit mit klugem Rat, lenken Sie die blinde Neigung listig nach den klaren Zweck Ihres sittlichen Willens, und Sie werden den Mut und den Entschluß finden. Sie sind verliebt: heiraten Sie!«

Hartmut stand wie im Traum und starrte den wunderlichen Redner in grenzenloser Verblüfftheit mit weit aufgerissenen Augen an. Die bloße Möglichkeit einer nahen Hoffnung, die ihm hier so plötzlich eröffnet ward, übertäubte sein Herz wie ein süßer Schwindel, daß er für den Augenblick alles vergaß, was er mit dem geliebten Mädchen vor kurzem geredet hatte.

204 Der Rittmeister ließ ihm Zeit, sich zu erholen, und übte sich unterdessen gemütsruhig in blindem Zielen.

Endlich brachte der Jüngling einige Worte hervor.

»Es ist unmöglich«, stammelte er. »Ich bin ihrer nicht wert, kann ihrer niemals würdig werden!«

Der Alte kehrte sich ruhig zu ihm herum:

»Ja, sehen Sie, das ist's eben«, sagte er, »im ersteren haben Sie recht, noch sind Sie freilich für ein ordentliches Mädchen nicht verwendbar; ob Sie's aber nicht doch noch werden können, das sollen Sie gerade jetzt erweisen. Das ist der ernste Zweck, der Ihre jammerhaften Nerven stärken soll. Zeigen Sie mir, daß Sie Mark genug in den Knochen haben, Ihr Eheweib im Notfall auch mit der Waffe in der Hand gegen Verunglimpfung verteidigen zu können, zeigen Sie mir, daß Sie imstande sind, ohne Nervenzufälle in die Mündung einer geladenen Pistole zu blicken – dann können wir nachher über diese Geschichte vielleicht weiter reden. Bringen Sie das nicht zustande, verlassen Sie sich darauf, dann kriegen Sie das Frauenzimmer in Ihrem ganzen Leben nicht. Mein Wort darauf: ich bin der Rittmeister August von Jageteufel.«

Hartmuts Züge arbeiteten heftig in einem innern Aufruhr; plötzlich tat er einen gewaltsamen Ruck, als ob er den Entschluß gefaßt hätte, sich von einem Felsen in den Abgrund zu stürzen, und trat mit hastigen Schritten an den Stamm des Birnbaumes.

Der Rittmeister nickte befriedigt, hob die Waffe und zielte. Lange zielte er und bedächtig; Hartmut sah das schwarze, schauerliche Loch genau auf seine Stirn gerichtet. Er hielt stand und wich keinen Zoll zur Seite; aber sein Gesicht ward totenbleich, seine Arme sanken schlaff am Körper herab, sein Kopf nickte vornüber, und er glitt ohnmächtig am Stamme nieder zur Erde.

»Wahrhaftig, der arme Wurm fällt in Ohnmacht vor Angst«, sagte der Rittmeister kühl, zielte mit nachlässiger Handbewegung in das Gezweig des Baumes und schoß eine unreife Birne herunter.

Kaum aber war der Schuß losgegangen, als eine kräftige 205 kleine Hand ihm die Pistole entriß und weit von ihm weg in das Gras warf.

»Was ist das für eine Abscheulichkeit, mein Herr?« rief Hildegard, die so plötzlich vor ihm stand, und ihr schönes Gesicht erglühte vor Schreck und Entrüstung. »Mein armer Bruder! Was haben Sie mit meinem Bruder gemacht?«

»Eine philosophische Streitfrage erledigt«, entgegnete er freundlich. Aber schon war sie zu dem Ohnmächtigen geeilt und lag neben ihm auf den Knien, angstvoll seine Stirn befühlend.

»Wasser! Holen Sie sofort Wasser!« rief sie in schroff befehlendem Tone.

Der Rittmeister ging schweigend einige Schritte zur Seite, ergriff seine Feuerspritze, trat wieder heran und ließ, ehe Hildegard seine Absicht erkannt hatte, dem regungslos Daliegenden die volle Ladung über das blasse Antlitz sprudeln.

