Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Plaudereien eines Stadtphysikus mit Fräulein Hildegard und Frau Doris.
Fräulein Hildegard fand nicht lange Zeit, in dem Wirrsal ihrer Gedanken aufzuräumen. Eben stieg sie die Treppe hinab, um in der freieren Luft des hübschen Hofraumes leichter zu atmen, als ihr der Besuch des Herrn Stadtphysikus Dr. Gugelmann gemeldet wird.
»Sehr willkommen«, sagte sie und begab sich zu seinem Empfange in das Zelt in der Hofecke.
Ein kleiner, auffallend häßlicher Mann von völlig gebückter Haltung und kränklichem Aussehen kam langsam über den Hof auf sie zugehumpelt, begrüßte sie mit respektvoller Vertraulichkeit und fragte nach ihrem Befinden.
»Doch ich sehe schon«, unterbrach er sich selbst, indem er sich vorsichtig auf einen Stuhl niederließ, »wem solche Frische auf den Wangen und in den Augen wohnt, der bedarf weder ärztlichen Rates noch geistlichen Zuspruchs; wenn nicht doch die verwundete Hand –«
»Oh, die bedarf auch keiner Fürsorge mehr«, sagte sie, die Binde abwickelnd, »ich halte sie nur noch aus Eitelkeit umhüllt, um die häßlichen Schrammen nicht zu zeigen.«
Er betrachtete und befühlte die Hand und nickte befriedigt.
»Ich wäre hier der überflüssigste Mensch von der Welt«, erklärte er, »ein Fall, der mir nicht eben selten im Leben vorkommt, wenn ich nicht noch eine Bitte auszusprechen hätte.«
»Was könnten Sie von einer landfremden Person hier erbitten wollen, mein Herr?« fragte Hildegard lächelnd.
»Eine Gunst, die mir gerade eine solche Person am schicklichsten gewähren mag, und die mir von ihr am wertvollsten ist: die Freude, Sie heute an meiner Mittagstafel sehen zu dürfen, schöne Demoiselle – selbstverständlich in der lehrreichen Gesellschaft des Herrn Bruders. Zwar bin ich, wie 114 Sie mir aufs Wort glauben werden, so unverheiratet wie möglich, doch hoffe ich, daß mein Tisch diesen kleinen Mangel nicht wird merken lassen; wenigstens stehe ich hierorts bei den Spießbürgern und gewissen philosophierenden Prahlhänsen um meiner Küche willen in dem angenehmen Rufe eines ausbündigen Schlemmers und Leckermauls. Wenn ich mich also der Hoffnung hingeben darf –«
Das Fräulein war überrascht und fast ein wenig verlegen.
»Wenn ich nur wüßte, mein Herr«, bemerkte sie zögernd, »womit wir eine so große Freundlichkeit irgend verdient haben, da Sie doch im Gegenteil mit mir nicht eben die besten Erfahrungen gemacht haben – Ihr gestriger böser Sturz war Schuld meiner Voreiligkeit – und da mein Bruder Ihnen überhaupt noch ein Unbekannter ist –.«
»Nicht so ganz, allerschönste Demoiselle«, unterbrach er sie mit einer ungeschickt zierlichen Verbeugung, »erstens erzählten Sie mir von ihm, und das würde allein schon genügen, mich zu seinem Freunde zu machen, und zweitens hatte ich vor einem Stündchen Gelegenheit, ihn auf der Straße zu beobachten, und ich kann sagen, er gefiel mir ausnehmend – schon deshalb, weil ich das bestimmte Gefühl habe, daß er meinem biedern Freunde Jageteufel, den ich in menschenfreundlichen Stunden den blechernen Rittmeister nenne, nicht gefallen wird.«
»Aber ich bitte Sie, Herr Doktor«, rief Hildegard aus, »mir nannte man diesen Herrn den eisernen Rittmeister, und ich gestehe, nach der persönlichen Bekanntschaft, die ich machte, erscheint mir der Name nicht unangemessen.«
»Sie sind die einzige nicht, Mademoiselle«, versetzte der Physikus gelassen, »der er Blech für Eisen verkauft. Im Gegenteil, ich bilde mir ein, im Umkreise verschiedener Geviertmeilen der einzige zu sein, der ihn ganz ohne Rückhalt als das erkennt und benennt, was er ist, nämlich als einen Lärmtrompeter, Pharisäer und ledernen Weisheitsfresser – sagen wir kurz, als das wahre Musterbild eines guten Preußen, wie es im Buche steht.«
»So wären Sie selbst also kein Preuße, mein Herr?« fiel Hildegard überrascht und lebhaft ein.
115 »Zum guten Glücke, nein – vielleicht die einzige Mißgunst, mit der mich der Himmel verschont hat. Mein Vater war kurfürstlich-sächsischer Untertan, doch höre ich mich lieber als Polen bezeichnen, weil meine Mutter von reinem polnischen Blute war und mich in ihrem Vaterlande geboren und erzogen hat; zudem hatte meine beträchtliche Liebesleidenschaft eine Polin zum Gegenstande – ich fürchte, Sie lächeln ein wenig, meine schöne Demoiselle.«
»Aber ich bitte, wie sollte ich –« stotterte sie nicht ohne Befangenheit.
