Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Siebentes Kapitel

Hildegard macht wichtige Geständnisse und erobert eine Schwiegermutter.

»Also, bitte, mein schönes Fräulein«, sagte der Rittmeister, als er mit Hildegarden die weinumrankte Vorhalle des Gartenhauses erreicht hatte, »wenn Sie gütigst auf dieser Bank ein paar Minuten warten wollen – ich melde Sie bloß meiner Freundin und bin sogleich zurück. Sie bedürfen als Fremde eines Anhalts an einer älteren weiblichen Person, das ist alles, was wir zu sagen brauchen. Und ist es etwa nicht die Wahrheit? Was ich vielleicht noch von besonderen Absichten hege, ist meine Sache. Sie werden's erfahren, genau erfahren sogleich nach Ihrer Zwiesprache mit dieser Dame. Bis dahin denken Sie immerhin im stillen: Der Alte ist verrückt! Tut nichts: Sie werden alles begreifen. Ist mir nicht bange um Sie. Übrigens: ältere Person, sagte ich. Aber daß Sie sich nicht verwundern: sie sieht nicht aus nach ihren vierundvierzig Jahren; ein Kenner würde ihr vielleicht dreißig geben Dies nur, damit Sie sich keine Zittergreisin vorstellen und nicht verwirrt werden. Also, haben Sie die Freundlichkeit!«

Hildegard folgte bereitwillig seinem Winke, und er trat ins Haus. Ein ältliches Frauenzimmer mürrischen Aussehens empfing ihn auf sein zartes Läuten und ließ ihn hinein.

Frau Doris saß gedankenvoll in einem altertümlichen Lehnstuhl; auf ihrem Schoß lag zusammengerollt ein zierliches weißes Kätzchen, dessen Fell ihre Finger spielend streichelten.

»Guten Morgen, Madamchen!« rief er schon von der Tür her, die Hand mit lebhaftem Gruße bewegend, »wie geht's? Gut geschlafen? Frisch? Munter? Ei natürlich, sehen prächtig aus, ganz prächtig, Madamchen, jeden Tag jünger, jeden Tag schöner. Nur etwas verstimmt, will mir fast scheinen; haben Sie über etwas zu klagen? Selbstverständlich werden wir gleich Abhilfe schaffen.«

160 Er war herangetreten und küßte ihr ritterlich und zärtlich die Hand. In diesem Augenblick erhob sich die weiße Katze vom Schoße der Herrin, machte einen anmutigen Buckel, sprang herab und strich dem Alten mit erhobenem Schwanze sanft vergnüglich um die Beine. Heftig erschreckend und mit einem schmerzvollen Zischen fuhr er zurück und trat hastig an die andere Seite des Lehnstuhls. Das Tierchen tänzelte mit wohligem Schnurren ihm nach und rieb die Schnauze zutraulich an seinen Stiefeln.

Er schüttelte sich vor Unbehagen und machte, abermals zurückweichend, einen weiten Bogen um den Stuhl herum; die Katze nieste einigemal und trottete dann treuherzig und würdevoll hinterdrein. Ihm zuckte es sichtlich in den Füßen, das zudringliche Geschöpf kraftvoll an die Wand oder gleich aus dem Fenster zu schleudern, doch er bezwang seinen Abscheu mit einigen krampfartigen Zuckungen.

»Aber so setzen Sie sich doch, Onkel August«, sagte Frau Doris. »Sie wissen, daß ich Ihr Umherzappeln nicht vertrage.«

»Heute keine Zeit, Madamchen«, versetzte er fast ängstlich, »nur zwei Worte – nur eine Meldung –«

»Oh, Ihre zwei Worte kennt man«, unterbrach sie ihn lächelnd, »ohne eine gediegene Vorlesung tun Sie's ja doch nicht! Und jedenfalls setzen Sie sich. Ich bitte Sie dringend! Wirklich! Es ist schließlich nicht so schwer, wieder aufzustehen.«

Er gehorchte endlich und ließ sich auf ein niedriges Schemelchen nieder, nicht ohne einen qualvollen Seitenblick auf das schleichende Ungeziefer zu werfen.

»Worüber ich zu klagen habe?« begann sie jetzt, »nun, ganz einfach, immer dasselbe: diese Agathe ist mir unausstehlich, ihr mürrisches, immer gekränktes Wesen verdirbt mir täglich die Stimmung; ich hasse sie, diese Person, trotz all ihrer Arbeitskraft und ihrer sogenannten Pflichttreue: Sie müssen mir endlich eine andere Dienerin schaffen.«

»Tante Doris«, entgegnete der Rittmeister ernst, »krankhafte Gefühle einer unbegründeten Abneigung zu unterdrücken ziemt dem sittlichen Menschen. Eine heilsame Übung für Ihre schwache Seele! Ihre Achtung können Sie dieser 161 tüchtigen und sittlich reifen Person unmöglich versagen, also –«

»O weh, die Vorlesung!« seufzte Frau Doris.

»Sehen Sie mich an«, fuhr er unbeirrt fort, »habe ich den widerlichen Wurm, den Anton Reff, etwa aus persönlichem Wohlgefallen ins Haus genommen? Nein, sondern gerade weil es mich ekelte vor seinem küsterhaften Gefrömmel, weil ich jeden Tag die unsägliche Begierde in mir bekämpfen muß, ihn ohne jeden Grund durchzuprügeln, darum halte ich ihn. Und weil ich weiß, daß seine Seele ohne mich unrettbar verloren gewesen wäre; so aber ist es mir gelungen, ihn dem Guten zu gewinnen und mehr und mehr zu einem echten Diener des kategorischen Imperativs zu machen. Es ist wahr; ich liebe diese Agathe auch nicht; doch um so mehr gilt es fest zu bleiben und seine Grundsätze zu wahren.«

Eben legte die Katze ihre weichen Vorderpfoten auf seine Knie, blinzelte unbefangen, schmiegte das Köpfchen zärtlich an, nieste wieder, schwebte mit einer unendlich leichten Bewegung auf seinen Schoß und rollte sich dort zu der reizvollsten Kreisfigur zusammen.

Ein Zittern überlief seine Glieder, ein klägliches Zischen und Zähneklappern kam aus seinem Munde, er streckte beide Arme weit vom Leibe ab und saß mit hochgerötetem Angesicht und zugekniffenen Augen; doch er saß stramm und machte nicht die leiseste Bewegung, das Tier zu stören, das in kindlichem Zutrauen immer freudiger schnurrte.

»Madamchen«, stöhnte er, »nur zwei Worte – das Kätzchen, oh, das Kätzchen – da ist ein fremdes Fräulein –, oh, das liebe Kätzchen – das Sie gerne kennenlernen, um Ihren Schutz bitten möchte; es verweilt hier einige Tage auf der Durchreise, aus dem Reiche kommend –«

»Wie?« rief Frau Doris plötzlich sehr lebhaft und sehr erstaunt, »und dies Fräulein führen Sie mir zu? Sie? Das ist seltsam und kann mir kaum etwas Gutes bedeuten.«

»Sie meinen, weil es eine Rheinbündlerin ist?« fragte der Rittmeister harmlos, »lassen Sie gut sein; dieses eine Mal schadet es nicht. Eine ganz vortreffliche Person, schön, klug, gerade, sittlichreif, verdiente eine Altpreußin zu sein – 162 oder zu werden; und hat noch etwas an sich, etwas Seltsames, das ich nicht verstehe, etwas Unwiderstehliches; bin doch nicht gefühlsduslig, und dennoch – nun, Sie werden ja sehen. Und nachher werden wir weitersprechen; habe noch etwas zu sagen darüber, noch etwas sehr Wichtiges; doch Sie sollen nicht davon hören, wie der Blinde von der Farbe. Erst sehen – und dann mehr. Also ich darf das Fräulein hereinführen, wie?«

»Ei gewiß«, versetzte sie mit hastigem Eifer, »wie sollte ich eine Fremde, die mir so gut empfohlen wird, abweisen? Gar so schrecklich wird doch ihre sittliche Reife nicht sein, daß ich mich fürchten müßte; sie scheint doch auch gute Eigenschaften zu haben. Und dann sind Sie ja zu meinem Schutze da für alle Fälle –«

»Das doch nicht, Tante Doris, ich habe selbst Besuch von dem Bruder der Dame, den ich ein bißchen zureiten will. Und ich wünsche, daß Sie allein seien mit ihr; Frauenzimmer lernen sich besser kennen, wenn sie ganz unter sich sind, und daran eben liegt mir. Das Nähere später. Zu fürchten aber haben Sie wahrhaftig nichts. – Oh, bitte, Madamchen, nehmen Sie das Kätzchen fort, ich könnte ihm weh tun, wenn ich es anfasse«, setzte er ächzend hinzu; er hatte in diesem Augenblick eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem sterbenden Laokoon.

