Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Hartmut und Lisbeth erheben einander zu Idealen und werden durch eine einbrechende Realität gestört.
Hartmut Hammer saß ausdauernd in seiner Nische, einsamer Morgensprache mit einer Flasche Rheinwein hingegeben. Es blieb still und heimlich in dem schönen Raum, kein anderer Gast erschien, und auch der Küfer ließ sich nach Erfüllung seiner Pflicht nicht weiter blicken. Desto vergnügter spielten die Sonnenstrahlen durch die Fenster und warfen ihre krausen, farbigen Lichter weithin über den Fußboden, über Bänke und Tische, als gelte es, diese kleine Welt zu einem Freudenfeste absonderlich zu schmücken. Hartmut trank und träumte; sein Auge hing mit farbenfrohem Behagen an dem Fenster mit seinen heiteren Schildereien auf Sonnengoldgrund. Hier war auf der linken Seite das größere Bild irgendeiner Heiligen in das Glas gebrannt: ein demutvoll gesenktes Köpfchen mit kindlichen Zügen und einem überaus zarten Lächeln, von schlichtem Blondhaar umwallt, ohne sonst viel Prunk noch himmlische Herrlichkeit, ganz wie eine rechte deutsche Heilige sich darstellen soll, dabei schön und lieblich zur Genüge.
Unzweifelhaft eine heilige Lisbeth, will sagen Elisabeth! bestimmte er in Gedanken, ohne daß er den geringsten kunst- oder religionsgeschichtlichen Grund dafür hätte angeben können. Er vertiefte sich liebevoller in das Bild; und je mehr ihm die Augen von dem Sonnenglanze flimmerten, desto klarer und greifbarer trat es wunderlicherweise hervor und schien sich sogar mit zierlichen Schritten hin und her zu bewegen. Währenddessen aber verwandelte es langsam Gestalt und Antlitz; es trug jetzt ein weißes Tüchlein auf dem Kopf, hatte große, treuherzige, aber ganz weltfremde Augen und hielt eine rote Rosenknospe in der Hand. Es wich hin und 139 her, ward von dem Goldgrund aufgesogen und wieder ans Licht gestellt in neckischem Wechsel.
Da auf einmal kam es mit einer neuen, wahrhaft erschreckenden Leibhaftigkeit nicht von dem Fenster her, sondern deutlich aus der linken Wand hervor, wandelte mit ruhigen Schritten vorwärts über das Farbenspiel des Fußbodens hin, sich langsam dem Staunenden nähernd.
Dem stand das Herz still vor entzücktem Schauder; ein tiefer Atemzug wie ein Seufzer drang hörbar aus seiner Brust. Da ruckte das Heiligenbild erschrocken den Kopf herum, ward des einsamen Zechers gewahr und rief mit einem Ausdruck milden, trauernden Vorwurfs vernehmlich die Worte:
»Herrgott, sitzen Sie immer noch hier?«
Diese furchtbare Anklage riß den schwärmenden Geist des Jünglings halb ins Wirkliche zurück, beraubte ihn aber auch durch ihre Ungeheuerlichkeit vollständig der Fassung und der Sprache.
Fräulein Lisbeth benutzte den Augenblick seines Erstarrens, sich der peinlichen Begegnung durch die Flucht zu entziehen. Dicht vor der Ausgangstür jedoch kam ihr ein anderer, mutvollerer Gedanke. Entschlossen kehrte sie zurück, nahm Aufstellung und Deckung vor seinem Tische, faßte ihn trotzig ins Auge und fragte in vornehmer Haltung:
»Überhaupt – wünschen Sie etwas von mir?«
Die in dieser Frage verborgene tiefe Ungerechtigkeit weckte Hartmut zum Leben und zur Tat; er erhob sich hastig von seinem Stuhle, machte eine ungeschickte Verbeugung, stand seiner Richterin gegenüber und stotterte:
»Verzeihen Sie . . . ich war erst vor kurzem wieder eingetreten . . . ich hatte keine Ahnung, daß ich Sie hier finden würde, sonst hätte ich mich gewiß nicht erdreistet . . . es kam nur so über mich, ich wollte die Erinnerung an die gestrige Stunde in Frieden genießen . . . von Ihnen wünschte ich nichts; glauben Sie mir, ich würde so unbescheiden nicht sein . . .«
Er blickte so demütig und liebenswürdig zu ihr hinüber, als hätte er nicht einen ungerechten Angriff abgewiesen, sondern eher eine tüchtige Sünde eingestanden und abgebeten. 140 Sie aber ward purpurrot übergossen, und ihre Blicke senkten sich beschämt zu Boden. So standen sie in gegenseitigem Zagen voreinander, beide den Tisch als sichere Deckung mit festen Händen fassend.
»Ach ja, bitte«, hauchte sie endlich, »Sie haben natürlich vollkommen recht. Es war wieder zu dumm von mir; ich meinte es gar nicht so. Ich wollte nur sagen – mein Zimmer ist nämlich im Vorderhause, und hinten im Garten wohnen meine Angehörigen; und wenn ich von da komme, pflege ich hier durch die Weinstube zu gehen, das heißt am Tage, wo doch kein anständiger Mensch Wein trinkt und es immer ganz leer ist; es gibt auch einen Gang daneben, aber der ist so dunkel und winklig; und ich konnte doch nicht ahnen, daß Sie immer noch . . . daß Sie schon wieder hier wären; man sitzt doch nicht den ganzen Tag in der Schenke; sonst natürlich hätte ich . . . es ist nicht meine Schuld, daß ich Sie hier traf: das wollte ich nämlich nur sagen. Sie müssen entschuldigen –«
»Oh, bitte«, entgegnete Hartmut, durch ihre Niedergeschlagenheit ein wenig ermutigt, »ich habe gar nichts zu entschuldigen. Im Gegenteil. Und im Grunde ist es ja auch kein Unglück . . . ich meine für mich kein Unglück . . . im Gegenteil . . .«
»Nun nein«, sagte Lisbeth mit einem leisen Blick des Dankes, »für mich ja eigentlich auch nicht . . . das heißt . . . Ach was«, unterbrach sie sich mit einer jähen und fast trotzigen Entschlossenheit, »und jetzt gerade. Ich muß es Ihnen sagen, was ich auf dem Herzen habe, sonst ersticke ich daran. Sie müssen nämlich wissen . . . die dumme Geschichte gestern . . . oh, Sie haben ja gar keine Ahnung, wie fürchterlich ich mich geschämt und geärgert habe! Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan; ganz deutlich habe ich es noch elf Uhr schlagen hören und nachher fünf Uhr auch schon wieder; und das kann doch kein Mensch auf die Länge ertragen.