»Herr, was unterstehen Sie sich?« rief die Schwester in heller Empörung. »Sind Sie denn von einem Dämon besessen?«

»Ich denke doch nicht«, erwiderte er behaglich. »Sehen Sie, liebes Fräulein, Ihr Bruder kommt zu sich. Man muß nur immer zur rechten Zeit die rechten Mittel anwenden. Wir nennen das: den Nagel auf den Kopf treffen. Sie machen einen Fehler, wenn Sie den Ärmsten noch mehr verweichlichen. Ich denke, wir setzen ihn jetzt auf die Bank dort in die Sonne, damit er trocken wird und sich sonst erholt. Inzwischen können wir zwei eine andere philosophische Streitfrage erledigen –«

Sie sah ihn mit großen Augen an, halb erschrocken und halb schon wieder belustigt. Sie erkannte aber, daß sein Gewaltmittel vortrefflich wirkte; der Verunglückte schlug die Augen auf und richtete sich langsam in die Höhe, indes die Schwester sich bemühte, ihn zu stützen und zunächst ein wenig abzutrocknen. Eine Erkältung war zum Glück an dem heißen Tage kaum zu befürchten.

»Sie sehen, ich hatte recht«, sagte Hartmut jetzt mit einem bittern Lächeln, »ich tauge weder für die Kämpfe der Welt noch für ihre Freuden. Ich bin einzig für die Einsamkeit 206 gemacht und für sanfte Entsagung. Gönnen Sie mir jetzt einige Minuten der Sammlung. Ich bedarf ihrer, um mich selbst wiederzufinden und nicht zu ersticken in meiner Scham und Qual. Hildegard, ich bitte auch dich –«

»Nun ja, nun ja«, sagte sanft der Rittmeister, der ihn gestützt und zu einer bequemen Gartenbank geführt hatte, auf der er ihn jetzt Platz nehmen ließ, »fürs Heiraten sind Sie freilich verloren. Diese Probe haben Sie nicht bestanden. Denn die Ehe ist schlimmer als die Mündung einer Pistole. Sie würden täglich aus einer Ohnmacht in die andere fallen. Solchen Prüfungen sind Sie nicht gewachsen. Ihre Nerven halten's nicht aus. Meine Nichte kann ich Ihnen also nicht geben. Bedaure unendlich, aber es geht nicht, das Mädchen ist zu schade für Sie. Mein Wort darauf, Sie kriegen sie nicht. Aber das tut nichts, für Sie wird irgendeine andere Verwendung finden, denn im Schöpfungsplan ist alles vorgesehen, auch die Versorgung von wohlverdienten Invaliden. Und das sind Sie; Sie haben sich redlich bemüht nach Ihren Kräften, das muß ich Ihnen offen zugestehen. Es war meine Schuld, daß ich Sie überschätzte; mit Krüppeln besetzt man allenfalls eine Festung, schlägt aber keine Feldschlachten. Die Ehe aber ist eine Feldschlacht. Ja, wenn Sie einen Funken von dem Geiste Ihrer Schwester hätten! Ruhen Sie sich jetzt aus, Sie bedürfen einiger Schonung. Sie aber, mein schönes Fräulein –«

»Also jetzt soll ich auf die Folter gespannt werden!« sagte Hildegard, die nun ungefähr begriffen hatte, was hier vorgegangen war.

»Ohne Sorge«, bemerkte der Rittmeister treuherzig, »bei Ihnen braucht es keiner Proben mehr, Sie kenne ich und vertraue auf Sie. Sagen Sie mir nur in aller Kürze, wie Sie mit meiner Freundin auseinandergekommen sind.«

»Oh, vortrefflich«, antwortete Hildegard, die auf einen bittenden Blick ihres Bruders diesen allein gelassen hatte und am Arm des Rittmeisters den Gartensteg hinabwandelte, »mir scheint, wir sind in redlicher Freundschaft voneinander geschieden.«

207 »Das wußte ich!« rief der Alte freudig. »Sie mußten ihr Herz im Sturm gewinnen, es war nicht anders zu denken. Und nun ist alles in Ordnung. Nun kann ich das letzte mit Ihnen bereden. Ich deutete Ihnen heute früh schon an, daß ich noch etwas auf dem Herzen hätte. Jetzt nannte ich es eine philosophische Streitfrage. Auf jeden Fall eine ernste Sache, sehr ernst – für mich und für Sie. Es wird auch recht überraschend für Sie sein, und ich bitte Sie, Ihre ganze schöne Festigkeit zusammenzunehmen und geistig stramm zu stehen – Kopf in die Höhe! Hacken zusammen!«

Hildegard blickte gespannt und doch ein wenig beunruhigt zu ihm auf. Er schien ihr rätselhafter als je.