»Werfen Sie das Vieh nur hinab«, sagte Frau Doris erbarmungslos, »es tut sich keinen Schaden. Also gut, bringen Sie mir das Fräulein. – Übrigens sagen Sie, Onkel August«, fügte sie etwas lauernd hinzu, »haben Sie heute den Physikus schon gesehen?«

»Die kalte Blindschleiche? Die Kreuzspinne? Die Giftkröte? Freilich. Freilich. Habe ihn selbst aufgesucht und ihm den Kopf gewaschen wegen Volksverführung. Lag im seidenen Schlafrock, der Wüstling, in Pantoffeln auf dem Lotterbett; trank Kaffee – Kaffee in diesen Zeiten! Oh, der Schlemmerei am frühen Morgen! Und wollte mir gar noch ein Märschchen blasen, daß ich ihm gestern die Pferde scheu gemacht mit meinen Jungen. Donnerwetter! Als ob ein einziges: Tod dem 163 Bonaparte! nicht zehn zerbrochene Doktors wert wäre! Und nun gar von dieser Sorte! War aber leider heil genug geblieben, um sich im Sumpfe der Kaffeeschleckerei zu wälzen. Elendes Gesindel!«

»Und nachher sahen Sie ihn nicht mehr?«

»Nein, Gott sei Dank; wünsche ihn auch bis zum Jüngsten Tage nicht mehr zu sehen – außer wenn Sie seiner bedürfen, Madamchen, da ist's etwas anderes. Aber ich hoffe doch nicht –«

Er blickte sie mit liebevoll ernster Besorgnis an.

»Nein, nein«, sagte sie schnell, »ich fürchtete nur, er könnte sehr böse sein auf Sie – wegen gestern –, ich hörte davon – und könnte vielleicht – aber Torheit, was kann er Ihnen anhaben? Und dann – ach Gott, ja, lieber Onkel August, ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt für die herrlichen Blumen, die Sie mir wieder geschickt haben; Sie glauben nicht, wie glücklich mich das macht! Aber Sie verwöhnen mich so sehr in allen Stücken – Sie, ja, Sie und die liebe Lisbeth – dabei fällt mir ein, ich wollte mit Ihnen noch reden wegen des guten Kindes. Mir scheint nämlich fast –«

Sie stockte und räusperte sich in merklicher Verlegenheit. Der Rittmeister aber räusperte sich noch stärker.

»Ganz gut«, sagte er, »sehr gut. Ich möchte nämlich auch –«

Beide blickten einander erwartungsvoll und ängstlich an. Beide schwiegen. Das Schnurren der Katze tönte behaglich durch den stillen Raum; der Alte aber schnitt dazu die sonderbarsten Gesichter.

»Bitte, bitte, reden Sie, Madamchen«, bat er flehentlich.

Sie merkte den Vorteil, den sein krankhafter Abscheu vor dem Tiere ihr bot, und entgegnete mit ungewohnter Bestimmtheit:

»Nein, erst Sie.«

Da begann er zögernd:

»Die Lisbeth – ja, sehen Sie, die Lisbeth – ich muß doch sagen: die kleine Marjell, bei Lichte besehen – – – ach was, 164 kurz und gut, ich habe an ihr etwas herausgekriegt, das nicht in Ordnung ist.«

»Und das wäre?« fragte Frau Doris sehr neugierig.

»Sie ist verliebt in den Bengel«, erklärte er schroff. »Und das ist wider die Abrede.«

Sie erschrak ein wenig. »Wieso das?« fragte sie kleinlaut.

»Und mit dem Ulrich scheint auch etwas los zu sein, was nicht sein soll«, fuhr er fort, »nach dem Zeug, das mein Marjellchen schwatzt. Ich weiß noch nichts Rechtes, aber ich habe Witterung. Zum Teufel auch, sei's wie es sei, aus der Geschichte darf nichts werden. Der Ulrich darf sein Glück nicht gründen auf einen Sinnenwahn, eine verderbliche Seelenblendung. Jede aus Leidenschaft geschlossene Ehe muß eine unglückliche werden nach dem ewigen Weltgesetz von Rausch und Katzenjammer. An der Tatsache ist nichts zu ändern.«

Frau Doris stieß einen schweren Seufzer aus und blickte verwirrt und angstvoll zu Boden.

»Und zudem«, redete er unbeirrt weiter, »der Ulrich darf auch gar nicht nach irgendwelchem Glücke streben. Nicht ein einziges Mal darf er glauben, daß er ein Glück gewinnen könne außer der Pflichterfüllung, nicht ein einziges Mal, nicht ein einziges Mal! Ein Ganzes soll er werden, ein ganzer Mann nach dem Geiste Kants –«

»O mein Gott«, fuhr sie auf einmal heftig auf, »wenn Sie doch Kinder hätten! Sie würden nicht so Fürchterliches reden.«

Da hob der Alte sich jäh in die Höhe, daß die Katze unsanft von seinen Knien flog, trat dicht vor die Freundin, bohrte seine kleinen, feurigen Augen fest in die ihren und sagte hart:

»Wenn ich einen Sohn hätte, er wäre nicht als ein verlorener Lump aus der Heimat gejagt worden, er hätte nicht die Hand erhoben wider die eigene Mutter –«

Die arme Frau schlug beide Hände vors Gesicht und stöhnte laut. Er beugte sich über sie, küßte ihre Stirn und strich ihr sanft mit der Hand über den Scheitel.

»Lassen Sie gut sein, Doris«, sagte er mit ganz weicher 165 Stimme, »es ist alles in Ordnung gekommen und wird auch in Ordnung bleiben. Sie haben ausgehalten, treues, tapferes Herz, und Sie werden Ihren Lohn haben.«

»Und die arme Lisbeth?« fragte sie schüchtern.

»Wird sich trösten«, entgegnete er kühl, »ich habe mit ihr geredet. So ein kleiner Kummer kann ihr nur zum Heile sein. Sie hat bisher zu leicht dahingelebt, ohne Sorge, ohne Not, immer singend wie eine Lerche: das kann nicht so weitergehen. Sie muß endlich zum Bewußtsein erwachen, zum Pflichtbewußtsein. Das Gute aus eigener Neigung tun und das Unreine vermeiden, wie sie es tut, bloß weil sie nicht anders kann, weil es ihr so angeboren ist, das ist nichts, das hat keinen sittlichen Vollwert. Das tut der Hund auch, der seinem Herrn getreu ist bis in den Tod. Nein, lernen muß sie endlich einmal, zum wahren Pflichtgefühle vorzuschreiten, und zu diesem Ziele heißt der erste Schritt: Entsagen.«

Frau Doris lächelte wehmütig.

»Das arme Ding«, murmelte sie, »nun kommt es auch an die Reihe.«

»Tante Doris«, sagte er mit großem Ernste, »Sie haben diese Wahrheit in Ihrer Jugend an sich selbst erfahren, Sie haben mir einst entsagt aus reiner, starker Pflichttreue und haben Ihr Leben auf diesen Felsen gegründet statt auf den stiebenden Sand der glücksüchtigen Liebe. – Und nun lassen Sie uns abbrechen; wir sprechen noch weiter davon: noch heute, so hoffe ich. Inzwischen bitte ich Sie, empfangen Sie das fremde Fräulein gütig. Ich versichere nochmals, es liegt mir viel daran.«

Sie sah stumm mit einem ganz verständnislosen Blicke zu ihm auf; er küßte ihr die Hand und schritt, die Katze in einem weiten Bogen umwandelnd, eilig zur Tür hinaus.

»Alles vorbereitet, mein schönes Fräulein«, sprach er zu Hildegard, die sich von der Bank ihm entgegen erhob, »und alles in Ordnung. Belieben Sie jetzt nur einzutreten. Man erwartet Sie und wird Sie gut empfangen. Sie finden mich und Ihren Bruder nachher dort unten in meinem Turme; wir werden die Zeit benutzen, um ernsthafte Philosophie zu 166 treiben. Und dann bitte ich Sie gleichfalls um eine Unterredung unter vier Augen.«

Er verbeugte sich und ging in den Garten hinab. Hildegard trat an seiner Statt in das Haus und ward in das Wohnzimmer zu Frau Doris geführt.

Es herrschte eine wohlige Dämmerung hierinnen; die Fenster waren von Weinlaub umzogen und im Innern mit matt durchsichtigen Vorhängen überdeckt, die sich im sommerlichen Lufthauch kaum merklich bewegten. Doch das eindringende Licht genügte, das stille Gemach überblicken zu lassen. Hildegard sah, daß der alte Rittmeister nicht unrecht gehabt hatte, von einer Art Museum zu reden. Eine allerliebste Fülle des mannigfaltigsten Kinderspielzeugs, zerbrochenes und halbzerbrochenes, und verwandter Gegenstände war längs der Wände aufgereiht, kleine Uniformstücke, Säbel, Trommeln, Peitschen, Stecken und Wiegenpferde, eine Heldenschar gräßlich verstümmelter Bleisoldaten, eine hochgetürmte, aber durch feindliche Gewalttat hart mitgenommene Ritterburg, daneben friedlicheren Gewerbsgeist atmend ein halb ausgepackter Baukasten und eine Windmühle, die gerade noch einen Flügel aus dem Sturm der Zeiten gerettet hatte; ferner Bücher und Hefte, Handwerksgeräte, physikalische Werkzeuge einfacherer Art, ein großer Tuschkasten, Kleidchen und Kleider verschiedenster Jahrgänge, alles in prächtiger Unordnung durcheinander gewirrt, als hätte der spielende Knabe eben erst den Platz verlassen.