»Sie brauchen nicht in Verlegenheit zu geraten, Mademoiselle«, sagte er mit einem sonderbaren Grinsen; »daß meine körperliche Erscheinung mir keine sehr glänzenden Aussichten auf glückliche Lieben eröffnet, kann Ihrem Scharfsinn unmöglich entgangen sein. Denn Sie werden mir hoffentlich die Geschmacklosigkeit nicht zutrauen, ich könnte dieses armselige Gebein und dieses Igelgesicht für Schönheiten halten. Im Gegenteil, ich habe meinen Schönheitssinn von jeher fleißig ausgebildet und recht hübsche Erfolge erzielt, und dadurch wurde ich ganz von selbst genötigt, meine Eitelkeit an andere Punkte zu verlegen. Beispielsweise höre ich gern meine gute Küche rühmen. Ebenso glaube ich mit einer leidlich feinen Nase begabt zu sein, die mich befähigt, zuweilen Dinge zu wittern, die anderen verborgen bleiben, weil sie eben nur so in der Luft liegen, wie man zu sagen pflegt. Auf diesen zarten Spür- und Ahnungssinn bin ich wirklich ein wenig eitel, was soll ich es leugnen? Und doch bereitet gerade er mir nicht selten Unruhen und Verlegenheit. So auch heute, so in diesem Augenblicke –«
Er schwieg ein Weilchen und blickte dem jungen Mädchen mit einem lauernden Lächeln ins Gesicht.
»Als ich mich hierher zu Ihnen begab«, fuhr er fort, »ward ich von einem wunderlich bestimmten Gefühl begleitet, es müsse Ihnen von Wert sein, zu erfahren, zu welcher Person ich von hier aus meine Schritte zu lenken beabsichtige. Warum das? vermöchte ich in keiner Weise zu sagen; es ist einzig jenes merkwürdige Ahnungsvermögen, das sich in mir regt. Ich 116 sehe aber durchaus keinen Grund, Ihnen das Ziel meines Ganges zu verschweigen. Ich erhielt heute in aller Frühe ein Briefchen von einer Dame, die mich zu einem ärztlichen Besuche einladet mit dem besonderen Bemerken, es liege ihr diesmal ausnahmsweise daran, mich ohne Zeugen zu sprechen. Die von mir sehr hochgeschätzte Dame nennt sich Frau Doris Seybold, eine verwitwete Geheimrätin – eine Dame, die Ihnen offenbar sehr unbekannt ist, wie ich daraus schließen darf, daß Sie sich gestern nur so ganz nebenher und in gleichgültigstem Tone von der Welt ein wenig nach ihren Verhältnissen und Eigenschaften erkundigten –«
»Mein Herr – ich begreife nicht –« rief Hildegard aufgestört und heftig errötend aus.
»Ich fürchte, Sie begreifen nur zuviel, meine gnädigste Demoiselle«, versetzte er gemütsruhig mit leichtem Spott, »wie Ihr Zorn mich merken läßt. Sie dürfen aber wirklich nicht glauben, daß ich die Absicht hätte, mich heimtückisch in Ihr Vertrauen einzuschleichen. Ich bin ganz und gar nicht gewöhnt, daß mir irgendeine Menschenseele vertraut, und fühle mich äußerst wohl dabei; man vermeidet auf diese Weise mannigfache Scherereien. Was andere Leute nicht minder als Sie bedenklich macht, ist immer wieder meine merkwürdige Physiognomie. Sie hat unleugbar etwas Verdächtiges, etwas Lauerndes, unangenehm Pfiffiges, kurz, etwas leicht Spitzbübisches: oh, ich versichere Sie, ich bin ein sehr häufiger Gast bei meinem Spiegel. Nun könnte ich allerdings sagen, Sie hätten einigen Grund, diesen so natürlichen Argwohn trotzdem zu unterdrücken; denn es gibt meines Erachtens keine solidere Grundlage für gegenseitiges Vertrauen, als eine gemeinsame Feindschaft – wir aber, Sie und ich, haben einen gemeinsamen Feind –«
»Daß ich doch nicht wüßte!« rief Hildegard verwundert.
»Ohne allen Zweifel – den blechernen Rittmeister«, erklärte er kurz.