Plötzlich stand er vor einem hohen Rosenstrauche still und spähte aufmerksam in dessen Blätterwerk hinein.

»Mögen Sie Spinnen leiden?« fragte er auf einmal. »Oder Raupen, Kröten, Regenwürmer, Eidechsen, Blindschleichen, Maulwürfe und dergleichen?«

»Brr!« rief sie schaudernd, »nein, wahrhaftig nicht! Pfui, das ekelhafte Gezücht! Sehe ich denn aus wie eine Hexe, daß Sie mir solche Liebhabereien zutrauen?«

»Durchaus nicht, mein liebes Fräulein«, versicherte er ernsthaft, »ich wollte Sie nur fragen, ob Sie die Nervenkrankheit in sich fühlen, so ein widriges Geschöpf freiwillig in die bloße Hand zu nehmen, wenn ich Sie darum bitte?«

»Das wird mir im Traum nicht einfallen, verehrter Herr!« rief sie hastig, »und wenn mich noch zehn ältere Freunde darum bäten. Es geht mir gegen die Natur, solch ein giftiges Ungeziefer zu berühren, nicht einmal sehen mag ich es. Und nun gar ohne jeden vernünftigen Grund, bloß um Ihrer spaßhaften Laune willen – daß ich eine Närrin wäre!«

Der Rittmeister tat schweigend einen raschen Griff in den Busch und holte zu ihrem Schrecken eine große Kreuzspinne heraus, die er ihr dicht vors Auge hielt.

»Betrachten Sie gefälligst dies allerliebste Spinnchen«, sagte er ruhig, »bewundern Sie die feine Zeichnung des Kreuzes auf seinem Rücken – bemerken Sie: eine Art Ordensritter in den niederen Kreisen der Schöpfung – und ein so 208 nützliches Tierchen! Wenige Dutzend von ihnen würden genügen, einen ganzen Menschen von der auf ihn entfallenden Portion Mücken und Fliegen für einen Sommer zu entlasten; wahrlich kein geringer Liebesdienst! Und dann denken Sie an ihr wunderfeines Gewebe, das Sie sicherlich noch besser zu schätzen wissen als ich; und gegen ein so begabtes, schönes und nutzbares Lebewesen wollten Sie einen vernunftwidrigen Abscheu bewahren? Sie? Nicht möglich! Bitte, fassen Sie das niedliche Geschöpf einmal herzhaft an; doch ohne es zu zerdrücken, wenn Sie die Güte haben wollen, es ist sehr zart und zerbrechlich – Wie? Sie wären wirklich nicht imstande, ein von Ihnen als töricht erkanntes Vorurteil in sich zu überwinden?«

»Ich will es nicht!« entgegnete sie trotzig, indes ihr Körper schaudernd sich leise schüttelte, »ich will durchaus nicht. Ich habe meinen freien Willen und fühle nicht die geringste Verpflichtung, Ihnen zu gehorchen.«