»Denn natürlich, das mit der schiefen Krawatte, das war doch nur so eine dumme Redensart, das haben Sie gewiß gleich selbst gemerkt; es war auch wirklich zu dumm. Aber es 141 hat mir bis auf diesen Augenblick keine Ruhe gelassen, daß ich Ihnen nicht die Wahrheit erzählen konnte. Nämlich so. Als ich Sie gestern nachmittag unter den Lauben stehen sah, glaubte ich nicht anders, als – aber, du lieber Himmel, das können Sie ja wieder gar nicht verstehen, wenn Sie das andere vorher nicht wissen! Nämlich – also – wissen Sie, ich erkundigte mich doch gestern nach einem gewissen Herrn Seybold, Ulrich Seybold in Frankfurt am Main? Dieser Mensch also, von dem Sie ja auch nur Gutes wissen, ist mein . . . mein Bräutigam.«
»Wie?« rief Hartmut etwas in Verwirrung gesetzt, »Ihr Bräutigam? Ihr wirklicher Bräutigam?«
»Nun freilich«, antwortete Lisbeth verwundert, »mein anverlobter Bräutigam – und warum denn nicht?«
»Und nicht etwa vielleicht«, stotterte er, »bloß so eine Verabredung der Eltern oder Vormünder . . . ein moralischer Zwang . . . ohne Herzensanteil . . . Aber Sie haben das göttliche Recht, dagegen Einspruch zu erheben . . .« ›O Gott‹, dachte er, ›wie schwer ist es doch, Hildegard mein Versprechen zu erfüllen! Und wie unverschämt rede ich hier!‹
»Aber was bilden Sie sich ein, mein Herr«, unterbrach sie ihn sehr lebhaft, »aber kein Gedanke daran! Gerade im Gegenteil! Der Ulrich liebte mich ja schon vor sechs Jahren, als ich noch kurze Kleider trug – wahrhaftig, so komisch sich das anhört, ist es doch richtig – und ist mir nun durch all diese Zeit treu geblieben, obgleich er mich natürlich seit fünf Jahren nicht gesehen hat: und das soll noch keine echte Liebe sein?«
›Ach dann, arme Hildegard‹, dachte Hartmut, ›ist all deine Hoffnung auf meine Hilfe vergeblich!‹
»Mit mir war es ja ein bißchen anders«, fuhr sie eifrig fort, »das ist richtig. Mir war er damals vollkommen gleichgültig – oder eigentlich konnte ich ihn gar nicht leiden –, du lieber Gott, was war denn auch an ihm zu finden damals, das man hätte lieben können? Ein ganz ungezogener Junge war er und weiter gar nichts. Aber nachher, als er fort war, da wurde es anders. Da kam erst das große Mitleid, das ich mit ihm hatte; und dann hörte ich immerfort soviel Schönes 142 und Gutes über ihn von seiner Mutter, die den ganzen Tag nichts anderes erzählte, und daß er eigentlich in Wahrheit nie so schlimm gewesen sei, wie es ausgesehen hatte, und nun ein ganz braver Mensch geworden war – wahrhaftig, ein vortrefflicher Mensch: und das sagen Sie ja selbst – und sogar der Onkel Rittmeister redete immer milder und vergnügter von ihm: nun, und so habe ich mir's denn allmählich angewöhnt. ihn auch liebzuhaben. Ich bitte Sie, wenn einer ein so vortrefflicher Mensch ist! Und als nun gar der Onkel vor einigen Wochen mir mitteilte, daß der Ulrich mich gerne heiraten wolle, und die Tante (nämlich seine Mutter: ich nenne sie bloß immer Tante) mich nachher so herzlich mit Tränen umarmte, da mußte ich doch gerührt sein von soviel Treue und war so begeistert, daß ich an gar nichts anderes mehr denken konnte als an ihn und sogar des Nachts immerfort von ihm träumte. Und ich malte es mir so herrlich aus, wenn er nun kommen würde – und dann kriegte ich so eine ganz sichere Ahnung, daß er bald kommen müßte, sehr bald: weil er mich doch so lieb hat! Und sehen Sie, davon ist eigentlich das Unglück gekommen. Denn so sitze ich auch gestern auf dem Markt neben dem Onkel und denke so recht vergnügt an Ulrich und bin ganz voll von meinem Glücke; ob er wohl heute kommen könnte? frage ich mich im stillen und sehe ihn ordentlich vor mir so leibhaftig wie in einem Traum, und da – denken Sie –, da stehen Sie auf einmal da vor mir unter den Lauben. Und da denke ich natürlich in meiner Überraschung: das ist der Ulrich! Ob Sie ihm nun wirklich so sehr ähnlich sind, das weiß ich ja gar nicht recht genau, ich habe ihn doch zu lange nicht gesehen, und mit den Schattenrissen ist es auch keine Herrlichkeit, und wie verändert sich der Mensch in diesen Jahren, ich bitte Sie!
Also ich bin fest überzeugt, Sie sind es – und weil ich merke, daß Sie mich nicht gleich erkennen, gebe ich Ihnen das alberne Zeichen – es war zu dumm! Aber ich wollte ihm so recht freudig entgegentreten und ihm gleich offen zeigen, wie gern und von Herzen ich ja gesagt hätte (weil ich mir früher doch nichts aus ihm gemacht hatte), und dann die Idee 143 mit der Weinstube hier; ich dachte, er wird dich gewiß zuerst gern allein sprechen wollen, und da sind wir hier so schön unbelauscht! Und ich winke mit der Rose – ich war überhaupt ganz wie benommen im Kopf, und es war, als ob mich ohne meinen Willen ein Engel triebe, das heißt, ein böser Engel! – und dann kommen Sie auch wirklich! Nehmen Sie mir's nicht übel, mein Herr, das war doch ein bißchen unverschämt von Ihnen –«
Hartmut seufzte tief und schuldbewußt.