»Oh, ich bitte sehr«, erwiderte sie fast unwillig, »ich habe nicht den geringsten Grund, den Herrn von Jageteufel als meinen Feind zu betrachten, da er mir recht im Gegenteil mit 117 einer ebenso unerwarteten, als unverdienten Freundlichkeit entgegengetreten ist –«
»Natürlich, und die Freundlichkeit eines solchen Mannes erweckt Vertrauen«, sagte der Physikus nicht ohne Bitterkeit, »nur daß Sie zum Glück zu kluge Augen haben, um sich auf die Dauer bestechen zu lassen. Dieser Mensch, sage ich, müßte Ihnen ja feind sein schon um Ihrer Anmut und Lichtheit willen, die in seiner Philosophie und seinem stockpreußischen Hirn keinen Platz finden – und wenn diesmal meine besondere Ahnung nicht täuscht, werden Sie auch aus ganz eigenen Gründen nicht lange mit ihm in Frieden leben. – Doch wie bemerkt, ich denke nicht daran, um Ihr Zutrauen zu werben – ich wollte Sie im Gegenteil eigentlich nur vor meinem wirklich gefährlichen Spioniertalent gewarnt haben; sehen Sie, Mademoiselle, Sie sind ein ganz feines und listenreines Köpfchen, wie ich nach wenigen Worten merkte; aber um sich vor meinen nichtsnutzigen Diebesblicken genügend zu verhüllen, dazu sind Sie denn doch eine viel zu helle und heitere Natur; wer so leicht errötet wie Sie, wer so munter sprechende Augen besitzt, tut immer besser, sich mit mir nicht lange einzulassen. – Doch da schwatze ich eitler Bursche immerfort von mir und meinen hohen Eigenschaften, und wollte doch nur dies eine so nebenher und gleichgültig bemerken, daß die besagte Dame Seybold, die ein äußerst zurückgezogenes Leben führt und für Fremde sehr schwer zugänglich ist, zufällig gerade heute das Bedürfnis fühlt, mit mir allein, das heißt ohne ihren Tyrannen, den Jageteufel, ihr Herz zu erleichtern: denn ich schwöre darauf, um ein körperliches Leiden handelt es sich nicht. Da wäre es denn nun vielleicht auch ganz möglich, daß die menschenscheue Dame sich heute bereitfinden ließe, sogar noch andere Besuche heimlich zu empfangen, oder, wenn nicht Besuche, so doch etwa eine Botschaft, einen Wink oder was weiß ich? Das kann ja Sie nun eigentlich nicht interessieren, da Ihr einziger Reisezweck die Begleitung, Beaufsichtigung und Beschützung Ihres rednerischen Herrn Bruders ist; aber gestehen Sie: dieses Ihr liebreiches Geschäft ist auf die Dauer etwas langweilig, und es könnte Ihnen doch möglicherweise Freude 118 machen, eine fremde Frau kennenzulernen, die, wie Sie mir glauben dürfen, ihre merkwürdigen, ihre sehr merkwürdigen Seiten hat, und ich möchte Ihnen so gern eine kleine Freude machen in Ihrer Einsamkeit! Nur von einem Gesprächsthema möchte ich Sie dabei warnen: jene Dame hat einen Sohn – auch einen sehr merkwürdigen Sohn – sagten Sie etwas, meine gnädigste Demoiselle? Ach nein, Sie sehen mich nur so sonderbar an – ich bitte, Sie setzen mich ernstlich in Verlegenheit –, sollte ich unwissentlich eine Saite berührt haben –? – Gehen wir also zu etwas anderem über. Vielleicht darf ich alter Mann ohne Ihren Vorwurf sagen, daß dies zarte Rot, das soeben Ihr Antlitz wieder überfließt, Ihnen ganz reizend steht – – doch ich sehe, Sie sind mir auch deswegen böse, Sie vertragen keine Schmeicheleien; ich schätze Sie nur um so höher – ich bitte Sie von Herzen um Verzeihung für all mein leeres Geschwätz – –«
Hildegard kämpfte sichtlich mit sich selber; ihre Blicke hingen halb unwillig, halb ängstlich an den wunderlichen Zügen des kleinen Mannes, die in lebhaftem Wechsel bald ein ironisches Lächeln, bald ein still lauerndes Forschen verrieten. Endlich erhob sie sich, kräftig mit dem Fuße aufstampfend.
»Wenn ich nur wüßte, mein Herr«, rief sie mit erregter Stimme, »was Sie veranlaßt und berechtigt, sich so ungebeten in meine kleinen Angelegenheiten einzumischen –«
»In Ihre Angelegenheiten, schöne Demoiselle?« unterbrach er sie ruhig, »aber wie sollte ich denn! Nichts in der Welt liegt mir ferner. Daß ich freilich für die Angelegenheiten der Frau Geheimrätin Seybold eine gewisse Teilnahme hege, soll nicht geleugnet werden – aber doch auch das nur von einem höheren Gesichtspunkte aus. Und warum sollte ich Ihnen den verbergen? Sehen Sie, es handelt sich um nichts Geringeres als meinem Liebling, dem tugendhaften Rittmeister, einen Possen zu spielen, einen recht derben, recht kitzelnden Schabernack, wie er ihn verdient – das ist alles. Und zu diesem hohen Zwecke suchte ich gewisse Fäden in meine Hand zu bekommen, an denen ich zupfen kann; und wenn die Frau Geheimrätin jetzt ebenso liebenswürdig ist, wie Sie es waren, und 119 Sie dann Ihr freundliches Versprechen erfüllen, an meinem bescheidenen Mittagessen teilzunehmen, so ist es möglich, daß ich Ihnen einige unterhaltende Mitteilungen machen kann – ohne daß Sie im geringsten nötig haben, meiner zweifelhaften Vertrauenswürdigkeit noch etwas weiteres aufzudecken. Sollte für Sie selbst, meine liebenswürdige Demoiselle, zufällig bei meinem Wirken etwas Angenehmes mit herausspringen, so bitte ich es mir nicht anzurechnen, sondern sich überzeugt zu halten, daß Ihr heutiges Erröten und Ihr künftiges helles Lachen über diesen blechernen Traraphilosophen und etwa noch Ihre nachsichtige Anerkennung meiner Küche mir ein überschwenglicher Lohn für meine Bemühungen sein wird. Leben Sie einstweilen wohl; ich schmeichle mir mit der Hoffnung: auf baldiges Wiedersehen. Ich werde nicht verfehlen, zur rechten Stunde wieder vorzusprechen.«
Nach diesen Worten wandte er sich zum Gehen unter vielen Verbeugungen, die seine kümmerlichen Gliedmaßen zum Erbarmen verrenkten. Da trat ihm Hildegard noch einmal entschlossen entgegen, reichte ihm die Hand und sagte mit unsicherer Stimme:
»Herr Physikus, was Sie mit mir oder mit anderen vorhaben, begreife ich nicht, doch habe ich das Vertrauen, daß es nichts Böses ist; zudem kann ich mich nicht mehr wehren gegen das Gefühl, daß Sie mich längst in Ihrer Gewalt haben, daß ich Ihrer Klugheit umsonst widerstrebe: also gut, ja, mir liegt sehr viel an einer Unterredung mit dieser Dame, verschaffen Sie mir eine solche, und Sie sollen mich wahrhaft von ganzem Herzen dankbar finden. Und wenn Sie mir gar vorher noch zu Hilfe kommen wollten mit Ihrer Erfahrung und Bekanntschaft: ich wüßte gern noch etwas Näheres von der Gemütsart und Gesinnung der Frau Seybold, ihren Gewohnheiten und Neigungen; man kann so leicht durch eine unvorhergesehene Kleinigkeit Anstoß oder auch Argwohn erregen; vielleicht daß Ihre Menschenkenntnis mir durch einige Winke nützlich sein könnte –«
»Das kann sie, vortreffliche Demoiselle«, fiel er ein, »sehr leicht, mit einem einzigen Worte: Sie bedürfen gar keiner 120 Vorbereitung, gar keiner Kenntnis, dafür verbürge ich mich. Lassen Sie mich nur den rittmeisterlichen Türhüter sicher aus dem Wege schaffen, und alles ist in Ordnung. Ich sehe, wir verstehen uns, und ich hoffe, Sie bald von Herzen lachen zu sehen. Ich gehe, meine Pflicht zu tun.«
Damit verließ er die immer noch Erstaunte und Verwirrte und hinkte eilfertig von dannen.