»Ausflüchte, mein bestes Fräulein, nichts als geistreiche Ausflüchte! Die Verpflichtung will ich Ihnen sogleich unwiderruflich beweisen. Jedes denkenden Menschen Pflicht ist es, falsche Gefühlsneigungen rechtzeitig nach allen Kräften zu bekämpfen; merken Sie wohl: rechtzeitig! Setzen Sie zum Beispiel den künftigen Fall, Sie hätten eine Kranke zu pflegen; da krabbelt so ein Scheusal die Fiebernde an, die in ihrer Schwäche vor Schauder und Ekel auf der Stelle den Tod davon haben kann, wenn Sie nicht rechtzeitig zupacken und es entfernen – eine Sekunde des Zauderns kann die traurige Entscheidung bringen – werden Sie sich dann mit Sicherheit den mutigen Entschluß zutrauen dürfen, da Sie ihn nie zuvor erprobt haben? – Begreifen Sie nun die sittliche Verpflichtung zu solcher Nervenübung? Also nieder mit der krankhaften Anwandlung! Nieder mit den Nerven! – – So ist's recht. Ganz gut! Erst mit dem kleinen Finger, um die Nerven zu gewöhnen – Sie merken, es tut nicht weh, die Giftigkeit ist Altweibertratsch – brav, sehr brav, mein wackeres Fräulein! – Sie zittern noch ein bißchen, sind etwas blaß geworden, tut nichts! Kopf in die Höhe! Hacken zusammen! 209 Alles in Ordnung. Sie haben's überwunden. Was habe ich gesagt? Sie können's! Sie können's! Wußte ich doch, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht hatte! – So, und nun ist's gut, nun lassen Sie das ekelhafte Viehzeug laufen. Ihre Probe haben Sie bestanden, tadellos, großartig! Und das sage ich Ihnen jetzt: Sie fallen nicht in Ohnmacht vor einer geladenen Pistole! Und Sie sind auch reif und dürfen es wagen, unverzüglich in die Ehe zu treten.«

»Schrecklich!« rief Hildegard mit schalkhaftem Ernst.

»Ich kann jetzt darangehen, Ihre Kräfte höher zu belasten«, fuhr er bedächtig fort. »Wollen Sie mir gefälligst eine Frage ehrlich beantworten: was halten Sie für die höchste sittliche Lebensaufgabe eines normalen Weibes?«

»Nun, vielleicht die, sich recht hübsch und geschmackvoll zu kleiden«, scherzte sie.

»Ganz gut«, sagte er mit unerschüttertem Ernste, »nehmen wir nur aus Ihrem Spaße den vernünftigen Kern heraus. Also: das Weib soll durch seine Schönheit die Augen der Männer reizen und locken. Aber zu welchem Endzweck das?«

»Doch nicht etwa zu dem Zweck, von einem der hohen Herren gnädigst aufgeheiratet zu werden?« lachte sie.

»Allerdings ist das die Meinung, und Sie verstehen sehr wohl, was ich sagen will. Die sittliche Grundpflicht des Weibes ist, seine selbstischen Glücksneigungen und Eigentriebe einem anderen Willen zu opfern und dienstbar zu machen, mit anderen Worten, sich mit einem tüchtigen Manne zu verheiraten. Haben Sie etwas Ernstes gegen diesen Grundsatz einzuwenden?«

»Im Gegenteil!« rief sie übermütig, »ich finde ihn reizend. Nur eine kleine Bedingung würde ich allerdings stellen müssen, ehe ich mich in ein so gefahrvolles Unternehmen stürzen könnte –«

»Und die heißt?«

»Der dazu erforderliche Mann darf nicht wie eine Kreuzspinne aussehen.«

Der Rittmeister blieb tiefernst. »Ich verstehe Ihre Meinung«, sagte er, »und billige sie vollkommen. Die Spartaner 210 pflegten verkrüppelte und schwächliche Kinder auf dem Taygetus auszusetzen. Das war ein etwas barbarisches Verfahren, und wir Neueren sollen es nicht bedingungslos nachahmen; denn dergleichen Schwächlinge können im Leben zu mancherlei Dingen tauglich werden; sie können sich zum Beispiel zu den ausgezeichnetsten Gelehrten, Gesetzgebern, Staatsmännern und Weltweisen entwickeln; man soll sie also mit aller Sorgfalt erhalten und aufziehen wie gesunde Kinder, hingegen zum Heiraten soll man sie unter keinen Umständen gebrauchen. Die Ehelosigkeit sei der Taygetus, auf dem wir unsere geborenen Krüppel aussetzen. Der große Kant, der häßlich und engbrüstig war, wußte, warum er ledig blieb und nur eine geistige Nachkommenschaft hinterließ – die aber von guter Rasse! – Hiernach sei Ihnen, liebes Fräulein, ohne Vorbehalt zugestanden: der zum Heiraten zu verwendende Mann soll weder verkrüppelt noch mißgestaltet, noch krummbeinig, noch mit Schwären bedeckt, noch von schlotterigen Gliedern sein, sondern frisch, stark, schön, jung, gesunden Leibes und fröhlichen Geistes. Kurz, wie Sie sich munter ausdrücken: Nicht wie eine Kreuzspinne. – Nunmehr aber gestatten Sie mir zunächst eine Zwischenfrage. Setzen Sie den Fall, Sie fänden irgendwo am Wege ein krankes oder wundes Tier, ein Hündchen oder ein Vögelchen, was würden Sie mit einem solchen tun?«