Hildegard zog bewegt und fast erschrocken den Blick von diesem heiteren Aufbau zurück und wandte sich der Frau Doris zu, die ihr langsam entgegenschritt. Sie ward überrascht durch deren Erscheinung, die Jugendlichkeit ihrer dauernden Schönheit und die weiche Frische des Ausdrucks trotz mancher Spuren gewohnten Kummers. Ein Zagen überfiel sie trotzdem, ein schönes Erröten füllte ihre Wangen, und eine sanfte Beklommenheit hielt ihre Bewegung gebunden. Die klare Munterkeit ihres Wesens schien ganz von ihr gewichen.

So stand die demütige Haltung und Gebärde des Augenblicks in einem ungemein reizenden Gegensatz zu der 167 naturgewohnten Frische und Lichtheit ihres Angesichts, und Frau Doris ließ den erst noch von einem fernen Mißtrauen verwirrten Blick jetzt ganz mit Güte und Wohlgefallen auf ihr ruhen, ja mit einer freudigen Überraschung, als ob sie noch etwas recht Besonderes an ihrer Person entdeckte.

Hildegard vermochte es endlich, sich zusammenzufassen. »Gnädige Frau«, begann sie mit gerührter und herzlicher Stimme, »ich komme aus Frankfurt –«

»Ah! Also wirklich!« rief Doris aus, ihr lebhaft die Hand entgegenstreckend, »das ist eine seltsame Überraschung, und, ich gestehe es, für mich ein schönes und fast wunderbares Zusammentreffen. Doch ich weiß ja nicht, ob hier irgendwelche Vermutungen gerechtfertigt sind –.« Sie richtete einen ängstlich fragenden Blick auf die Fremde.

»Ich komme«, fuhr diese in leiserem Tone fort, »hierher, um eine Wohltat von Ihnen zu erbitten – für Ihren Sohn.«

Frau Doris vermochte nicht, ihre aufquellenden Tränen ganz zurückzuhalten.

»Oh, so ist es denn wahr«, sagte sie gerührt, »so hat mich eine leise Ahnung nicht getäuscht, so kommen Sie von ihm, in seinem Auftrage – oh, erzählen Sie mir von meinem Sohne!«

»Nein«, versetzte Hildegard schnell, »das freilich doch nicht. Im Auftrage Ihres Sohnes komme ich nicht – ganz im Gegenteil –, er weiß nichts von meiner Reise, ahnt nichts, kann nichts ahnen – und doch komme ich einzig um seinetwillen, für ihn eine Gnade zu erflehen, die Gnade, die ihm niemand auf Erden geben kann als seine Mutter – oh, verzeihen Sie, gnädige Frau, meine Unbescheidenheit: es fällt mir in diesem Augenblicke schwer auf die Seele, wie wenig, wie gar kein Recht ich doch habe, mich so zwischen Sohn und Mutter zu drängen, da ich doch Ihnen eine ganz Fremde und auch ihm selbst nichts anderes bin als eine Schutzbefohlene vielleicht, denn er ist mein Wohltäter gewesen – ich hätte das eher bedenken sollen; aber sehen Sie, mir kam ein Gedanke des Zauderns über der Freude meiner Hoffnung, ihm vielleicht seine Wohltat vergelten zu können: diese Freude ist 168 das einzige Recht, das ich vor Ihnen zu meiner Entschuldigung geltend machen kann.«

Sie beugte sich mit einer schnellen Bewegung über die Hand der erregten Frau und küßte sie ehrfurchtsvoll.

»Oh, aber ich bitte Sie, meine Liebe«, fiel diese eifrig ein, »daß Sie meinen Sohn nur kennen, ihn gesehen, mit ihm gesprochen haben, wäre mir ja genug und übergenug zur freudigsten Begrüßung. Und daß Sie nun gar eine so herzliche Teilnahme für ihn haben! Oh, Sie glauben nicht, wie sehr Sie dadurch mein Herz schon gewonnen haben; fast kommen Sie mir wie eine liebe Bekannte vor. Und nun vor allem, setzen Sie sich nieder, hier, bitte, auf diesen Sessel mir gegenüber: ich möchte gerne Ihr Gesicht recht deutlich sehen, in das mein Sohn vielleicht vor wenig Tagen noch geblickt hat. So, ich danke Ihnen, so ist mir's recht; der Sessel gehörte auch einst meinem Sohne. Und nun tun Sie mir die Liebe, erzählen Sie mir recht schnell, recht viel! Und erklären Sie mir – das eine überrascht mich zunächst nicht am wenigsten, daß gerade der Rittmeister es ist, der Sie zu mir führt; von einem anderen hätte ich das eher erwartet –«

»Und gerade das«, versetzte Hildegard, »vermag auch ich in keiner Weise zu erklären. Die Absicht dieses Herrn ist mir ein volles Rätsel. Er kommt unaufgefordert zu mir, mit einem seltsamen Ansinnen, ja, einer scharfen Sittenpredigt, ich gewinne auf wunderbare Weise ohne irgend mein Verdienst seine ausgesprochene Zuneigung, sein fast törichtes Vertrauen; er geht in eigentümlicher Aufregung von mir und kommt schon nach kurzer Weile in größerer Aufregung wieder, deutet etwas Geheimnisvolles an, das er mit mir vorhabe, und zieht mich fast gewaltsam hierher zu Ihnen – nicht ahnend, wie sonderbar er damit meinem eigenen noch verschwiegenen Wunsche zuvorkam. Sie sehen, ich habe keine Erklärung für dies Geheimnis, da ich mir keiner Hexenkünste bewußt bin.«

Frau Doris nickte still vor sich hin. »Zu einem Teile«, sagte sie lächelnd, »glaube ich Ihnen nun allerdings das Rätsel lösen zu können, nämlich die Frage, durch welche 169 Zauberkraft Sie so schnell sein Herz eroberten – und ich vermute, nicht seines allein, sondern ich habe die Überzeugung, es wird Ihnen bei uns in Preußen das Schicksal noch oft begegnen, daß Ihnen die Herzen mit wundersamer Freudigkeit entgegenschlagen, so wenig man sonst hierzulande zu rascher Offenheit und zutraulicher Begrüßung geneigt ist. Der Zauber liegt in Ihrem Gesichte – verstehen Sie mich recht, es ist ein Zauber besonderer Art und nur für preußische Herzen – ich spürte ihn bei Ihrem ersten Anblick, ohne ihn mir deuten zu können und so wird es dem Alten auch gehen und manchem anderen vielleicht –, jetzt aber habe ich es doch herausgefunden, worin er liegt; unter Ihrem Sprechen ist mir's plötzlich aufgegangen: Sie haben eine unverkennbare Ähnlichkeit mit unserer früh verewigten Königin Luise! Ihre Haare zwar sind dunkler und Ihre Augen braun, das führt irre und läßt nicht gleich den wahren Grund jener Wirkung erkennen, die sich doch so lebhaft geltend macht. Glauben Sie mir, es ist so; dies Gesicht ist Zug um Zug dasselbe, nur daß freilich die Königin nie so leicht und heiter blicken konnte in der Zeit, da sie hier bei uns im Osten weilte. Ich beglückwünsche Sie zu dieser Ähnlichkeit, denn sie wird Ihnen in ganz Preußen das Leben leicht machen.«

Hildegard war leicht errötet bei dieser Erklärung. »Wollte nur Gott«, sagte sie, »ich könnte mich einer solchen Ähnlichkeit, wenn sie wirklich der Zufall gab, auch würdig machen; denn man weiß auch am Rhein nur Gutes zu berichten von dieser armen Fürstin, und mancher mochte sie wohl den bösen Preußen recht mißgönnen. – Und wenn Sie mir nun gestatten, daß ich von Frankfurt und Ihrem Sohn erzähle –«

»Ach ja, ich bitte Sie herzlich, erzählen Sie mir alles, alles, was Sie im Gedächtnis haben; ich möchte Ihnen nicht eine Kleinigkeit erlassen: bedenken Sie, daß Sie zu einer Mutter reden, die ihren einzigen Sohn seit fünf endlosen Jahren nicht gesehen hat.«