Er nahm nun seinen Weg von dem Gasthause quer über die Straße hinweg, tauchte jenseits wieder in den Schatten der Lauben und betrat die jetzt noch menschenleere Weinstube. Den einzigen stummen Gast in der Nische bemerkte er nicht und durchmaß keuchend den Raum, um durch die Hintertüre wieder zu verschwinden. Hier gelangte er über einen kleinen, hochummauerten Hof in den dunklen Flur des Hinterhauses und stieg eine enge Treppe hinan. Von dem ersten Treppenabsatz aus führte ein Türchen wieder ins Freie, und zwar auf eine kleine Hängebrücke, die frei über einer schmalen Gasse schwebte und jenseits derselben von einer sehr hohen und sehr starken Mauer aufgenommen ward, deren verwittertes Aussehen auf ein Alter von Jahrhunderten schließen ließ. Der in halber Höhe hineingebrochene schmale Durchgang, in den die Brücke mündete, war durch eine dicke Holztür verschlossen.
Der Physikus zog kräftig die Glocke mit einem dreimaligen besonderen Anschlag; unter einem greulichen Kreischen, Klirren, Klingeln und Schrillen tat die Tür sich auf, und Herr Anton Reff empfing den Eintretenden mit einer demütigen Verbeugung.
»Der Herr Physikus«, sagte er, »bitte ganz ergebenst – werden erwartet.«
»Der Alte also nicht im Bau?« fragte der Arzt, »bleibt noch lange fort?«
»Noch siebenunddreißig Minuten«, sagte der Küster bestimmt.
»Gut«, nickte der Physikus, indem er die Uhr zog und die Zeit genau sich merkte. Er stieg nun eine schmale, an die dicke Mauer gefügte Steintreppe hinab in einen wohlgepflegten baumreichen Garten, der sich in Terrassen zum Flusse senkte 121 und dem Ufer desselben in bedeutender Ausdehnung folgte. Am rechten Ende desselben fielen hart am Wasser zwei stattliche runde Turmbauten ins Auge, miteinander verbunden durch einen breiten, schön schwebenden Mauerbogen, den üppiger Efeu umwucherte. Der eine der Türme war sehr verfallen und nach der Landseite zu völlig eingestürzt, ein malerisches Trümmerwerk bildend, der andere dagegen trefflich erhalten und, wie an durchgebrochenen Fenstern und weißen Gardinen schon von außen sichtbar ward, in seinem Innern zu einem Wohnhause ausgebaut.
Der Physikus warf jedoch nur einen flüchtigen und ziemlich feindseligen Blick nach diesem Bauwerk und schritt in entgegengesetzter Richtung durch die Länge des Gartens auf ein zierliches Häuschen zu, dessen helles Weiß freundlich aus dichtem Grün hervorschimmerte. Durch eine kleine, säulengetragene Vorhalle trat er ein und ward von einem Mädchen, das offenbar schon seiner harrte, sogleich in das Zimmer der Hausherrin geführt.
Diese eilte mit lebhafter Bewegung dem Grüßenden entgegen.