»Nun, nun, so sehr schlimm war es auch nicht«, begütigte sie wieder, »Sie konnten ja nicht wissen. – Aber wie ich Sie nun hierinnen aus der Nähe ein bißchen genauer ins Auge fasse, da überläuft mich ein Schauder und eine furchtbare Ahnung: Herrgott, er ist es ja eigentlich gar nicht! Das heißt, genau wußt' ich es wahrhaftig doch nicht, Sie kamen mir nämlich trotzdem immer noch ganz bekannt vor – oder nein, bekannt gerade nicht, aber doch etwas Ähnliches, so – so – vertraut oder wie soll ich sagen? Das kam offenbar daher, daß ich mich schon an Sie gewöhnt hatte, wie ich Sie für Ulrich hielt.
Aber was sollte ich jetzt tun? Einfach weglaufen, das war doch gar zu kindisch; und dann so ganz zum Schwören sicher war ich immer noch nicht, ob Sie's nicht doch am Ende wären. Ich war eben ganz betäubt und fassungslos, müssen Sie bedenken. Und weil Sie doch im übrigen sich ganz bescheiden und ordentlich benahmen, faßte ich etwas Mut und kam auf die Idee, mich als Wirtschafterin oder Kellnerin anzustellen, um Sie besser ausholen zu können. Und nachher hatte ich noch wieder den Einfall, Sie möchten vielleicht als ein Freund oder Abgesandter von Ulrich kommen, weil Sie doch von Frankfurt redeten; aber bald merkte ich doch, daß es alles Unsinn war, und da wußte ich mir zuletzt nicht mehr zu helfen und lief doch davon, weil ich es nicht übers Herz brachte, Sie noch länger so zu betrügen, als ob ich eine Art Kellnerin wäre, ich bitte Sie! Nein, dazu waren Sie mir denn doch zu gut. – So, jetzt wissen Sie, was es mit der greulichen Geschichte von gestern auf sich hatte; und nicht wahr? Sie denken nun nichts 144 Schlechtes mehr von mir, daß ich so sonderbar dreist und zudringlich war – ach wenn Sie wüßten, wie fürchterlich ich mich geschämt habe!«
Hartmut war ebenso gerührt wie entzückt von ihrem Berichte.
»Oh, liebes Fräulein«, sagte er weich, »wie dürften Sie sich schämen um eines Irrtums willen, der gerade das schöne Feuer Ihres Herzens so freundlich offenbart?«
»Doch«, versetzte sie, »ich muß mich schämen. Denn immer war es eine Art Untreue, die ich an meinem Bräutigam beging, indem ich einem anderen so . . . mit solchen Gefühlen entgegentrat – schrecklich! Und dann, daß Sie etwas Schlechtes von mir denken könnten, das hat mich auch so sehr gequält –«
»Aber wie können Sie glauben?« fiel er hastig ein, »nicht einen Augenblick habe ich etwas gedacht, das ich nicht freudig hier wiederholen könnte . . . das heißt . . . übrigens bedurfte es Ihrer Aufklärung kaum noch, denn meine Schwester hatte bereits zuvor den Zusammenhang dieses Irrtums richtig gedeutet.«
»Ach, hören Sie, Ihre Schwester muß aber furchtbar klug sein.«
»Das ist sie freilich, und gut und tapfer; und doch ist auch sie hier nach anderer Richtung einer traurigen Täuschung anheimgefallen – kein Wunder freilich, es leben hier so viele Rätsel um uns herum, seltsame Ereignisse und seltsamere Menschen. So ist schon jener Herr Seybold ein Mann, von dessen Charakter ich noch kein klares Bild zu gewinnen vermag – oh, verzeihen Sie, ich vergaß –«
»Ein ganz ausgezeichneter Charakter! Das glauben Sie nur. Bedenken Sie doch solche Treue, wie er sie mir gehalten hat!«
»Das ist in der Tat ein glänzendes Zeugnis für ihn, und wenn meine Schwester – doch ich vergaß – – Und dann ist hier dieser sogenannte eiserne Rittmeister, eine rätselhafte Erscheinung – doch ich vergaß, es ist Ihr Oheim –«
»Ach, was schadet das! Aber, nicht wahr, das ist ein 145 wunderlicher Mensch? Aus dem werde einer klug! Ich kenne ihn doch eigentlich nun lange genug, und dennoch – immer wieder hat er neue Schrullen. Und nun gar heute – – Ach, wissen Sie, ich setze mich hier wieder einen Augenblick mit an Ihren Tisch wie gestern – es kommt ja niemand –, und ich muß Ihnen noch etwas erzählen: wirklich, etwas sehr Wichtiges, da Sie mich gerade darauf bringen. Denn, du lieber Himmel, wen soll ich denn eigentlich sonst um Rat und Hilfe bitten? Tante Doris läßt sich verleugnen heute, Ulrich ist noch nicht hier, wer bleibt mir also übrig? Jedem Beliebigen kann ich es doch nicht auf die Nase binden. Aber Sie, da Sie ja nun doch einmal alles wissen – und da ist ja nun auch nichts dabei – wenn Sie also erlauben –«
»Sie machen mich sehr stolz und glücklich«, sagte Hartmut, indem beide sich an dem Tische einander gegenüber niederließen, und es war seinem strahlenden Gesicht anzusehen, daß er keine leere Redensart machte.
»Übrigens bin ich von gestern her noch stark in Ihrer Schuld«, fuhr er etwas verlegener fort, »die Flasche Wein –«
»Ach, reden Sie doch nicht! Die habe ich in aller Eile aus Onkel Rittmeisters Keller stibitzt; ich führe nämlich die Schlüssel. Der Wein war gut, nicht wahr? Sie haben doch hoffentlich nichts stehenlassen?«
»Ach nein«, gestand er zaghaft.