»So geben Sie mir selbst die Freiheit, um die ich Sie bitten wollte, gnädige Frau: recht ausführlich erzählen zu dürfen, was zwischen mir und Ihrem Sohne vorgegangen ist – ich 170 wage jetzt zu hoffen, daß es zu Ihrem Herzen sprechen wird; denn sehen Sie, ehe ich Sie kannte, fürchtete ich mich vor Ihnen; ich dachte Sie mir kalt und streng –«

»Das bin ich nicht, das bin ich wirklich nicht, mein Kind! Oh, wenn Sie wüßten – doch erzählen Sie! Jedes Wort wird mir ein Trost und eine Wonne sein. Vor allem, wer sind Sie und wie heißen Sie?«

»Ich heiße Hildegard Hammer. Ihren Sohn lernte ich kennen im Hause meines Oheims, eines Hagestolzen, der mich nach dem Tode meiner Eltern zu sich nahm. Ich galt als die Erbin seines nicht geringen Reichtums, denn er war der Bruder meiner Mutter, während mein einziger Bruder aus einer früheren Ehe meines Vaters stammt. Dieser Oheim aber war ein etwas wunderlicher Herr, verschlossen und griesgrämlich trotz allen Glückes, das er im Leben gehabt hatte, denn von Hause aus war er arm gewesen wie meine Mutter. Mich soll er schon in der Wiege im Verdacht gehabt haben, ich sei eigens und ausschließlich auf die Welt gekommen, um seine schöne Erbschaft zu erschnappen. Gewiß war das anfangs nur ein Scherz, aber dieser unfeine Scherz, den er später nur allzuoft vor meinen Ohren machte, hat sich mit der Zeit gegen sein eigenes Herz gewandt und sich als ein ernsthafter und häßlicher Argwohn in dasselbe hineingefressen und hat zuletzt aller vernünftigen Verwandtenliebe den Boden untergraben. So gehört es zu meinen ersten Kindeserinnerungen, daß ich kleines Würmchen auf jede ganz dumme Freundlichkeit und Liebkosung, wie sie ein Kind jedem beliebigen Menschen zuteil werden läßt, eine hämische Hindeutung zur Antwort erhielt, als gelte das nicht so sehr dem lieben Verwandten als dem reichen Erbonkel. Und das garstigste war, er versicherte mich hundertmal in einem greulich spaßenden Tone, sein Testament sei noch gar nicht abschließend gemacht, sondern es könne jederzeit wieder umgestoßen werden, wenn ich nicht in allen Stücken recht folgsam und freundlich sei. Auf solche Art brachte er es in recht kurzer Zeit dahin, mein junges Gemüt mit lauter Trotz und Widerwillen gegen seine unverständlichen Launen zu erfüllen.

171 Sobald mir diese aber erst einigermaßen begreiflich wurden, ward es nur noch schlimmer zwischen ihm und mir, zumal ich seit dem Tode meiner Eltern in seinem Hause wohnte und das Elend der Abhängigkeit kosten lernte, da ich schon ein erwachsenes Mädchen war. Jetzt brachte er mich mit seinen vermehrten Giftreden bald so weit, daß ich mir selbst zu mißtrauen anfing, in meinen heimlichen Gedanken mäkelnd herumstöberte und zuletzt wirklich in jeder Freundlichkeit, die ich ihm erwies, ja mehr und mehr sogar in jedem herzlicheren Gefühle für ihn eine versteckte Erbschleicherei erblickte. Und das ist ja wahr, ich entdeckte wirklich in allerlei Winkeln meiner armen Seele gewisse Heimlichkeiten, die solchen Erbgelüsten verdächtig ähnlich sahen: so dumm war ich ja nicht, daß ich nicht hätte merken sollen, was für Herrlichkeiten mir ein so schöner Reichtum dereinst erschließen könnte, und wie eine andere Figur ich damit in der Welt machen würde als so im Hinterstübchen der armen Verwandten. So nistete sich allmählich auch ein Argwohn wider mich selbst und meine innere Schlechtigkeit in meinem Herzen ein, ich wachte immer ängstlicher über mich selbst und verbot mir zuletzt auch die unschuldigste Liebenswürdigkeit gegen den Erbonkel. Ich gab mir vielmehr die größte Mühe, mich recht ungezogen und rücksichtslos gegen ihn zu betragen und ihn tüchtig merken zu lassen, wie gleichgültig mir seine protzige Erbschaft sei.

Ach Gott, wenn sie mir im Herzen nur wirklich so gleichgültig gewesen wäre! Dann durfte ich ja gut gegen ihn sein ohne Bedenken – aber so! Mußte ich doch alle Tage mit Seufzen daran denken, was aus mir werden sollte, wenn ich verwöhntes Tierchen eines Tages enterbt und rechtlos in Armut und Dienstbarkeit hinauszöge.

Meinem Oheim war dieses mein neues Benehmen nun erst gar nicht recht; im Grunde war es ihm doch behaglich, um seines Geldes willen umschmeichelt zu werden. Ja noch mehr: wie ich jetzt glaube und weiß, hatte er im Herzen weit mehr verwandtschaftliches Gefühl für mich, als er in seiner Wunderlichkeit zu zeigen verstand, und das einzige Unglück für uns beide war die Erbschaft, die ihm so wenig wie mir 172 aus den Gedanken wollte. Hätte er doch nur sein ganzes greuliches Geld auf die Straße geworfen oder gleich unwiderruflich anderswohin vermacht, wir würden fortan ganz prächtig miteinander gelebt haben. Denn ich war sonst von jeher ein vergnügtes Ding gewesen, und er war im Grunde auch ein Mann von Witz und Laune, nur daß diese schönen Dinge sich leider jetzt nach einer so häßlichen Seite kehrten.

Je herber ich wurde, desto derber wurde er, und sein Höhnen und Gifteln ward immer unausstehlicher, bis ich mich zuletzt in kühlem Stolze ganz in mich zurückzog, die Erbschaft endgültig in den Rauch schrieb und meine Lebenshoffnungen anderswohin lenkte. Entweder, dachte ich, bekommst du auch ohne Geld einen Mann, und dann weißt du wenigstens, woran du mit diesem bist, und daß du nicht des Geldes wegen genommen wirst; und wenn das nicht glückt, so ist eine alte Jungfer zuletzt wohl immer noch besser daran als die Sklavin eines eigensüchtigen Mannes.

Indes ich mich bei diesem trotzigen Troste beruhigte, verfiel er mehr und mehr in eine wahre Wut gegen mich und beschäftigte sich in seinem wachsenden Hasse höchst eindringlich mit der Frage, wie er sein Erbe auf eine recht sinnlose und lächerliche Weise nach seinem Tode verschleudern könne, bloß um mich als Enterbte desto mehr zu ärgern, und das immer laut vor meinen Ohren.

Damals empörte mich dieser grimmige Haß in tiefster Seele; jetzt freilich, nachdem ich das Spätere erlebt habe, ist er mir gerade ein rührendes und schmerzliches Zeugnis, wie sehr der Oheim sich heimlich nach meiner Liebe gesehnt hat; was brauchte es ihn sonst so zu kränken, daß ich sie ihm entzog? Es war ja auch sehr, sehr unrecht von mir, das habe ich längst nun eingesehen; es ist mir allezeit das Schwerste gewesen, meinen trotzigen Stolz zu bezähmen. Das kam daher, weil die anderen Menschen alle von früher Jugend auf mich viel zu gut behandelten und ich fast niemals ein strenges oder finsteres Gesicht zu sehen bekam, so daß ich nun aus Gewohnheit meinte, das müsse so sein, und ich habe einen rechtlichen Anspruch darauf, von jedermann gehätschelt zu werden. 173 Dafür bin ich denn einem anderen Menschen von Herzen dankbar, daß er's auch nicht tat, sondern mich ehrlich merken ließ, daß ich nichts dergleichen von ihm zu fordern habe.

Ich komme jetzt zu dieser neuen Bekanntschaft.

Wir wohnten in einem alten, aber guten Hause an der Ecke der Weißadlergasse nach dem Hirschgraben – diese Straße kennt ja jetzt jedermann in Deutschland: unser Haus liegt schräg dem Goetheschen gegenüber, so daß wir's aus dem Fenster noch bequem sehen können – den ersten Stock hatte der Oheim inne mit der Wirtschafterin und mir; im Erdgeschoß, gerade unter seinem Wohnzimmer, war eine einzelne Stube an einen Junggesellen vermietet. Denn mein Onkel war sehr genau und nahm jeden Verdienst mit, der sich ihm darbot.