»Oh, Herr Physikus«, rief sie, »wie danke ich Ihnen für Ihre Pünktlichkeit! Wenn Sie wüßten, wie ich mich nach Ihnen sehnte!«
»Ei«, sagte er mit einem kurzen Lachen, »das ist aber eine pikante Neuigkeit, daß ein Mensch, der nicht schwerkrank ist, nach mir sich sehnt! Und nun gar ein Weib! Und nun gar Sie! Wollen Sie mich auf meine alten Tage noch eitel machen? Denn daß Sie in der Tat nicht krank sind, zeigt mir ein Blick in Ihre muntern Augen, aus denen mir allerdings ein ganzer Mückenschwarm von mühsam eingesperrten Geheimnissen entgegenzuschwirren scheint.«
»Ach, bitte, lieber Herr Physikus, spotten Sie heute nicht über mich armes, schwaches Frauenzimmer! Sie ahnen nicht, wie ernst und angstvoll mir zumute ist! Bitte, bitte, setzen Sie sich nur gleich und hören Sie mir zu. Sie sehen, Ihr Gläschen Ungarwein steht schon bereit!«
122 Er gehorchte, nippte behaglich schlürfend an dem Glase und sagte:
»Das muß allerdings eine angstvolle und besondere Sache sein, wenn jemand aus freien Stücken mich ins Vertrauen zieht.«
»Ach Gott, ja, wenn ich nur irgendeinen anderen Helfer wüßte«, versetzte sie treuherzig, »aber die anderen alle sind auch nicht viel klüger als ich und würden schwerlich besseren Rat wissen als ich selbst; aber zu Ihnen habe ich diesmal Vertrauen, gerade weil – weil ich mich so sehr vor Ihrer Klugheit fürchte. Sie sehen den Menschen immer so schauerlich tief ins Herz!«
»Kann Ihnen das jemals unangenehm sein, meine Gnädige? Unmöglich!« versetzte er grinsend. »Aber eins erklären Sie mir vor allem: warum wenden Sie sich nicht an Ihren Rittmeister, der der weiseste der Weisen und obendrein Ihr allergetreuester Sklave ist?«
»Mein allergrausamster Tyrann, wollen Sie sagen. Aber sehen Sie, gerade der darf, um Gottes willen, nichts von dieser Geschichte erfahren! Darauf kommt es eben diesmal an. Gerade gegen ihn brauche ich Ihre Hilfe! Ich tue es ja gewiß nicht gern, daß ich mich so hinter seinem Rücken gegen ihn verschwöre; aber was soll ich tun? Warum ist er auch so? Ich habe mir gewiß genug von ihm gefallen lassen, aber es hat alles seine Grenze, und nun kann ich wirklich nicht mehr. Für meine Person wollte ich ja gern noch länger schweigen und dulden, aber mit meinem Sohne kann ich so nicht spielen lassen. Aber, nicht wahr, ich kann auf Ihre Verschwiegenheit zählen?«
»Meine Gnädige, wenn Sie das nicht ganz genau wüßten, hätten Sie mich niemals zum Schutz gegen Ihren Schützer aufgerufen.«
»Und Sie sind auch der Meinung, daß ich ein bißchen recht habe, mich heimlich gegen ihn aufzulehnen?«
»Ich wundere mich nur über zwei Dinge, erstens: warum Sie jemals einen Tag lang diese anmaßliche Vormundschaft erduldet haben; und zweitens: warum Sie auch jetzt nur 123 heimlich und nicht mit lachender Offenheit sich davon befreien wollen. Es müßte denn sein, daß Sie den alten Esel vergiften wollten – dazu ist eine gewisse Heimlichkeit allerdings sehr ratsam; auch soll es an meinem Beistande nicht fehlen, obgleich ich ihm einen sanften Tod aus so schönen Händen wahrlich nicht gönne – ich sähe ihn lieber sich an Lebensüberdruß und Ekel langsam zu Tode zappeln – –«
»Herr Physikus«, rief Frau Doris ganz entsetzt, »pfui, wie abscheuliche Reden! Und überhaupt, diesen grimmigen, unauslöschlichen Haß gegen unseren Freund, ich begreife ihn nicht, habe ihn nie begriffen. Und jetzt, ich hoffte, Ihr Groll wäre endlich gemildert, verschwunden; wie hätte ich sonst mich entschlossen, Sie gegen ihn ins Vertrauen zu ziehen?«
»Ei, sollten Sie nicht vielmehr in diesem Hasse heimlich Ihren besten Bundesgenossen geahnt haben?« versetzte er mit einem boshaften Lächeln, »ich meine, in jenen schattigen Gemütstiefen, in die man selbst nicht gerne hineinblickt, am wenigsten gemütvolle Damen. Doch nichts für ungut; jedenfalls glaube ich weit besseren Grund zum Hasse als Sie zum Wohlwollen gegen ihn zu haben. Ich erinnere mich nicht, von Ihnen je einen vernünftigen Grund für Ihre Anhänglichkeit und lammfromme Fügsamkeit gehört zu haben. Reden Sie mir nicht von seinen angeblichen Guttaten: das Zehnfache davon würde zehnfach aufgewogen durch die brutale Tyrannei seiner Narrheit. Gestehen Sie getrost, es ist einzig Ihr gutes, deutsch geredet, Ihr schwaches Herz, das Sie an diesen grobgehauenen Holzklotz fesselte.«
»Ihr böser Haß verblendet Sie ganz und gar«, sagte Frau Doris langsam und nachdenklich. »Hören Sie zu, ich will Ihnen einmal erzählen, wodurch ich zuerst so sehr in seine Schuld gekommen bin. Gern spreche ich nicht davon; doch es liegt mir viel daran, Sie freundlicher gegen ihn zu stimmen. Sehen Sie, es gibt ein Ding in ferner Vergangenheit, das mein armes Herz doch nie vergessen kann: er, August von Jageteufel, hat mich einst von Herzen geliebt, wir waren feierlich miteinander versprochen, und ich war's, die ihm die Treue brach. O mein Gott, ich konnte nicht anders, ich mußte 124 es tun, um des anderen willen, den ich mit zehnmal heißerer Liebe liebte; denn am Ende, was hilft eine Treue, von der das Herz nichts weiß? Ja, ich verließ ihn und ließ mir mein Wort zurückgeben. Aber eines vermochte ich nicht: den Verratenen aufs Blut zu kränken durch das Geständnis, daß ihm nie mein ganzes Herz gehört hatte. Ich schrieb ihm nur von einem Befehl meiner Eltern, einem Zwang der