»Ich nahm der Sicherheit wegen gleich Hochheimer Domdechanei, weil Sie doch immer noch möglicherweise der Ulrich sein konnten; und dann wollte ich Sie überhaupt auch nicht geradezu beleidigen.«
»So bitte ich Sie denn jetzt in Herrn Ulrichs Namen«, sagte er mit einem Anflug von Wehmut, »heute ein Glas Wein von mir anzunehmen und mit mir als seinem Stellvertreter auf sein Wohl zu trinken.«
»Wie freundlich von Ihnen! Mit Vergnügen bin ich bereit. Und auf Ihr Wohl wollen wir auch trinken und auf das Ihrer klugen Schwester. Also auf gute Kameradschaft! Aber Sie haben nur ein Glas. Warten Sie, ich hole das zweite.«
Sie sprang auf, eilte zu dem Wandbrett und kam mit 146 einem zweiten Glase und außerdem mit einem riesigen gläsernen Humpen, einem altertümlichen Prachtstücke, zurück.
»Sehen Sie«, lachte sie, »den brauchen wir gemeinsam zum Anstoßen; denn klingen muß es, das ist die Hauptsache.«
Sie füllte den grünen Humpen aus der Flasche, hob die Last mit beiden Händen auf, trank und schob sie dann zu ihm hinüber. »Das war auf Ihr Wohl, Herr Kamerad und Stellvertreter«, sagte sie.
Er aber drehte das mächtige Glas mit zitternden Fingern heimlich herum, so daß beim Trinken seine Lippen die gleiche Stelle des Randes berührten wie die ihren zuvor; und es durchschauerte ihn süß wie ein Kuß von ihrem Munde.
Doch tapfer schüttelte er die unerlaubte Wonne von sich ab und sprach mit kräftigem Tone:
»Auf Herrn Ulrich Seybolds Wohl!«
»So«, sagte sie heiter, »jetzt haben wir ehrliches Bündnis geschlossen. Und nun hören Sie an, was ich Ihnen noch sagen, und um was ich Sie bitten wollte. Also ich erzählte Ihnen doch, daß gerade der Onkel Rittmeister es war, der mir zuerst die Mitteilung machte, daß Ulrich mich haben wollte. Aber wie er nun so ist, war es eigentlich gar keine ordentliche Mitteilung, sondern er fiel so komisch mit der Tür ins Haus und tat förmlich, als ob er mich mit Gewalt zwingen wollte, ihn zu nehmen, was doch wahrhaftig nicht nötig war! Nun, mir machte das im stillen nur Spaß; man muß in solchen Fällen auch immer zum Schein ein bißchen auf seine Ideen eingehen, weil da dann irgendein kategorischer Imperativ dahinter steckt, den man ihm doch nicht ausreden kann. Sie als gelernter Philosoph werden ja wohl verstehen, woran das liegt und warum das mit dieser Denkerei so sein muß.
Soweit ist ja nun noch alles in Ordnung; aber jetzt kommt die Tollheit und wahre Unbegreiflichkeit. Stellen Sie sich vor: vor einer Stunde, eben wie ich aus dem Hause trete, um ein paar Einkäufe zu machen, sehe ich ihn rittlings auf dem Geländer unseres Beischlags mitten in der Sonne sitzen und vor sich hinbrüten, als ob die Hitze ihm seine Gedanken garkochen sollte. Das kenne ich schon, da kommt gewöhnlich irgendein 147 Unheil zutage; und ich will machen, daß ich ihm vorbeischlüpfe. Aber er hat Luchsaugen auch mitten in seinen Grübeleien, erwischt mich und fährt mich gleich so an, als wenn ich wunder welche Schlechtigkeit begangen hätte. Die Sache mit dem Ulrich müsse ich mir aus dem Sinne schlagen, erklärt er auf einmal, er habe sich anders besonnen, es sei überhaupt eine Dummheit von ihm gewesen (so redet er von sich selbst!), an mich zu denken, ich paßte gar nicht für Ulrich und sei überhaupt ein Schäfchen, der müßte eine ganz andere Person haben, die ihn in der richtigen Gangart zu halten verstände, und viele andere solche Pferderedensarten. Kurz und gut, er soll plötzlich eine andere heiraten. Na, das muß ein schöner Drache sein, den er nach solchem Gerede dem armen Ulrich anhängen möchte!
Anfangs war ich natürlich ganz verblüfft und wie vor den Kopf geschlagen; aber nachher ermannte ich mich doch in meiner Angst und stotterte etwas heraus, daß ich zwar wohl gewiß nur ein Schäfchen wäre, daß mich aber der Ulrich nun doch einmal lieb hätte und ich ihn auch, und solche Sachen, die doch ganz vernünftig waren. Da fing er aber erst recht an zu schnauben, das sei alles Faselei: erstens fiele es dem Ulrich gar nicht ein, nach mir zu schmachten (nun bitte ich doch!), und was ich mir jetzt in den Kopf gesetzt zu haben schiene, das wäre eine närrische Einbildung, und so weiter; und zweitens, wenn wirklich je uns irgend so etwas im Kopfe gesteckt hätte, dann wäre es noch viel schlimmer und könnte erst recht nichts daraus werden; denn eine Ehe, die aus purer Leidenschaft geschlossen werde, nehme allemal ein schlechtes Ende; und er habe den Ulrich sowohl als mich viel zu lieb, um uns für Lebenszeit unglücklich machen zu wollen! Das ist nun nämlich eine von seinen sonderbarsten Schrullen, von der er nicht abzubringen ist – und es ist doch der reinste Unsinn, meinen Sie nicht auch?«
»Meine Erfahrungen auf diesem Gebiete«, versetzte Hartmut, »reichen freilich nicht weit. Indessen bin ich der Ansicht, daß die Allgemeingültigkeit eines solchen Satzes sich schwerlich wird begründen lassen. Wahrscheinlich läßt sich der Herr 148 Rittmeister hier allzusehr von dem persönlichen Eindruck eines Einzelfalles leiten –«