Dieser Junggeselle aber war mir recht verdrießlich und ärgerte mich je länger, je mehr. Erstens war er eingestandenermaßen ein Preuße, und zwar einer aus der allerschlimmsten Gegend ganz hinten im Osten an der russischen Grenze, wo die Leute eigentlich gar kein Recht mehr haben, deutsch zu sprechen, sondern dies bloß aus Unverschämtheit tun und sich im übrigen von verschluckten Ladestöcken nähren und steifnackig vom Morgen bis zum Abend einherschreiten. Das ärgerte mich natürlich schon, aber schlimmer noch war es, daß ich eigentlich keinen rechten Anhalt finden konnte, mich mit einigem Fug zu ärgern, ihn herunterzureißen oder mich über ihn lustig zu machen. Das ging beides nicht gut an, denn er war nach allem, was ich sah, ein ganz ordentlicher und leidlicher Mensch, wohl ernst, aber nicht finster, wohl still, aber nicht blöde, wohl stolz, aber nicht hochmütig, wohl fest, aber nicht steif – kurz, gar nicht so, wie ein richtiger Preuße von Rechts wegen sein muß. Wie sollte ich mich also nicht über ihn ärgern? Die wirklich schlechteste Eigenschaft dieser Preußen aber kannte ich damals noch gar nicht, nämlich, daß sie zuweilen höchst schändliche Heuchler zu sein scheinen, die ihre ganze Bockbeinigkeit und Bärbeißigkeit bloß vorgeben aus närrischer Scham, während sie innerlich höchst gutherzige, weiche und sogar seelenvergnügte Menschenkinder sind. Mein 174 Preuße aber war, wie ich glaube, in diesem Punkte der Schlimmsten einer.

Was mich ärgerte, machte mich indessen auch neugierig, und es geschah mir eines Vormittags, da er wie immer zum Bau gegangen war (denn er war Architekt), daß ich mich mit der Aufwärterin unter einem Vorwande auf sein Zimmer wagte und daselbst ein bißchen herumspielte; nur daß ich beileibe kein Stückchen berührte, sondern mich ehrlich mit dem Anschauen begnügte.

Besonderes gab es da freilich nicht zu sehen, es war alles Geräte einfach und fast dürftig; den einzigen Schmuck bildeten einige Bilder, schlicht gezeichnete Köpfe, die allesamt ein und dieselbe Person darstellten, und zwar, wie ich bald aus der Ähnlichkeit und aus einer Unterschrift herausbrachte, die eigene Mutter unseres Preußen. Das milderte ein wenig meinen stillen Groll gegen ihn, denn ich konnte wohl denken, daß er die Zeichnungen selbst verfertigt hatte. Mitten unter diesen aber fiel mir ein anderes größeres Bild noch merkwürdiger ins Auge; es war eine ziemlich genaue Kopie eines berühmten Gemäldes, das mir aus Stichen wohlbekannt war, denn mein Oheim hielt auf solche Dinge, nämlich des Jüngsten Gerichts von Michelangelo Buonarotti, jedoch nur in seinem oberen Teile: von dem greulichen Wirrsal der armen Sünder, die gegen die Teufel ringen, war nur einer an veränderter Stelle zu sehen, derjenige, der schauerlich zerknirscht und hoffnungslos sein düsteres Antlitz in der Hand verbirgt, indessen die Dämonen ihn mit unwiderstehlicher Wucht an den Füßen zur Hölle niederzerren; darüber aber schwebte der strenge Christus, wie er in furchtbarer Gerechtigkeit verdammend die Hand erhebt, demütig schmiegt sich die schmerzvolle Gottesmutter an ihn hin mit einer Gebärde, als ob sie nicht wagte, die erbarmende Fürbitte auszusprechen, zu der ihr mildes Herz sie drängt. Unter diesem traurigen Bilde stand eine leserliche Unterschrift: ›Am 7. Julius 1807. U. S. Gott sei mir Sünder gnädig.‹ – Verehrte Frau, Sie weinen –«

»Lassen Sie mich weinen, liebes, liebes Fräulein«, rief Frau Doris, leise schluchzend, »gönnen Sie mir diese Tränen 175 und, bitte, erzählen Sie weiter – lassen Sie mich alles bis zu Ende hören.«

»Nun denn«, fuhr Hildegard bewegter fort, »auch mir drangen damals die Tränen ins Auge, es ward etwas seltsam in mir aufgerührt, und doch war es nur eine gestaltlose Ahnung, die mir wie ein ferner Glockenton zum Herzen klang.

Von diesem Tage an war es mir nicht mehr möglich, gegen den Mann einen unfreundlichen Gedanken zu hegen. Auch nicht, als ich ihn selbst nun kennenlernte.

Das kam aber so: der Oheim hatte eines Abends eine seiner sonderbarsten Schrullen. Er fühlte keinen Schlaf, und wie er in solchen Fällen pflegte, er trank etwas Champagner und ließ sich von mir vorlesen. Der Wein machte ihn heiß, er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Dabei bemerkte er einen Lichtschein aus dem Zimmer des Mieters, der ohne Zweifel noch bei seiner Arbeit saß. Der Oheim, ich weiß nicht, ob von einer guten oder bösen Laune getrieben, befahl eine zweite Flasche Schaumwein, befestigte sie an einem starken Faden, ließ sie außen hinabschweben bis zur Höhe des zurückweichenden Erdgeschosses, setzte sie in Schwingung und schlug damit eine Scheibe ein; auf diese seltsame Art beförderte er die Flasche in das preußische Zimmer.

Nach seiner Heldentat kicherte er eine Weile in sich hinein: ›Der Stubenhocker wird sich schön betrinken! Eine ganze Bouteille von dem schweren Zeuge verträgt so einer nicht. Und dann der Katzenjammer morgen!‹ Und solches Gerede mehr.

Nicht lange danach aber schellt es, und der Preuße läßt sich melden. Der Oheim, ganz vergnügt, nimmt ihn an. Mit Verwunderung sehen wir, daß der junge Mann die Flasche unentkorkt zurückbringt, heiter dankend und mit einem freien Lachen, das ihm gut stand. Er entschuldigte sich mit geraden Worten: er sei weder ein Duckmäuser noch ein Kostverächter, sondern von Hause aus eher das schönste Gegenteil, allein eben darum müsse er die köstliche Gabe leider zurückweisen. Er habe aus Gründen eine Art Gelübde getan, eine Zeitlang alle landläufigen Vergnügungen und Erholungen zu meiden; es handle sich gewissermaßen um eine Wette mit sich selbst, 176 es komme ihm darauf an, seine Kraft zu erproben, ob er's durchsetzen könne. Bis jetzt sei es ohne Krach gegangen, aber Champagner im Hause bedeute für ihn unter solchen Umständen den Teufel im Hause; wenige Gläser voll würden genügen, in seinem Blute lauter tolle Geister aufzuwirbeln, die er zur Zeit nicht brauchen könne, obzwar er im übrigen durchaus die Ansicht hege, es möchten das zur rechten Stunde auch sehr gute und wohltätige Geister sein.

Das alles sagte er so einfach und in einem scherzhaften Tone, und doch fühlte ich den festen Entschluß sehr deutlich hindurch; zugleich überkam mich eine sonderbar bestimmte Ahnung, daß es mit jenem Gelübde noch eine ernstere Bewandtnis haben müsse, als er hier angab. Die Zeichnung mit der traurigen Unterschrift kam mir in den Sinn, ich wußte nicht warum, und ohne daß ich einen klaren Zusammenhang herausfand. Ich schämte mich aber, daß ich halb in ein Geheimnis eingedrungen war, und ich mußte die Augen niederschlagen.

Auch meinem Oheim schien jene Erklärung sehr zu gefallen, vielleicht bloß, weil sie einer Schrulle recht ähnlich sah, und als der Herr sich höflichst empfohlen hatte, begann er ihn mit Nachdruck zu loben.

Da geschah mir das Seltsame, daß ich rot wurde und den Blick nicht ertragen konnte, mit dem der Onkel mich unter den Lobsprüchen doch ganz gleichgültig ansah; ich hatte die Empfindung, als sähe er da gerade in mein Geheimnis und meine große Teilnahme für den Fremden hinein; und das ward mir so unbequem, daß ich ganz heftig widersprach, um mich zu verbergen, und behauptete, das Ganze sei nichts als ein närrischer preußischer Eigensinn oder eine Großtuerei, oder was für Schlechtigkeiten ich sonst da hineinlegte.

Auf diese etwas wirren Reden lachte der Oheim und rief: ›Ei, sieh, der gute Preuße scheint dir ja recht gründlich zu mißfallen!‹

›Ja‹, sagte ich trotzig, ›das tut er auch, er ist ein steifleinener Gesell, und es wundert mich, daß Sie so freundlich von ihm denken!‹

177 Das wurde mir aber so schwer, herauszubringen, daß ich an den paar Worten ordentlich würgte. Mein Oheim jedoch hielt es für meine aufrichtige Meinung, und darum hatte er eigens mir zum Tort nichts Eiligeres zu tun, als ihm am nächsten Morgen gleich einen Gegenbesuch zu machen und in aller Geschwindigkeit mit ihm Freundschaft zu schließen. Es fügte sich aber so sonderbar, daß diese boshafte Laune ihm die letzten frohen Stunden seines Lebens verschaffte. Denn die beiden Männer vertrugen sich trotz aller Verschiedenheit vortrefflich miteinander und verstanden es, lange Abende mit großer Lebhaftigkeit und wenig Zank zu verplaudern, obgleich ihre Ansichten keineswegs überall die gleichen waren, am wenigsten in politischen Dingen. Namentlich über dies seltsame Preußen gerieten sie doch manches Mal scharf aneinander. Denn mein Oheim war zwar gar nicht so bös dagegen gesinnt wie ich, sondern ließ ihm viel Gutes und Großes, meinte aber doch, es habe nun abgewirtschaftet für alle Zeit, weil es von vornherein nur ein künstliches Gebäude gewesen sei, ein Länderfrikassee, wie er sagte, und könne höchstens vielleicht als Kern eines neuen Polenreiches eine Auferstehung feiern. Die Deutschen aber sollten froh sein, daß sie den nimmersatten Unruhestifter loswären, und sich untereinander um so fester zusammenschließen, damit sie von den Franzosen bald frei würden; nachher freilich möchte ihnen dieser wackere preußische Grenzwall gegen den Russen gewiß noch recht gute Dienste leisten können.