Verhältnisse – und ließ ihm zum Trost den Glauben an meine Liebe. Ich bin gewiß, ich hätte ihm sonst das Herz gebrochen. Er hat auch schon so traurig genug gelitten. Denken Sie doch, er hat zuletzt in seiner Verzweiflung, und um sich zu betäuben, so ein wildes polnisches Geschöpf geheiratet, das ihn natürlich kreuzunglücklich gemacht hat; denn wie konnte es anders werden ohne rechte Liebe? Und, o Gott im Himmel, wie glücklich bin ich dagegen gewesen! – Sehen Sie, Herr Physikus, das habe ich ihm angetan, habe ihn recht eigentlich um sein Lebensglück betrogen, und da werden Sie doch begreifen müssen, daß ich seitdem nach Kräften alles ihm zum Gefallen tue, um nur ein wenig meine große Schuld wieder gutzumachen. Das eine freilich, nein, das kann er nicht verlangen, und das werde ich niemals tun oder dulden: ihm das Lebensglück meines Sohnes zum Opfer zu bringen.«
»Aha!« rief der Physikus, »ich beginne ernsthaft zu ahnen.«
»Sie wissen«, fuhr sie eifrig fort, »daß wir meinen Ulrich vor fünf Jahren in die Fremde schickten – so gewissermaßen – zu seiner sittlichen Läuterung.«
»Zu einer Pferdekur«, warf jener trocken hin, »kann sein, sie hilft, kann auch sein, sie macht den Jungen blödsinnig.«
»Oh, bitte, nicht so ein häßliches Wort!« bat sie sanft, »und was Sie auch sagen mögen, sie hat geholfen. Mein Sohn ist ein Mann geworden und hat seine Unarten abgestreift. Zwar wenn ein Mensch wüßte, wie grausam ich gelitten habe fünf endlose Jahre hindurch! Doch das ist vorbei – könnte nun vorbei sein, wenn – – bitte, hören Sie recht aufmerksam zu, ich komme jetzt zu dem, was ich Ihnen anvertrauen wollte und worin Sie mir helfen sollen. Also der Rittmeister hat endlich eingesehen, es sei kein rechter Grund mehr, den 125 Ulrich von der Heimat fernzuhalten. Nur – und das ist das Schreckliche –, nur einmal will er ihn noch auf eine letzte Probe stellen, ob er auch wirklich so recht gründlich bis ins Mark hinein von dem Geiste des kategorischen Imperativs durchdrungen ist, wie er sich ausdrückt – nun, Sie wissen ja.«
»Alle Achtung«, grinste der Physikus, »ich verstehe, und da eine Feuer-, Wasser- oder Eisenprobe nicht mehr so recht zeitgemäß ist, so schlug das Ungeheuer eine schlimmere, eine Heiratsprobe vor.«
»Ach ja«, seufzte Frau Doris, »genau das ist es, was er verlangte. Der Ulrich sollte sich bereit erklären, ein Mädchen zu heiraten, das wir ihm aussuchen, ohne daß er vorher erfährt, wer es ist. Das klingt nun eigentlich noch gar nicht so schlimm, denn die meisten Eltern wählen schließlich die Frauen oder Männer für ihre Kinder; aber man zeigt ihnen doch wenigstens vorher ihre Zukünftigen und fragt ein bißchen an ihnen herum, ob sie wollen oder ob sie sich durchaus nicht entschließen können, und will sich's nicht fügen, so läßt man's laufen. Aber hier nun so kurz weg: du sollst und du sollst! Und dann so häßlich, dies gerade als eine Probe vorzuschreiben! Und wenn man nun aus Erfahrung weiß, wie unsagbar glücklich man sein kann, wenn man aus eitel Liebe heiratet! Und nur dann! Nur dann! Glauben Sie mir: nur dann! Kein Mensch sollte heiraten ohne ganze, heiße, herzliche Liebe. – Nicht wahr, und nun begreifen Sie gar nicht, daß ich unnatürliche Mutter doch in diese Probe gewilligt habe, ja sogar die Ausführung des sauberen Planes in der Stille ganz eifrig betrieben habe?«
»Sie werden wohl Ihre klugen Gründe gehabt haben, meine gnädige Geheimrätin«, meinte der Physikus trocken.
»Ja, die hatte ich!« bestätigte sie lebhaft, »wahrhaftig, die hatte ich! So schöne, kluge, feine, wohlüberlegte Gründe – und habe mich zuletzt doch nur in meiner eigenen Schlinge gefangen! Das ist das Abscheuliche, und das zwingt mich, Sie um Ihren Rat und Ihren Beistand anzuflehen. Hören Sie nur: Also ich hatte die schönste Hoffnung, durch eine leise 126 List alles zu reinem Glücke hinauszuführen. Mein Sohn hatte einst eine schöne, zarte Jugendliebe zu unserer Lisbeth, des Rittmeisters Nichte, deren Eltern damals noch lebten. Es war eine heimliche und tiefverschlossene Schwärmerei: aber ich merkte es dennoch und hatte anfangs meine Freude an der anmutigen Schamhaftigkeit der halb kindlichen Leidenschaft; und auch die Lisbeth hatte ich gar gern und begriff nur nicht, wie sie seiner stummen Glut so kühl und fremd begegnen konnte! Du lieber Gott, sie war ja noch ein vollkommenes Kind, nur eben vierzehn Jahre alt! – Nachher aber ward das doch anders mit ihr, je länger diese sonderbare Liebe in ihm glomm; ich begann der guten Lisbeth gram zu werden, nicht weil sie ihm fernblieb, nein, im Gegenteil, nur weil er sie liebte; sie war das erste, einzige Geschöpf, das sein Herz mit mir teilte, vielleicht die größere Hälfte für sich gewann, und das vermochte ich nicht lange duldsam zu ertragen; ganz für mich allein haben wollte ich meinen Sohn! Und da versündigte ich mich an ihm in meiner kindischen Eifersucht: ich trat seiner schwärmerischen Zartheit mit stillem Spott entgegen, ich weckte und reizte heimlich seinen Trotz, bis sein Zorn aufsprudelte und auch mich hinriß zu offenem Scheltwort – über seine anderen Sünden, denn meiner Eifersucht schämte ich mich in mir selber; dann versöhnte ich ihn mit neuer Zärtlichkeit; dann entfremdete ich ihn mir abermals, und so ging es fort, bis das andere Unglück kam.