Hildegard blickte den Eifrigen mit ebenso verwunderten als neugierigen Augen an und erwiderte kopfschüttelnd:

»Ich will von mir hoffen, daß ich es aufheben und pflegen, schlimmen Falles es einem Tierarzt übergeben würde.«

»Auch wenn das Viehchen garstig und von Blut besudelt wäre und nicht gleich angenehm anzufassen?«

»Es wäre mir lieb, wenn ich es auch dann könnte.«

»Lassen Sie gut sein! Ich verbürge mich für Sie. Wenn Sie nun aber einen Menschen am Wege fänden, der unter die Räuber gefallen wäre, würden Sie handeln wie die Juden und Priester im Evangelium oder wie der barmherzige Samariter?«

»Lieber schon wie der letztere.«

211 »Natürlich. Das erwarte und weiß ich von Ihnen. Nun also, jetzt komme ich zur Sache. Dieser Fall ist für Sie kein frei gesetzter, sondern ein tatsächlich vorhandener. Sie finden wirklich und wahrhaftig heute einen Menschen an Ihrem Lebenswege liegen, der gesund von Jerusalem herabging und unter die Räuber fiel, das will sagen, einen Menschen, der von Hause aus gesund und stark und tüchtig war, aber durch besondere Zufälle einen schweren Schaden an seiner Seele davongetragen hat: diesen Mann finden Sie und erkennen, es liegt an Ihnen, den halb Genesenen ganz zu heilen und durch Ihr Ausharren an seiner Seite bei dauernder Kraft und Frische zu erhalten – was werden Sie tun? Werden Sie stumm und kühl an ihm vorübergehen wie die Juden und Priester? Auch wenn man Sie laut zu Hilfe aufruft? Oder werden Sie als rechte Samariterin fröhlich sagen: ›Es ist meine Pflicht, mich zu diesem meinem Nächsten liebend niederzuneigen, ihm aufzuhelfen und treu an seiner Seite auszuharren?‹ Was sagen Sie zu solcher Frage des kategorischen Imperativs?«

Hildegard wußte noch immer nicht, was sie aus dem allen machen sollte; doch begann ihre vorige Lustigkeit unter einer leisen Beängstigung zu schwinden. Der Alte, der nun feierlicher redete, erschien ihr nicht mehr komisch, sondern bedenklich und beinahe unheimlich. Sie schwieg deshalb und blickte ihm unsicher trotzend und doch erwartungsvoll ins Gesicht.

»Ich will Ihnen den vorliegenden Einzelfall jetzt genauer bezeichnen«, fuhr er fort, »denn ich weiß, Sie sind im Prinzip mit mir einverstanden. Der Mann, dessen Seele unter die Räuber fiel, ist kein anderer als der Jüngling, von dessen großer Sünde und langer Besserung ich Ihnen erzählte: und der Jüngling heißt Ulrich Seybold und ist der Sohn meiner Freundin, deren Bekanntschaft ich Sie machen ließ, und deren Zuneigung Sie gewonnen haben –«

Sie errötete tief und senkte hastig die Stirne: eine süße Ahnung umfing sie. Der Alte redete weiter, ohne das zu bemerken.