»Da haben Sie recht. Er selbst hat hierin Trauriges erlebt. Nun, das kann ja auch wohl vorkommen, daß jemand sich in seinen Gefühlen irrt, wie es ihm und Tante Doris passiert ist, als sie noch jung waren: die soll nämlich damals eine gutherzige, alte Gevatterin künstlich zusammengeschwatzt haben, indem sie jedem von ihnen vorredete, der andere sei zum Sterben in ihn verliebt, und so haben sie sich aus gegenseitigem Mitgefühl wirklich nehmen wollen; bis sie dann doch jeder eine andere Liebe gefunden haben und sich treulos geworden sind. Aber das haben sie einander niemals richtig eingestanden, sondern jeder ist bis auf den heutigen Tag überzeugt, daß der andere ihn fürchterlich geliebt habe. Darum hängen sie so aneinander; und wer wird auch so schlecht sein, ihnen über den wahren Zusammenhang die Augen zu öffnen? Es ist doch so schön und rührend. Ich weiß es noch von meiner Mutter, die die Schwester vom Onkel Rittmeister war; sonst kennt zum Glück wohl niemand die Geschichte mehr. Aber die Ehe vom Onkel August ist doch unglücklich gewesen, trotz aller anfänglichen heißen Liebe; und darum eben hat er sich in den Kopf gesetzt, daß alle solche Liebesheiraten durchaus immer zum Unglück führen müßten, und gegen diesen Glauben ist bei ihm mit aller Macht nichts auszurichten. Das heißt, wir alle hier vermögen nichts dagegen; aber das war's eben, um was ich Sie recht von Herzen bitten möchte: versuchen Sie doch, auf ihn zu wirken und ihm zu beweisen, daß er in einem schrecklichen Irrtum befangen ist. Sie sind doch ein Philosoph, und noch dazu ein richtiger Doktor der Philosophie, was er durchaus nicht ist, sondern bloß ein ganz gewöhnlicher Rittmeister. Und da können Sie doch mit Ihrer Logik alles beweisen, was man haben will, und wenn es der größte Unsinn wäre, was es diesmal aber gerade gar nicht ist. Und das sage ich Ihnen: durchsetzen müssen wir es auf alle Fälle, denn untreu werde ich dem Ulrich nicht wieder – ich meine, überhaupt nicht! Nein, niemals!«
Ihre Augen funkelten den jungen Philosophen so zornig 149 an, als ob er sie mit gewaltsamer Logik zur Untreue hätte überreden wollen. Er machte jedoch keineswegs einen so verwerflichen Versuch; vielmehr dachte er sehr ernsthaft über die entgegengesetzte Aufgabe nach.
»Ich will von Herzen gern hier alles tun, was in meinen Kräften steht«, beteuerte er nach kurzem Zögern, »obgleich die Aufgabe gerade für mich zum Verzweifeln schwer erscheint. Doch warten Sie, vielleicht – ja, ich könnte vielleicht in meinem Vortrage etwas darauf Bezügliches anbringen –«
»Ach, Sie wollen einen Vortrag halten? Richtig, Sie sagten schon so etwas. Einen wirklichen Vortrag?« fragte Lisbeth mit dem Ausdruck zweifelnder Bewunderung.
»Gewiß, Fräulein«, erwiderte er mit bescheidener Sicherheit.
»Aber, sagen Sie, eine förmliche Rede vor Menschen?«
»Nun ja –«
»Aber können Sie denn das? Sie?«
»Je nun, ich versuche es mitunter.«
»Komisch, ich kann mir das gar nicht so recht vorstellen, daß Sie eine ordentliche Rede halten könnten, ich meine so eine, die – ach Gott, verzeihen Sie, ich meine das nicht böse; ich finde nur, es wird Ihnen so schon etwas schwer, so ganz flüssig zu reden, wie das zum Beispiel unsere Predigtamtskandidaten verstehen, wenn sie manchmal mit dem Onkel herumstreiten und er sie abkanzelt wegen ihrer furchtbaren Frömmigkeit. Denken Sie aber ja nicht, daß die mir deshalb besser gefielen als Sie – gar nicht! Schon allein diese greulichen Halsbinden! Und gerade auch das Redenhalten – sehen Sie, es kommt mir so vor, als ob Sie zu ehrlich dazu wären. Denn beim Reden und Predigen muß man doch immer etwas flunkern, zum mindesten mit dem Arm schlenkern und mit den Augen rollen. Denn so etwas tut doch kein vernünftiger Mensch von selbst.«
Hartmut seufzte.
»Ich selbst«, bekannte er, »pflege vor jedem neuen Redeversuch an meiner Befähigung dazu zu zweifeln, ja zu verzagen; und dennoch, jedesmal, wenn ich es ernstlich wage, dann geht's. Allemal geht's, und nach dem ersten schweren 150 Anfange ganz wie von selbst. Merkwürdig genug; es ist das einzige, was bei mir geht.«
»Nun, natürlich«, sagte Lisbeth vergnügt, »dann komme ich auch zu diesem Vortrage, und den Onkel schleppe ich erst recht hin! Und sagen sie ihm nur recht tüchtig die Wahrheit, daß er's fühlt und sich bessert mit all seinem alten Unsinn. Nein, aber zu neugierig bin ich auf Ihre Rede; ich würde es gar nicht aushalten zu Hause. Nämlich soviel glaube ich jetzt doch ganz bestimmt: wenn Sie überhaupt reden können, dann müssen Sie sehr schön reden. Gewiß so recht rührend und zu Herzen gehend. Das sehe ich Ihren Augen an.«
»Oh, mein verehrtes Fräulein –«
»Ja, nicht wahr? Merkwürdig ist es doch, daß ich gleich beim ersten Anblick so eine Art Vertrauen zu Ihnen faßte; denn Sie müssen, um Gottes willen, nicht glauben, daß ich etwa den ersten besten so für Ulrich Seybold hätte halten können! Oh, nicht eine Sekunde lang, sage ich Ihnen, und wenn er ihm noch viel ähnlicher gewesen wäre als Sie. Überhaupt sind Sie ihm eigentlich gar nicht ähnlich; von Verwechseln wenigstens kann keine Rede sein. Es war offenbar bei mir bloß so eine Sympathie, oder wie man sich ausdrückt, wenn man von jemand gleich nur Gutes erwartet – und nun haben Sie doch auch wirklich versprochen, mir zu helfen.«
Hartmut ward von einem starken Rot übergossen und schloß, den Kopf ein wenig zurücklehnend, sekundenlang die Augen, als ob ein Schwindel sich darüber legte. Seine Züge aber trugen den Ausdruck stiller Glückseligkeit. Endlich raffte er sich mühsam empor.