In allen diesen Stücken war natürlich unser Herr Preuße selbst ganz anderer Ansicht; er redete Wunderdinge von der Zukunft seines Staates wie von lauter ausgemachten Tatsachen. Ich hatte mich früher niemals weiter ums Politische bekümmert, als daß mir der Napoleon unheimlich war, die Preußen und Russen aber auch. Jetzt geschah auf einmal eine große Verwandlung in mir. Zuerst verwunderte ich mich, daß von diesem kleinen und verzerrten Landfetzen, der auf der Karte Preußen hieß, sogar viel und sogar ernst die Rede war, als ob der Zwerg gegen die drei Riesen an seinen Seiten etwas Rechtes bedeuten könnte, und davon bekam ich 178 unvermerkt einen großen Respekt – nicht am wenigsten aber vor dem Manne hier, der sonst so still auftrat und in diesem Punkte so sicher redete und ganz genau wußte, daß er nicht nur die Franzosen aus dem Lande jagen, sondern auch uns arme Deutsche mit der Zeit allesamt in seinen Sack stecken würde. Ich fand das abscheulich, aber ich gewöhnte mich doch daran und dachte manchmal: Wenn dieser Mensch König von Preußen wäre, so möchte das alles wohl wahr werden und schließlich auch nicht viel schaden! Und daß ich's gestehe, an der ganzen Politik war mir eben dieser Mann das Merkwürdigste und Beste, und ich freute mich allemal recht heimlich, wenn ich seinen kräftigen Tritt auf der Treppe vernahm.

Trotz alledem aber begegnete ich ihm fortdauernd ganz kühl und herb aus Trotz gegen den Oheim und auch noch aus einem anderen stillen Trotz, um nur ja nicht zu verraten, wie groß doch meine Teilnahme für ihn war, und gar, aus welcher allerersten Ursache. Er aber verhielt sich gegen mich auch sehr eigen, erst höchst freimütig heiter und sorglos, und dabei doch mit einer feinen stillen Ehrerbietung, die mich entzückte, nachher aber, als er meine wunderliche Art merkte, verwandelte auch er sich ganz und nahm ein kaltes und vornehmes Wesen an. Sosehr mich das kränkte, konnte ich doch mein Herz nicht bezwingen, daß ich mein Betragen änderte. Bloß manchmal, wenn er mich mit einem ernsten und fast traurigen Blicke streifte, fuhr mir's in die Glieder, daß ich an meinem Herzklopfen zu ersticken meinte. Dann aber benahm ich mich jedesmal erst recht unartig gegen ihn.

Nun währte aber dies ganze Verhältnis nur kurze Zeit, kaum ein paar Wochen. Der Oheim bekam plötzlich sehr heftige Herzbeklemmungen, daran er schon sonst gelitten, und diesmal fühlte er, daß es zu Ende gehe. Er besandte den Notar, seinen letzten Willen aufzusetzen, und ließ gleichzeitig den jungen Freund heraufbitten: er habe ihm eine bedeutende Mitteilung zu machen. Ich hingegen blieb von dieser Verhandlung wie auch vorher von aller Pflege strengstens ausgeschlossen.

Mir war seltsam zumute; für mein Leben gern hätte ich dem Sterbenden in seiner Not zur Seite gestanden, selbst auf 179 die Gefahr hin, nun ganz gewiß für eine Erbschleicherin zu gelten. Allein da half kein guter Wille mehr: ich hörte die zornige Stimme des alten Mannes, der mir den Zutritt an sein Lager ein für allemal verbot. So blieb mir nichts, als einsam im Hinterstübchen zu weinen und mit Reue der Vergangenheit, mit Furcht der Zukunft zu gedenken.

In der Nacht starb der Oheim in den Armen des Freundes; auf die Nachricht besuchte mich der Notar, ein alter Hausbekannter, um mich zu beruhigen und mit guter Kunde zu trösten. Da wird mir denn eine anfangs schier unbegreifliche Überraschung: ich war trotz alledem und alledem förmlich und gesetzlich zur Gesamterbin eingesetzt.

Mir schwindelte ordentlich, als ich das hörte, und ich vermochte es vorerst gar nicht zu glauben. Wie sollte das auch nur möglich sein, da ich immerfort so trotzig und schlecht an dem nun Entschlafenen gehandelt?

Der alte Bekannte lächelte, drückte mir die Hand und erklärte, allerdings habe es einen besonderen Zusammenhang. Nämlich mein Oheim habe zuerst ohne Schwanken den jungen Preußen zum Haupterben bestimmt, außerdem nur einige Legate und Stiftungen aussetzend, mich aber ausdrücklich und vollkommen von dem allerletzten Heller ausgeschlossen. Schon habe er, der Notar, nach einigem Verwundern und Zögern die Feder angesetzt, denn es stand ihm nicht zu, dem Erblasser in seine Sache dreinzureden, und an dem klaren Verstande desselben war nicht zu zweifeln; da habe im Augenblick der unerwartete Erbe, der Preuße selbst, sich aufs kräftigste ins Mittel gelegt und zunächst für sich das auffallende Anerbieten mit aller Bestimmtheit zurückgewiesen, danach aber recht herzlich gebeten, der natürlichen Erbin ihr angeborenes Recht nicht zu verkürzen.

Der Oheim ist erst grimmig aufgefahren; als er sich aber um seiner Schwäche willen beruhigen mußte, hat der Fremde ihm eine ergreifende Geschichte vorgetragen, wie für ihn selbst ein Zerfall mit seinen nächsten Angehörigen das Unglück seines Lebens geworden sei: daß er zwar vor allem sich selbst unverzeihlicher Verschuldung dabei anklagen müsse, aber doch 180 zugleich an sich erfahren habe, wie leicht ein Mensch auch ohne ganz bösen Willen in solche Schuld verstrickt werden könne durch bloßen Trotz und Eigensinn, dergleichen viel doch auch in manchem besten Menschen als irdischen Blutes Erbteil stecke. Ebenso aber auch habe er allzu tief und bitter die Gewissensnöte und Seelenkämpfe bei so unnatürlichem Zerwürfnis kennengelernt, um nicht mit jedem anderen ein herzliches Mitleid zu fühlen, der von ähnlichem Unheil bedroht oder betroffen sei.

Diese guten, klugen Reden haben dem sterbenden Manne die Seele bewegt. Da hat sich's gezeigt, daß er von Herzen keineswegs ein schlechter Mensch gewesen ist, sondern nur aus sonderbarem Trotz und Mißtrauen sich gegen die eigene Sehnsucht nach Liebe gesträubt hat. Das hat er offen eingestanden, und nachdem er das Testament nun ganz zu meinen Gunsten gemacht und später nicht mehr viel sprechen konnte, hat er den jungen Freund immerfort mit zärtlichen und dankbar scheinenden Blicken angeschaut. Mich aber hat er doch nicht mehr sehen mögen, weil er sich vor mir schämte. Sein letztes Wort ist gewesen, er wünschte sich nur, einen Augenblick nach seinem Tode noch zu leben, um meine freudige Überraschung selbst mit ansehen zu können. Danach ist er in Frieden gestorben.

Mir aber blieb nun in meiner freien Einsamkeit gar große Unruhe und Herzensplage. Ich hatte sonst stets jede kleine und große Gabe gern mit heiterem Dank und ohne Bedenklichkeit auch wohl von einem Fremden angenommen, denn ich war's gewöhnt, daß jedermann mir Gutes tat; allein eine so unerhörte Wohltat eines wildfremden Menschen, dem ich selbst bis dahin nie anders als unartig begegnet war, die fiel mir doch als eine gewaltige Last auf die Seele, und ich vermochte den quälenden Druck des Dankes nicht in mir zu behalten. Da gedachte ich's nach schmerzlichem Kampfe über mich zu gewinnen, daß ich mein offenes Herz vor ihn hinlegte und ihm alles sagte, welches trotzige Schamgefühl mich bisher vor ihm verschlossen, und wie jetzt seine Edeltat mich ganz und gar erweicht und verwandelt habe, daß ich mich vor heißer Dankbarkeit nicht mehr zu lassen wisse.