»Nicht ohne wohlerwogene Absicht tat ich dies. Vernehmen 212 Sie. Nach fünf Jahren jetzt wage ich es, jenen Zögling mit besserer Hoffnung aus meiner Zucht zu entlassen – doch nicht ohne seine sittliche Kraft zuvor auf eine letzte große Probe gestellt zu haben. Noch einmal soll er es recht augenfällig bewähren, daß er ganz bis ins Mark seines Lebens durchdrungen ist von seinem eigenen Imperativ, daß er gelernt hat, voll und ohne Vorbehalt aufzugehen in den Willen seiner Mutter. Dies ist die Probe: er soll ein Mädchen heiraten, ganz allein nach dem Wunsche der Mutter, ohne es vorher zu kennen, ohne von ihm zu wissen. Diese Frage und Gnadenbedingung haben wir ihm vorgelegt, und wir wissen, er wird sie in unserem Sinne beantworten; er wird, weil er muß, er kann nach fünfjähriger Treue nicht wieder zurücksinken in den Unbestand und begehrenden Eigenwillen seiner Sündenjahre. Seiner bin ich sicher. – Nun ist aber das andere: seine Mutter und ich, wir wollen ihm nicht etwas Böses antun mit der Strenge dieser Prüfung, sondern etwas Gutes: wir wollen ihn bewahren vor den Irrtümern einer eigenen verliebten Wahl, wir wollen ihm ein Weib geben, das seiner wahrhaft würdig und ihm eine wackere Helferin sei im Kampf gegen den nie rastenden Ansturm neuer Begierden und Leidenschaften; ein Weib, das ihm nicht ein lustiges Spielzeug sei, sondern eine starke Zuchtrute für alle Lebenszeit. – Sehen Sie, mein teures Kind, und als eine solche berufene Person habe ich Sie erkannt, sogleich in der ersten Stunde, fast beim ersten Anblick: Sie sind geradegewachsen an Leib und Seele, Sie wandeln fröhlich und erhobenen Hauptes, Sie sind klug und stark und tragen den kategorischen Imperativ in festem Herzen. Eine geheime Stimme, die nicht trügen kann, ruft mir's zu: nimmer und nirgends kann ich eine bessere Samariterin für die wieder aufwachsende Seele meines Geretteten finden! Und darum führte ich Sie so eilig seiner Mutter zu und zweifle nun nicht, daß diese meiner Wahl mit ganzem Wunsche beipflichten wird. Und darum frage ich Sie jetzt zum Schlusse in aller Form: Werden Sie sich entschließen können, einer so fremd und herb erscheinenden Menschenpflicht ins Antlitz zu blicken und zu sagen: Ja, ich will diesem Geschlagenen zur Seite stehen, ich 213 will Öl in seine Wunden gießen und will ihm helfen, ein aufrecht schreitender Mann zu sein und zu bleiben! – Können Sie sich aufschwingen zu so ungewohnter Vornehmheit des Entschlusses, wie ich von Ihnen es zuversichtlich erwarte, oh, so zögern Sie nicht, sondern legen Sie Ihre Hand frei gewährend in die meine, die ich an seiner Statt Ihnen hoffend hinhalte.«

Der Rittmeister schwieg und blickte dem überraschten Mädchen mit feurigen Augen und in ehrlicher Begeisterung erwartungsvoll entgegen. Sie aber stand wie erstarrt; betäubt, verworren schwankten ihre Gedanken, Glut und Blässe wechselten auf ihrem Antlitz; lange Zeit dachte sie kaum an eine Antwort.

»Also das ist dieses Rätsels Lösung?« sprach sie endlich halblaut vor sich hin, »eine Zuchtrute soll ich ihm sein! Oh, vortrefflich! Oh, herrlich ausgedacht! Also das war auch die Meinung seiner Mutter!«

Dann aber hob sie sich plötzlich straff in die Höhe, machte mit den fest geballten Händen eine schroffe Bewegung, als ob sie ein Netz zerreiße, warf den Kopf in den Nacken und rief mit blitzenden Augen:

»Herr Rittmeister, Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ein gesunder Mann Ihren Hirngespinsten so zu Willen sein wird?«

»Er wird es! Darüber seien Sie beruhigt!« versetzte der Rittmeister bestimmt und mit einem überlegenen Lächeln.