Nun, sehen Sie, lieber Herr Physikus, an diese Geschichten dachte ich jetzt bei des Rittmeisters grausamem Verlangen – denn es ist selbstverständlich, daß dieser nie etwas von so feinen Dingen gemerkt hat. Ich sprach zu mir selber: Jetzt kannst du gutmachen, was du damals gesündigt hast! Denn ich meinte nicht anders, als mein Ulrich müsse mit unbewegter Treue festhalten, was er einmal in sein Herz geschlossen; ich glaubte an die fünfjährige Beständigkeit einer Kinderliebe. Das war der Fehler in meiner schönen Rechnung.«
»Da war Ihr Herr Junge freilich klüger als Sie, meine Verehrteste, wenn er sich ein wenig anders einrichtete und als Mann nicht festhielt an der Simpelei des rührseligen 127 Jünglings. Ganz blödsinnig scheint er also doch selbst in des Rittmeisters Zwangsjacke nicht geworden zu sein. Es wäre ein schlechtes Zeichen für sein inneres Wachstum, wenn sein Geschmack mit fünfundzwanzig Jahren kein besserer wäre als mit zwanzig Jahren – womit ich übrigens gar nichts gegen die kleine Lisbeth gesagt haben will, für die ich mit Vergnügen hundert ihrer Oheime zur Abschlachtung unter Napoleon nach Rußland schicken würde.«
»Sie mögen wohl recht haben, es war sehr frauenzimmerlich geurteilt. Doch es bestärkte mich manches in meinem Irrtum; er erkundigte sich oft in seinen Briefen so warm und wehmütig nach Lisbeths Ergehen, und dazu kam in jüngster Zeit ein weicher Ton von Qual und Sehnsucht und Entsagung, den ich mir nur aus stummer Liebe deuten konnte. Und dann die Lisbeth selbst, die gute Lisbeth! Sehen Sie, die liebte meinen Sohn nun doch ganz freudig, mit Offenheit – natürlich allein mir gegenüber und auch da nur mit halbem Geständnis – gerade erst nach der Trennung hat sich das schöne Gefühl in ihr entwickelt – und nun nach alledem, wie sollte ich nicht der Klugheit meines Planes vertrauen?
Ich redete ihn also dem Alten leise auf: ganz fein, ganz vorsichtig lenkte ich ihn dahin, als wenn es sein eigenster Gedanke wäre. Das gelang zuletzt, obgleich er sich anfangs gegen sich selber sträubte und meinte, die Lisbeth sei nicht die rechte Zuchtrute für Ulrich, wie der sie brauche, sie sei zu sanft für ihn, zu biegsam, zu jüngferlich; er müsse eine Person haben von festem Stand und festem Griff – Sie kennen ja seine greuliche Ausdrucksweise! – die ihn sicher am Zügel führe; denn ohne Joch und ohne Zaum dürfe er niemals gehen, es dürfe ihm nie zu leicht um die Seele werden, sonst würde er wieder ausschlagen vor Übermut und sich bäumen und tänzeln und vom Weg abschweifen und unversehens wieder im Sumpfe zügelloser Begierde liegen. Eine Zuchtrute müsse er haben, eine strenge Zuchtrute – oh, Herr Physikus, und in eine solche Ehe gedachte er meinen Sohn zu stoßen!«
»Eine Zuchtrute vielleicht, wie seine selige Polin war«, lachte der Arzt.