Jetzt aber lernte ich, daß es nicht so leicht ist, mit einem 181 stolzen Menschen fertig zu werden, den man einmal leichtsinnig oder töricht von sich gescheucht hat. Er ließ mich durchaus nicht an sich kommen und vereitelte jede Gelegenheit, ihm das Opfer meines Stolzes darzubringen. Wenn ich ihn einlud, kam er nicht und gab sich nicht einmal die Mühe, einen recht scheinbaren Vorwand hervorzusuchen; wenn ich ihn im Hause oder auf der Straße traf, machte er eckig rechtsum kehrt wie ein preußischer Rekrut und ließ sich nicht fangen. Kurz, wenn ich zuvor vielleicht unhöflich gewesen, so war er jetzt einfach grob.

Nun war's aber seltsam, daß mich diese Unart gar nicht so recht verdroß, sondern eher noch anzog; ich mußte immer an meinen Oheim denken, wie wunderlich bei dem sich die verschämte Sehnsucht nach Liebe geäußert hatte. Und bei solchem scheuen Gedanken überlief mich allemal ein Schauer geheimnisvollen Glückes. Dazu kam die dauernde Last der Wohltat und vielleicht auch ein wenig die kecke Lust, mir doch die bessere Gesinnung des Mannes zu erzwingen, der als der einzige nach meinem Oheim mich zu mißachten schien, da ich doch sonst an lauter Liebe gewöhnt war.

Ich merkte aber doch, daß ich es klug einrichten mußte und beileibe nicht so mit der Tür ins Haus fallen durfte, wie ich anfangs gewollt hatte. Ich nahm also eines Tages unsere Wirtschafterin, die augenblicklich zu meiner Ehrendame aufgerückt war, und wagte mich mit ihr geradeswegs in die Höhle meines Bären. Und obgleich er mir nun nicht mehr entwischen konnte, behielt ich doch meine Gefühle für mich und redete zu ihm so dürr geschäftlich, daß es mir ordentlich zu rascheln schien; so machte ich ihn mir erst sicher und ein wenig zutraulich. Ich sagte ihm zunächst mit einer mäßigen Umschreibung so ungefähr ins Gesicht, es sei ja gewiß recht hübsch von ihm, daß er auf die widerrechtliche Erbschaft Verzicht geleistet, aber bei Lichte besehen doch auch nicht viel mehr als die glatte Pflicht eines ehrlichen Mannes, namentlich wenn er ein Preuße sein wolle. Also erübrige nur noch, daß er einige kleine Angedenken in Empfang nehme, die mein Oheim schon vor seiner Krankheit ausdrücklich für ihn bestimmt habe (das 182 hatte ich mir niedlich so ausgedacht), nämlich ein Dutzend guter Kupfer oder mehr nach alten italienischen Bildern. Er möge nur kommen und dieselben holen, denn er könne nicht verlangen, daß ich die staubigen Scharteken ihm noch selbst herunterschleppe; sie durch Mittelspersonen zu schicken, verbiete mir aber die Ehrfurcht vor dem gutgemeinten Geschenke meines toten Oheims.

Nach dieser Aussprache verneigte ich mich kühl und empfahl mich.

In dieser schönen Falle ließ er sich aber wirklich fangen. Er kam in eigener Person, die Stiche in Empfang zu nehmen. Ich trat ihm in Gesellschaft meiner Alten recht steifleinen entgegen und legte ihm die Blätter vor, die ich im Nachlasse gefunden hatte. Während ich sie ihm aber einzeln unterbreitete, bat ich gelegentlich um eine Erklärung dieses oder jenes dargestellten Vorgangs, jedoch immer im ödesten, gleichgültigsten Tone, um mir sein Vertrauen zu bewahren. Damit brachte ich ihn zum Reden, und ich merkte wieder, wie schon sonst nicht selten, eine Sonderart an ihm: er ist manchmal lange Zeit so stumm wie ein Fisch, und plötzlich bricht's dann hervor wie ein Strom, wenn ein Ding seine Teilnahme oder gar seine Leidenschaft erregt. Das war aber hier recht schön der Fall, und es war auch kein Wunder, daß die feinen Sachen, die ich ihn erben ließ, ihn mit Entzücken erfüllten.

Durch diese Zwischenreden verstand ich die Übergabe der Schenkung so sehr in die Länge zu ziehen, daß wir den Handel abbrachen, und er noch mehr als einmal wiederkommen mußte, da ich denn inzwischen immer neue Blätter herausgestöbert hatte, denn mein Onkel war ein trefflicher Sammler gewesen.

So gelang es denn allmählich meiner Kälte, seine Sprödigkeit zu überwinden und einen gewissen anständigen Ton von laulicher Kameradschaft zwischen uns herzustellen. Daß damit schon meine letzten Wünsche erfüllt gewesen wären, konnte ich zwar mir selbst nicht vorreden; aber es gab doch eins, das mich noch besser tröstete: es schien mir, als ob sein Auge zuweilen mit einem eigenen stillen Glanz auf mir ruhe und 183 auch seine Stimme einen besonderen tieferen Klang annehme; bis er plötzlich selbst darüber erschrak; so deutete ich mir's, daß er Blicke und Ton dann oft so rasch ermatten ließ.

Da faßte ich endlich den Mut zu einem dreisteren Wagnis. Als mein Vorrat von Stichen schon mager ward, schickte ich einmal unsere Gesellschaftsdame zu einer ausgiebigen Besorgung hinaus, legte ihm schnell das Jüngste Gericht des Michelangelo vor und gestand ihm zugleich mit hastiger Rede, wie ich einst schon bei Lebzeiten meines Oheims aus Neugier widerrechtlich in sein Zimmer eingeschlichen sei und daselbst mit erschrockener Teilnahme die merkwürdige Nachzeichnung entdeckt habe; dies Bekenntnis sei ich aus Scham ihm lange schuldig geblieben.

Obgleich ich aber heftig dabei zitterte und fast einen Schwindel empfand, beherrschte ich mich doch und redete streng und stumpf wie von einer mir unbeträchtlichen Sache. Er aber sah mir tief und wie berauscht ins Auge, und da war's, als ob auf einmal ein warmer Quell sich in seiner Brust gelöst habe und übersprudelnd mit einer Gewalt hervorrausche, der er selbst nicht widerstehen könne.

Mit innigem Feuer begann er zu erzählen, tiefgehende Geheimnisse aus seinem Jugendleben. Ich saß regungslos und hielt die Blicke fest gesenkt, denn ich fühlte, daß sein Auge mit beständiger Wärme auf mir ruhte, und daß er um keinen Preis aus der schönen Dumpfheit seiner halb unbewußten Hingebung aufgestört werden dürfe. In meinem Schweigen aber ward ich tief erschüttert von der Schwere seines Bekenntnisses und dennoch zum Stolz erhoben durch das wundervolle Vertrauen, das der verschlossene Mann mir in dieser Stunde schenkte. Denn er schenkte es von allen Menschen mir allein, das wußte ich so gewiß, als ob er es mir beschworen hätte. Und es rührte mich herzlich, daß er es so gleichsam wider den eigenen Willen von innen heraus tat, und ohne daß ich es durch eine sichtbare Teilnahme verdient hätte.

Und was er mir in dieser stillen Stunde bekannte, gnädige Frau, das wissen Sie: und alles wissen vielleicht nur Sie allein. Er sprach von seiner großen Sünde und von Ihrem 184 gerechten Zorn. Jedes seiner Worte glühte von lauterer Wahrhaftigkeit – und so redete er auch von seiner Mutter und gestand in schöner Traurigkeit, daß auch sie nicht frei von Schwäche und Schuld an seiner Verirrung gewesen –«

Bei diesen Worten Hildegards hub sich Frau Doris plötzlich mit strahlenden Augen ihr entgegen, faßte zärtlich ihre beiden Hände und rief jubelnd:

»Ich habe sie gefunden, die mein Sohn liebt! Sie sind es und keine andere. Ich ahnte es ja lange, aber nun weiß ich es. Alles konnte er bekennen in still vertrauender Freundschaft, alles über sich selbst: die Schuld seiner Mutter aber gab mein Sohn nimmermehr preis außer der einen, die er liebte. Sehen Sie, trautstes Kind, daher weiß ich's so ganz gewiß, daß Sie seine Liebe sind. Und wenn Sie ahnten, wie unsäglich mich diese Entdeckung beglückt –«

Hildegard beugte sich nieder und küßte ihre Hände.

»Ja«, sagte sie, »was soll ich es leugnen? Denselben Glauben gewann auch ich in jener Stunde. Ein tief ahnender Schauer überströmte mich gleich einer himmlischen Gewißheit.