»Oh, Fräulein«, begann er leise, »wie Sie mich durch Ihr Vertrauen beschämen! Doch in der Tat, auch ich darf sagen und mit viel tieferer Bedeutung, daß ich mich beim ersten Schauen unwiderstehlich von Ihnen angezogen fühlte – ich würde sonst niemals gewagt haben, Ihrem flüchtigen und unverständlichen Winke so schnell zu folgen: ich bin nämlich leider sehr furchtsamer Natur, nicht am wenigsten auch jungen Mädchen gegenüber. Zu Ihnen aber zog mich eine Gewalt, die stärker war als die Furcht. Und dann, nachdem Sie gegangen 151 waren, vermochte ich weder im Wachen noch im Traume von Ihrem Bilde mich abzuwenden: es schwebte über mir gleich einer wunderbaren Erscheinung, gleich einer Heiligen in Rosenwolken. Und auch heute noch in gleicher, nur in wundervoll gesteigerter Lebendigkeit, lange bevor meine leiblichen Augen Sie erblickten. Und als Sie nun kamen – und doch hatte ich fest beschlossen, Sie niemals wiederzusehen; fragen Sie nicht nach dem Grunde; um meinetwillen, um Ihretwillen – doch als Sie nun kamen, und ich meiner Vermutung sicher ward, daß Sie einem anderen gehörten und ihm von Herzen gehörten: da, da fiel die Schranke, die mich von Ihnen trennte, da ward ein düsterer Bann von meiner Seele genommen, da fühlte ich mich erlöst von einem Fluche, von dem Fluche, nicht lieben zu dürfen, ohne ein fremdes Glück zu zerstören, eine fremde Seele zu trüben. Wenn es traurig ist, nie geliebt zu werden, so ist es schrecklicher, niemals lieben zu dürfen. Denn lieben ist ein tieferes, heiligeres Bedürfnis der Menschenseele, als geliebt zu werden. Und erst jetzt fühle ich ganz in bewegter Brust, welch eine Seligkeit mir Ihr Vertrauen, Ihre zarte Freundschaft gewähren kann – o Gott, ich hätte ja gar nicht mehr leben können ohne Sie!
Und doch, ich hätte es tragen müssen. Nun aber ist alles gut. Ich werde Ihres Anblicks, Ihrer holden Nähe ohne Selbstvorwürfe genießen dürfen, sooft ich mir die Seele frei baden will von den Trübungen des gemeinen Lebens. Und das werden Stunden sein, die mich dem Himmel der Gläubigen nahe bringen. Ja, selig werde ich sein auch in den Zeiten, da ich Ihnen fern bin; ich werde der Selige sein, wenn ich Sie glücklich weiß an der Seite eines teuren, edlen Gatten, dem Sie die goldene Frucht seines Erdenlebens sind. Mir aber bleiben Sie noch etwas anderes, etwas, das zarter noch ist und höher, Sie bleiben die Blume im Leben meines Geistes, die reine, duftige, mildstrahlende Blüte, das erfüllte Ideal, dem sonst mein Herz durch die Öde der Jahre in friedloser Sehnsucht nachjagte, und das ich endlich mit aufglühender Wonne im friedlichsten Winkel der holden Erde in leibhaft schöner Wahrheit gefunden habe.«
152 Hartmut schwieg, von seiner Bewegung überwältigt. Er sprach anfangs schüchtern, abgebrochen, dann mit steigender Frische, zuletzt mit hinreißendem Feuer die Worte ausströmend; jetzt, da er verstummte, blickte er mit strahlenden Augen voll freimütiger Begeisterung dem schönen Mädchen in das sanft gerötete Antlitz.
Sie aber schaute ihm erregt, bewundernd, fassungslos entgegen. Lange Zeit fand sie kein Wort der Erwiderung, sondern saß mit halbgeschlossenen Augen, als ließe sie im Traum eine köstliche Musik nachklingend an ihrer Seele vorüberziehen. Endlich schüttelte sie doch den Zauber ab und sagte schüchtern:
»Wie wundervoll Sie aber reden können! So etwas Schönes hätte ich Ihnen denn doch nicht zugetraut. So kann ja kein anderer Mensch reden, auch der Ulrich nicht, bewahre! Das war ja, als wenn Sie ein Gedicht sprächen, so wunderschön. Natürlich, was Sie von mir da sagten, das war ja nur so geredet, wie man es eben in Gedichten tut – nämlich da meint man es doch immer nicht so schlimm, als man es sagt. Da will man zum Beispiel immer gleich sterben und hat sich überhaupt so gefährlich über alles; und das tut man doch in Wirklichkeit nicht. Und so auch, daß ich ein Ideal sein soll, das ist doch reiner Unsinn. Aber das schadet nicht, es klingt doch so sehr schön. Und wirklich, ich glaube jetzt ganz bestimmt, daß Sie den Onkel überreden werden. Und dann, und wenn Sie es durchsetzen, daß der Ulrich und ich mit des Onkels Willen und Segen ein richtiges Paar werden – sehen Sie, ja, dann wollen wir beide Sie unser ganzes Leben lang als ein wahrhaftes, vollkommenes Ideal verehren! Und nämlich – nein, aber wirklich, ich glaube fest, daß Sie noch einmal für mich auch so eine Art Ideal werden können, wenn wir erst näher miteinander bekannt sind; denn bis jetzt kennen wir uns doch immer erst sehr flüchtig. Und wissen Sie, man muß am Ende immer jemand haben, für den man so recht ordentlich schwärmen kann, ich meine, so von untenher, nicht wie für seinen Mann oder sonst seinesgleichen, die man einfach lieb hat. Ja, denken Sie, bisher habe ich eigentlich in dieser Art 153 für den Ulrich geschwärmt; aber merkwürdig, das könnte ich jetzt auf einmal nicht mehr. Gestern nachmittag noch, jawohl, da träumte ich so von ihm; aber heute – gar nicht daran zu denken. Das ist ja natürlich auch durchaus nicht nötig, ich glaube, es ist nicht einmal gut. Und dann muß ich auch sagen, von einem ordentlichen Ideal hat der Ulrich auch recht wenig an sich, soweit ich ihn kenne – wissen Sie, er ist mehr fürs Praktische. Aber ein vortrefflicher Mensch ist er, das dürfen Sie glauben, ganz vortrefflich. Das sagen doch alle, seit er sich so gebessert hat. Und ich freue mich sehr auf ihn, namentlich wenn der Onkel Rittmeister erst zur Vernunft gebracht ist; und das werden Sie ja besorgen; nicht wahr, und etwas Schöneres kann am Ende Ihre ganze Philosophie nicht zuwege bringen, als Menschen glücklich zu machen?«
Hartmut lächelte fast schwermütig.