Sie schien zu erschrecken, und ihre Stirn sank ein wenig tiefer. Doch nach wenigen Sekunden schon gab sie ihm sein Lächeln zurück und entgegnete ihm gelassen, aber mit steigender Erregung:

»Mein Herr Rittmeister, Sie haben mir nun so viel erzählt und so viel vorgetragen, daß ich Ihnen zum Entgelt auch ein kleines Geständnis schuldig bin. Also kurz und gut: Ihr Herr Ulrich Seybold, dem Sie mich als eine Zuchtrute aufhalsen wollen, war mir ganz und gar kein Unbekannter und weder von Ansehen fremd noch nach seinem Wesen und seinen Schicksalen, vielmehr habe ich in meiner eigenen Heimat, Frankfurt am Main, so lange und so freundschaftlich seines Umganges 214 genossen, daß ich zu hoffen wage, ich kenne ihn und seine Entschlüsse um vieles besser, als Sie ihn kennen. Und so erkläre ich denn hier auf Ihre feierliche Anfrage ebenso fest und feierlich: Wenn der besagte Herr Ulrich mich wirklich etwa haben wollte, und er käme und würbe um mich, wie es sich geziemt, als ein freier Mann mit freiem Willen – oder noch besser gesagt, nicht aus freiem Willen, sondern von seinem Herzen unerbittlich gezwungen – – was ich ihm dann antworten würde, das darf einstweilen mein düsteres Geheimnis bleiben! Wenn er sich aber, was ich nimmermehr glaube, vor Ihrem ausgeklügelten Gaukelwerke duckt und mich von seiner Mutter Gnade als ein bequemes Geschenk empfangen will, so werde ich ihm sagen: ›Sie irren sich gröblich in mir, mein Herr Preuße: Sie hatten zu wählen zwischen mir und Ihrer Frau Mama: Sie haben sich für die Frau Mama entschieden. Gut, ich achte Sie dafür und ehre Ihre Gesinnung: aber von Liebe kann zwischen mir und Ihnen nicht mehr die Rede sein. Es gab etwas in der Welt, das Ihnen mehr wert war als diese Liebe, und also genügt mir Ihre Liebe nicht. Sie hätten mein Herz vielleicht erobern können; aber erkaufen können Sie es nicht, denn Sie haben keinen vollen Preis, kein ganzes Herz zu bieten; ein halbes aber ist mir zu geringe Zahlung. Gehen Sie, mögen Sie den Lohn Ihrer Tugend ernten: aber meine Person ist dieser Tugendpreis nicht!‹ – Das, Herr Rittmeister, ist meine Antwort und wird es bleiben auf meine Ehre und mein Frauenwort! Ich bin eine frei geborne Person und lasse mich weder verhandeln noch verschenken, und in die Zwangsjacke Ihrer barbarischen Philosophie lasse ich mich erst recht nicht stecken. Ich bin eine freie Reichsstädterin und will nichts wissen von der preußischen Uniform, die Sie mir anziehen wollen. Sie mögen es ja nicht schlecht meinen mit Ihrem Zögling, und da drinnen die Frau Geheimrätin meint es sogar recht herzlich gut auch mit mir, denn jetzt verstehe ich ja auch den Sinn ihrer dunklen Worte – ach, armer Herr Rittmeister, wie haben Sie sich aber von zwei törichten Frauenzimmern an der Nase herumführen lassen! Oh, Sie gutherziger Philosoph, Sie haben Ihre kluge Freundin ebensowenig verstanden 215 wie deren Sohn und wie meine geringe Persönlichkeit – es ist ja wahr, wir sind wohl alle nicht so ganz vollkommen ehrlich und aufrichtig gegen Sie verfahren, wie wir nach strengen Sittenlehren eigentlich sollten; aber wer will es den bedrängten Füchschen so sehr verargen, wenn sie sich auf ihre Art vor dem Schlage der Bärentatze zu retten suchen? Verzeihen Sie es uns mit der Großmut des Starken, und nehmen Sie es sich als eine Warnung; denn wahrhaftig, ich glaube fast, es gibt hier noch mehr als einen, der mit Ihrer Treuherzigkeit noch ein schlimmeres Spiel treibt, wo Sie glauben, alle Fäden fest in Ihrer gestrengen Hand zu halten! – Und verzeihen Sie mir auch, wenn ich etwas sagen mußte, das Ihnen unangenehm klingt und Ihre löblichen Pläne kreuzt – offen gestanden, es wäre mir noch viel unangenehmer, wenn Ihre Philosophie mir meine Pläne kreuzte! Aber zum Glück, ich wage das Beste für mich zu hoffen!«