Und auch als er sich wieder gesammelt und dann von mir gegangen war so fremd und still wie immer, blieb mir doch die frohe Überzeugung, daß ich auf den Grund seiner Seele geblickt habe und mir nun seine schroffe Zurückhaltung mit wunderbarer Sicherheit zu deuten vermöge.

Er ist ja dein Wohltäter, sagte ich mir, und wie er zu spröde ist, den ihm gebührenden Dank zu empfangen, so ist er dreimal mehr zu stolz, auch nur den Schein eines Anspruchs auf seine Wohltat gründen zu wollen. Gewiß, er fürchtet, wenn er um dich wirbt, du möchtest vielleicht dem Drucke der Dankbarkeit weichen, du möchtest nicht den Mut haben, ein ruhiges Nein dem Manne entgegenzusetzen, dem du dein Glück doch schuldest, du möchtest dich ihm zu eigen geben auch ohne ganze Liebe. Aus dieser stolzen Scheu allein wohl schweigt er und zaudert er, und an dir ist's nun, die feine, feste Schranke zwischen uns niederzureißen und ihm zuerst mit einem tapferen Wort deine Liebe zu verraten!

Aber das vermochte ich nicht. Meine Zunge stockte, als ich 185 ihn nachher noch einmal wiedersah, und nicht aus Absicht mehr, sondern aus zitternder Scham blieb ich steif und kühl und stumm, und wir schieden wie zwei fremde, vernünftige Menschen, vielleicht um einander nie mehr zu begegnen.

Bei diesem furchtbaren Gedanken aber faßte mich eine neue Kraft der Verzweiflung, und wie ein erlösendes Licht kam die Kühnheit über mich, eine freudige Tat für ihn zu wagen.

Ich beschloß, seine große Wohltat durch eine größere wettzumachen und zu vernichten. Wie, wenn es mir gelänge, mit eigener Bitte das Herz der zürnenden Mutter zu rühren, zu versöhnen, die endlose Last der Buße von seinem Haupte zu wälzen, und ihm den inneren Frieden zu bringen? Wo blieb dann seine Wohltat? Wog die nicht federleicht gegen die meine? Was hinderte ihn dann noch, und was blieb ihm übrig, als heiter vor mich hinzutreten und zu sagen: Du hast mir so viel gegeben, daß du gar nicht mehr anders kannst und darfst, als mir alles zu geben?

Das war mein herrlicher Plan, und danach handelte ich. Unter dem Schutz meines Bruders bin ich hierhergekommen, mir meinen Preußen zu erobern. Ich bin auch nicht irre geworden durch neue, sonderbare Dinge, die mir hier zugetragen wurden, von einer anderen Liebe, von einem anderen Bande, das ihn hier fesseln sollte – mag das sagen, wer will, ich kann es ja doch nicht glauben. Mein Herz weiß, er muß mein werden, weil er mein ist; wie ein Übermut hat mich diese Sicherheit gerade erst jetzt ergriffen, wo ich einen Vorwand hätte zu zweifeln. Nein, ich muß ihm mir erobern, denn ich will ja nichts als mein Eigentum. Und warum sollte ich diese meine Dreistigkeit verhehlen? Warum sollte ich für mich nicht tun, was ich doch zugleich für ihn tue?

Und nun wissen Sie alles, gnädige Frau, und nun flehe ich Sie aus freiem Herzen an: gewähren Sie ihm Ihre Vergebung, gewähren Sie ihm heute noch Ihre Gnade! Oh, hätte ich doch die Kraft seiner eigenen Rede, Ihnen zu schildern, wie all die Jahre hindurch die Ungnade gleich einer schwarzen Hand schwer auf seinem Haupte gelegen und alle Lebenslust 186 zusammengedrückt hat; wie ihn manches Mal ein Zorn hat erfassen wollen ob der endlos hingezerrten Kette, und er laut aufgeschrien hat vor Begierde, sich nur ein einzigmal wieder austoben zu können in trotziger Jugendlust: und wie er doch immer wieder den wilden Jammer niedergerungen und die Strenge der Mutter gesegnet hat als eine liebevolle, heilende, heilige Strenge – doch immer und immer auch dann nur in der morgenhaft dämmernden Hoffnung, es müsse die grausame Zucht dereinst ein Ende nehmen, und seine Mutter ihm die vergebenden Arme öffnen – Gnädige Frau, Sie weinen – es ist die Stimme Ihres Sohnes, der Sie nicht widerstehen können! So klingen seine Worte mir wie Glockenton in der Seele nach und klingen zu Ihnen hinüber – Verzeihen Sie ihm! Es hilft Ihnen ja doch nichts, Sie können ja doch nicht anders, denn Sie sind seine Mutter! –«

Frau Doris warf sich dem bittenden Mädchen mit einer leidenschaftlichen Bewegung um den Hals und weinte lange.

Als sie wieder zu reden vermochte, sagte sie noch leise nachschluchzend:

»Also Sie konnten im Ernste wähnen, eine Mutter vermöge ihrem einzigen Liebling so viele Jahre lang unversöhnt zu zürnen? O Kind, und wenn er versucht hätte, mich meuchlerisch zu morden, ich hätte ja doch nicht enden können ihn zu lieben, ihm zu verzeihen. Ach, es ist etwas Schreckliches um so ein armseliges Mutterherz! Ja, glauben Sie getrost, wie schwer er auch gekämpft und gelitten haben mag in seiner Verbannung: es ist doch nichts gegen das, was ich erduldete. Fünf Jahre lang sein einziges Kind unter die Füße zu treten und ihm nicht mit einem leisen Wink verraten zu dürfen, wie tausendmal man ihm verziehen hat – es gibt für diese Qualen keine Worte. Auch hätte ich es nimmermehr ertragen, hundertmal hätte ich meines Sohnes Heil meiner schwachmütigen Sehnsucht zum Opfer gebracht, wenn nicht ein stärkerer, ein unerbittlicher Mann mir zur Seite gestanden hätte – – O Gott«, unterbrach sie sich plötzlich, stark erschreckend, »aber sagen Sie, bitte, liebes Fräulein, Sie haben doch dem Rittmeister nichts von diesen Dingen erzählt?«

187 Hildegard schüttelte den Kopf. »O nein«, sagte sie, »wie hätte ich solche Geständnisse einem anderen Menschen machen können als auf der ganzen Welt nur Ihnen allein?«

»Oh, dann ist's gut«, rief Frau Doris lebhaft, »dann wird sich alles so herrlich weiter fügen, so wunderbar, wie es begonnen hat! Oh, wissen Sie denn auch, trautstes Kind, daß Sie mir gerade an diesem Tage, zu dieser Stunde gekommen sind wie vom Himmel selber gesandt als ein einziges, unerhörtes Glück? Daß ich im heißesten Gebet mir nichts Köstlicheres vom Himmel hätte erflehen können? Daß ich Sie, gerade Sie, mir heute herbeisehnte mit allen Kräften meines zagenden Gemütes, da doch nicht die allerleiseste Aussicht war, daß so verwegenem Wunsche eine Erfüllung werden könnte? Und nun sind Sie doch als ein geliebtes Wunder aller Wunder mir ins Haus gekommen! – Doch davon muß ich jetzt noch schweigen, geliebtes Kind, Sie erfahren es ein andermal – es sind so sonderbare Dinge, die hier vorgehen. Sie dürfen mich nicht weiter fragen. Es wird alles gut werden. Und jetzt nur eines noch: verraten Sie dem Alten nicht ein Wort von dem, was Sie mir entdeckt, was ich Ihnen gestanden habe – er würde alles verderben; oh, Sie kennen ihn nicht, was für ein schrecklicher, rätselhafter, vergrübelter, halsstarriger Mensch das ist! Und ja – ich glaube, es wäre gut, wenn Sie mich jetzt verließen, sich ihm wieder zeigten; er könnte Verdacht schöpfen; verzeihen Sie mir dies geheimnisvolle Wesen! Es geht nicht anders. In wenigen Tagen sollen Sie alles wissen. Gehen Sie, Liebe! Überlassen Sie mich meinem stillen Glücke! Und vor allem: schweigen Sie, bis – bis Sie die Braut – nein, bis Sie das geliebte Weib meines Sohnes geworden sind!«

Hildegard erhob sich und fiel noch einmal der Mutter an die Brust.

»Wie kann es ein Mensch ertragen, so glücklich zu sein!« sagte sie leise.

Frau Doris küßte ihre Stirn und flüsterte: »Wie glücklich ich bin, das ahnen Sie noch gar nicht. Er wird zu selig, zu unsagbar selig, der wunderbare Augenblick, wenn der Gebeugte unerwartet aus meinen Händen die geliebte Braut 188 empfängt . . . oh, der eine Augenblick wiegt alle Jahre der Schmerzen auf!«

Hildegard machte sich los und ging schnell hinaus; draußen saß sie noch eine Weile einsam auf der Bank unter dem Weinlaub, in selige Hoffnung versunken. 189

 


 


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