»Sie kann auch Herzen, die nicht zum Glück bestimmt sind, mit prunkvollen Worten über das still Entbehrte hinwegtäuschen«, sagte er leise, »doch wer weiß – vielleicht kann sie auch das nicht einmal ganz ordentlich.«
»Ach was«, rief sie heiter, »solche Herzen gibt es ja gar nicht. Wenigstens vernünftige Herzen nicht. Die sind alle zum Glück bestimmt. Wozu wären sie sonst überhaupt da? –«
»Ja, wozu?« seufzte er.
»Und wozu, glauben Sie, sind zum Beispiel Krawatten da?« fragte sie plötzlich abspringend. Er sah sie sehr verwundert an.
»Ach Gott, verzeihen Sie nur meine Unart«, sagte sie treuherzig, »aber wahrhaftig, es hat mich gestern schon so aufgeregt, wie schlecht Ihnen das Ding da saß, und sogar in der Nacht noch, und heute wieder; ich hatte förmlich ein Brennen in den Fingern, es Ihnen ordentlich zu knüpfen. Und wenn Sie jetzt vielleicht erlauben, wo wir schon etwas besser miteinander bekannt geworden sind –«
»Oh, Sie sind zu gütig – aber Sie sehen nun selbst, welch ein nachlässiger, unbrauchbarer Mensch ich bin.«
»Ach, lassen Sie gut sein, das schadet nicht soviel. Offen 154 gestanden, ich habe es sogar ganz gern bei Männern, man hat dann doch ein bißchen an ihnen herumzubasteln. Das ist mir zum Beispiel an dem Ulrich gar nicht so angenehm, daß man bei ihm das nicht kann, weil er so etwas von Jugend auf immer selbst sehr geschickt machte; er ist schrecklich praktisch. Sonst aber ein ausgezeichneter Mensch, ganz ausgezeichnet. – So, danke, es geht schon ganz gut, Sie brauchen den Kopf gar nicht soweit zurückzubeugen; Sie brechen sich ja das Genick ab.«
Sie nestelte eifrig mit den schnellen Fingern an seinem Halse herum. Hartmut wagte kaum zu atmen; doch er fühlte eine herrliche Glut gleich einem belebenden Strome durch seine Adern rinnen. Bis in die tiefste Seele genoß er den Frieden dieser Stunde; es wehte ihn an wie ein leiser Atemzug des höchsten Glückes.
In diesem Augenblicke reinster Versenkung ließ sich von der Eingangstür her eine rauhe und gewaltsame Stimme vernehmen, die schallend herüberschrie:
»Herr, was machen Sie da mit dem Frauenzimmer?«
Beide fuhren entsetzt auseinander, und Lisbeth klammerte sich im ersten Schrecken fest an den Arm des neuen Freundes, der seinesteils dadurch einen Halt bekam und vor der Gefahr des Umsinkens oder einer schimpflichen Flucht bewahrt wurde. Sie erblickten den Rittmeister und zu ihrem Erstaunen Fräulein Hildegard, die jener mit großer Artigkeit an seinem Arme hereinführte.
»Ei der Tausend«, sagte der alte Herr, nachdem er näher herangekommen war, »ist das nicht der junge Mensch, der schon gestern – also, mein Herr, Sie sitzen immer noch hier?«
Der Philosoph rang vergebens nach Worten, als er zum zweitenmal diese schauerliche Verdächtigung aussprechen hörte, und seine Verlegenheit ward nicht geringer, da der Alte ihn mit einer unwohlgefälligen Kennermiene vom Kopf bis zu den Füßen schweigend einer schrecklichen Prüfung unterzog.
Zum Glück kamen ihm beide Damen fast gleichzeitig in seinem Elend zu Hilfe.
»Der Herr bat mich um eine Unterredung mit Ihnen, 155 lieber Onkel«, stotterte Lisbeth, »über philosophische Gegenstände.«
»Das ist mein Bruder, Doktor Hartmut Hammer«, stellte Hildegard vor.
»Ah«, sagte der Rittmeister, »der Herr, der den Vortrag halten will. Sehr gut – wenn Sie's können, mein Herr! Man dürfte zweifeln. Doch ich habe schon manchen gekannt, der klüger ist, als er aussieht. Übrigens alles besorgt für Ihre Rednerei, Erlaubnis ausgewirkt für heute abend, Ausrufer läuft schon herum. Wenn Sie sich bedanken wollen, machen Sie es kurz ab. Freue mich übrigens, den Bruder Ihrer Schwester kennenzulernen. Muß doch etwas von ihr in Ihnen stecken, wenn's auch nicht sichtbar wird. Immerhin interessantes Objekt – also Sie studieren Kant – haben den Mut?«
»Ich bemühe mich seit Jahren«, entgegnete er noch ganz verschüchtert, »in den Geist seiner Schriften einzudringen –«
»Wird Ihnen verdammt schwer werden, mein Herr Rheinbündler! Gehört Mut dazu, sage ich. Tut nichts. Nur nicht nachlassen. Wir sprechen noch mehr darüber. Aber jetzt sagen Sie mir nur, was machten Sie hier mit dem kleinen Frauenzimmer? – Tausend Welt, wo ist denn das Ding in der Eile hingekommen?«
Lisbeth war verschwunden; sie hatte den abgelenkten Eifer ihres Oheims benutzt, durch die nahe Hintertür zu entschlüpfen und sich weiteren unangenehmen Fragen zu entziehen.