Hildegard hatte, nachdem sich ihr kurzer Zorn entladen, ganz ihre kecke Fröhlichkeit wiedergewonnen; und doch erschrak sie ernstlich, als sie jetzt das verfinsterte Gesicht des alten Herrn betrachtete. Es lag nicht allein ein schwer verbissener Grimm darin, sondern mehr noch ein aufrichtiger Kummer und eine tiefe seelische Verstörung, die ihr volles Mitleid erregten.

»Lauter Gesindel!« stöhnte er, starr vor sich hinblickend, »lauter Gesindel! Feige, schwächlich, unwahrhaftig alle, alle! Keiner von ihnen würdig eines Kantischen Gedankens! Auch Doris eine Lügnerin! Und eine Glücksjägerin auch dies Mädchen, auf das ich all meine Hoffnung setzte! Auch sie eine Gans und eine Betrügerin! O Frauenzimmer! Frauenzimmer! Großer Kant, verzeihe mir's, daß ich deine göttliche Lehre an Frauenzimmer verschwendete! – Aber eines ist nicht wahr«, unterbrach er plötzlich mit kräftiger Stimme seine trübe Betrachtung, »kann nun und nimmermehr wahr sein: der Ulrich betrügt mich nicht, der wird sich nicht wegwerfen an die Frauenzimmer! Der Ulrich allein hat mich verstanden; er wird kommen und meine Lehre zu Ehren bringen. Auf ihn vertraue ich und auf mich selber. – Leben Sie denn wohl, liebes 216 Fräulein«, wandte er sich schnell an Hildegard, »und handeln Sie, wie Sie's verstehen! Sie wissen's nicht besser, und ich kann's nicht ändern. – Aber schade ist es dennoch! Schade! Sehr schade!«

Mit Erstaunen und Rührung bemerkte sie, daß es feucht in seinen Augen schimmerte, als er ihr zum Abschied die Hand reichte.

Doch es war ihr nicht lange vergönnt, diese Rührung rein zu empfinden, denn ein sonderbarer Zwischenfall erregte in ihr eine unüberwindliche Lachlust. Seitwärts auf der Mauer erschien plötzlich mit zutraulichem Miauen eine weiße Katze; der Rittmeister zuckte auf, riß mit unwillkürlichem Griff seine Feuerspritze vom Boden auf, richtete deren Mündung auf das dreiste Geschöpf und stieß mit leidenschaftlicher Bewegung den Stempel hinein. Allein er hatte vergessen, daß die Waffe entladen war, kaum einige matte Tropfen spritzten heraus, und das Kätzchen putzte ganz unbefangen seinen Schnurrbart. Da warf er, sich schnell besinnend, das Werkzeug zur Erde, schlug sich vor die Stirn und sagte betrübt:

»Erbärmliche Nervenschwäche! Ich bin nicht besser als die Frauenzimmer!«

Hildegard mußte sich hastig umdrehen, um ihr Lachen zu verbergen, und eilte der entfernten Bank zu, auf der sie ihren Bruder zurückgelassen hatte. Der Alte aber rief ihr mit lauter Stimme nach:

»Aber der Ulrich ist besser! Und nun soll er die Lisbeth heiraten! Die ist auch eine Gans, aber eine ehrliche Gans, und mehr kann man von keinem Frauenzimmer verlangen, das habe ich eingesehen. Dabei bleibt es. Mein Wort darauf! Ich bin der Rittmeister August von Jageteufel.«

Damit schritt er hoch aufgerichtet seinem Turme entgegen. 217

 


 


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