Hartmut wurde dunkelrot und stand in fürchterlichem Schuldbewußtsein; zu seinem Erstaunen fügte der Alte ohne jede Feindseligkeit im Ausdruck die Frage hinzu:
»Gefällt Ihnen die Kleine?«
Und als er keine Bestätigung wagte, fuhr jener gemütlich fort:
»Schadet gar nicht! Keine Angst, mein Herr! Bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das Kind zur Zeit ein bißchen beschäftigen, ablenken, herumführen. Hat Motten im Kopf, muß etwas bewegt werden. Scheinen das zu verstehen. Oder dachten Sie etwa, ich machte mir Sorge um das Mädchen? 156 Ich sage Ihnen, die lasse ich allein mit Ihnen durch die halbe Welt reisen und fürchte nichts für ihre Tugend. Auf die ist Verlaß. Ist nicht umsonst meine Nichte. Also nur munter! Ja, sie gefällt Ihnen? Desto besser. Sollen sie näher kennenlernen. Einstweilen bitte ich um das Vergnügen Ihres Besuchs; Fräulein Schwester will mir eben die Ehre schenken. Brauchen sich nicht weit von Ihrem Rheinwein wegzuwagen: Sie befinden sich in meinem Hause. Wenn ich also bitten darf. Ich erlaube mir den Weg zu zeigen.«
Ein bittender Blick seiner Schwester veranlaßte Hartmut, ohne weiteres Widerstreben dem Voranschreitenden zu folgen, obgleich ihm ängstlich genug zumute geworden war.
›Um Gottes willen‹, dachte er, ›wie werde ich mich aus dieser Zwickmühle befreien? Hildegarden versprach ich, für die Hoffnung ihres Herzens zu wirken, und der verehrten Freundin verhieß ich das gleiche; und beide lieben denselben Mann! Ich vermag mein Wort nicht einzulösen, ohne mein Wort zu brechen. Was bleibt mir übrig als zu schweigen und diesen schrecklichen Greis gewähren zu lassen. Oh, möchte er nur auch mir Frieden gönnen!‹
»Welch ein entzückender Raum«, sagte Hildegard zum Rittmeister, sich vom Ausgange noch einmal zurückwendend, »man glaubt, in einer Kirche zu sein. Wir vom Rhein würden niemals vermuten, hier im Osten so schöne alte Bauwerke zu finden, wie auch draußen das Rathaus und andere Reste von Bedeutung.«
»Ist auch nicht das, worauf wir Altpreußen stolz sind«, sagte der Alte kühl, »bunter Firlefanz, Puppenspiel für große Kinder. Ob eine Kirche so oder so gewölbt ist, macht das die Gemeinde besser und schlechter? Oder wenn einer ein hübsches Madonnchen malt oder ein gutes Konterfei von dem und dem, werde ich dadurch sittlich gefördert? Es müßte denn gerade der Alte Fritz sein, der abgemalt ist: aber da macht's der Kerl und nicht die Malerkunst! Und nun erst das Dudeln und Klimpern – außer, was ein schönes Angriffssignal und so etwas ist! Und da kommen Hanswürste aus dem Reich, die noch ein ideales Verdienst darin suchen, wenn einer die Zeit 157 mit seinem eigenen Vergnügen totschlägt! Spielt doch, wenn ihr wollt, mit Puppchen und Klappern, aber tut's in euren Mußestunden und macht kein Geschrei davon, als wenn's Männerarbeit wäre. Was muß das für ein Lump sein, so ein Kerl, der den ganzen Tag nichts tut als Leinwand beschmieren oder Fiedel streichen! Und solche habt ihr genug im Reich. Und noch schlimmere: solche, die nicht einmal das tun, sondern bloß zusehen und zuhören und nachher Verse darüber machen und Schandgeschichten schreiben, wie der Herr von Goethe da unten herum und wie sie alle heißen. Den Teufel auch!«
Nach dieser kraftvollen Ansprache drehte er sich kurz herum und schritt den Geschwistern voran auf den dunklen Flur und die Treppe. Hier flüsterte Hildegard ihrem Bruder zu:
»Tu's mir zuliebe, uns zu begleiten. Ich weiß nicht, was dieser Herr mit mir vorhat. Er kommt plötzlich und fordert mich auf, bittet mich dringend, der Frau Geheimrätin Seybold, seiner Freundin, einen Besuch zu machen, sie müsse mich kennenlernen. Warum? Zu welchem Zwecke? Das begreife ein anderer. Doch immerhin – du weißt, daß ich mir nichts Besseres wünschen kann als diese Gelegenheit, in wie seltsamer Form sie sich auch bietet. Ich zauderte nicht, ihm zu folgen; und ich ängstige mich auch nicht; aber doch ist es mir lieb, wenn ich dich in meiner Nähe weiß. Und vielleicht kannst du inzwischen auch ein wenig für meine Sache wirken.«
Hartmut stieß einen tiefen Seufzer aus und blieb schweigend an ihrer Seite.
Sie überschritten mit einiger Verwunderung die Hängebrücke und kamen durch die Mauerpforte, die der Hausherr mit einem riesenhaften Schlüssel öffnete, in den schattenfrischen Garten.
»So«, sagte der Rittmeister, »wenn der Herr Doktor jetzt die Güte haben will, sich nach rechts hin zu bemühen und ein weniges zu warten; sehen Sie dort die beiden strammen Türme, da hause ich; betrachten Sie diese mit Aufmerksamkeit, mein Herr; man kann sich manches dabei denken. Sie stammen aus der Ordenszeit. – Ich begleite inzwischen nur 158 das Fräulein zu jenem Gartenhause und kehre gleich zurück. Und dann zu unseren philosophischen Gegenständen!«
Diese Verheißung begleitete er mit einem gewissen beutefrohen Tigerblick, der Hartmut zusammenschauern ließ, und reichte darauf der jungen Dame den Arm.
›Was wird aus mir werden?‹ dachte der Zurückbleibende, ›er wird mich eher überreden als ich ihn! O Lisbeth!‹
Und er wandelte verzagten Herzens auf die beiden bedrohlichen Türme zu. 159