128 »Entsetzlich! – Aber nein, so böse meinte er's nicht, denn er liebt den Ulrich ja doch von ganzem Herzen und gönnt ihm alles Beste, nur daß er dies auf so wunderlichem Wege sucht. Nun, zuletzt hat er sich doch gegeben und auf mein Einflüstern selbst die Lisbeth vorgeschlagen – ich hab' dann auch gleich mit ihr geredet und ihre Einwilligung empfangen. Natürlich weiß sie nichts von unserer Abrede, sie bildet sich ein, der Ulrich habe bei dem Oheim frei um ihre Hand geworben, und wie sollte ich sie nicht bei dem schönen Glauben lassen? So war denn alles feierlich eingefädelt; wir schrieben meinem Sohne und stellten ihm diese eine, letzte Bedingung meiner Gnade. Ich aber dachte bei mir: Sagt er nein, so ist im Grunde nichts verloren, ich werde den Alten schon zu beschwichtigen wissen. Sagt er aber ja – und vielleicht ist er schlau genug, seine Mutter zu kennen und deren geheime Hintergedanken zu ahnen – dann, o dann denken Sie doch meine Seligkeit, wenn ich den treuen Jungen bei der Hand nehmen und ihn derjenigen entgegenführen könnte, der sein Herz um meinetwillen mit Kummer entsagen wollte! Die Wonne dieses Vorgefühls kann mir keiner nachfühlen, keiner! – Und nun ist das alles zerstört, vernichtet, durcheinandergeworfen, in meine eigene Grube bin ich gefallen! – Alles kam, wie ich es gehofft hatte. Nur eines nicht. Ulrich schreibt, nach langem, schmerzvollem Kampfe habe er sich entschlossen, meinem Willen zu gehorchen, an nichts zu denken als an meine unverdiente Gnade und um ihretwillen einem fremden, ungeliebten Weibe die Hand zu reichen. Er sehe ja ein, daß solch Verlangen kein unerhörtes sei, sondern von tausend anderen Eltern auch gestellt werde, wenn auch nicht in so seltsamer Rätselform. Nur damit ich auch wisse, wie unendlich groß, wie alles besiegend seine Sehnsucht nach meiner Gnade sei, müsse ich ermessen können, wie groß das Opfer sei, das er mir bringe, und darum bekenne er, daß er dort in Frankfurt ein Mädchen liebe, von ganzem Herzen liebe, mit heißer Leidenschaft, freilich auch ohne Hoffnung. Doch wie bitter selbst dem Hoffnungslosen der Gedanke sei, sich einer anderen zu verbinden, brauche er mir nur anzudeuten. Auch fühle er sich verpflichtet, der 129 Fremden, die ich ihm bestimmt habe, dies Bekenntnis zuvor zu machen. Aber er sei nun entschlossen, wie es für ihn sich gebühre, allem eigenen Glück zu entsagen und einzig um meine Liebe zu ringen. – Was sagen Sie nun, verehrter Freund, zu dieser trostlosen Entdeckung?«
»Zunächst, daß die Pferdekur ihn also doch blödsinnig gemacht hat, wie ich bereits als nicht unwahrscheinlich diagnostizierte«, bemerkte der Physikus gelassen.
»Herr Doktor!!«
»Sie haben recht, mich zu vermahnen. Vorläufig ist ja nur eine mildere Form der Verrücktheit zu konstatieren, insofern Patient selbst die Hoffnungslosigkeit seiner Leidenschaft als mildernden Umstand angibt.«
»Ach, sehen Sie, liebster Physikus, das ist's ja eben, was ich nicht glauben kann!«
Das häßliche Männchen grinste. »Ei, natürlich, wie sollte eine bescheidene Mutterseele denn einem unbescholtenen Mädchen von vornherein die ungeheure Geschmacksverwirrung zutrauen, daß es in ihren Sohn nicht verliebt sein könnte! – Aber sicherlich, Sie tun recht, die Flinte nicht gleich ins Korn zu werfen; vielleicht, wenn das verblendete Geschöpf nur erst seine liebenswürdige Schwiegermutter kennenlernt –«
»Oh, spotten Sie nur, die Hoffnung reden Sie mir doch nicht aus! Und warum sollte ich auch das Traurigste glauben, ehe ich es wirklich weiß? – Oh, Herr Doktor, wenn Sie wüßten, wie abscheulich schlecht Ihnen dies boshafte Lächeln steht!«
»Ich habe es längst aufgegeben, etwas für die Verschönerung meines Angesichts zu tun – das wäre allerdings noch weit hoffnungsloser als Ihres Herrn Sohnes Liebe. Vielleicht aber tun Sie mir Unrecht, diesmal mein mildes Lächeln als Bosheit zu deuten; es ist nicht alles Pech, was schwarz ist; wer weiß, ob ich nicht gerade jetzt – wann erhielten Sie, meine verehrteste Gönnerin, den verhängnisvollen Brief?«
»Gestern abend. Sie können sich denken, welche Nacht ich verlebte! Heute früh sandte ich sogleich zu Ihnen –«
»Und das zu einer merkwürdig glücklichen Stunde. Ihre 130 Botschaft traf mich nämlich gerade über Plänen brütend, die genau dasselbe Ziel wie die Ihrigen verfolgten, nämlich unserem lieben Rittmeister auf irgendeine artige Manier recht gründlich seine Kreise zu verrücken. Gewiß, meine Gnädige, Sie brauchen mir kein Wort zu sagen, ich lese Ihre Mißbilligung auch ohne das mit vollkommener Sicherheit in dem schmerzlichen Zucken ihrer Augenbrauen. Allein vielleicht gestatten Sie mir, zum Zwecke meiner sittlichen Entlastung Ihre rührende und feine Jugendgeschichte mit einer entsprechenden Gegengabe zu beantworten. Ich pflege sonst so wenig Staat damit zu machen wie Sie mit der Ihrigen; indessen eine Liebe ist der anderen wert. Sie mögen aus dieser Offenherzigkeit entnehmen, ob ich völlig gleichgültig bin gegen Ihren Tadel oder Ihr mitfühlendes Verständnis; denn auf das letztere wage ich zu hoffen. Ich glaube, es ist Ihnen flüchtig bekannt, daß ich ein eifriger Verehrer alles Schönen bin, in welcher Gestalt auch immer es in der Welt sich offenbaren mag. Ob diese hierzulande sonst wenig bekannte unmilitärische und darum nutzlose Neigung ihren Ursprung hat in irgendeinem innern Gesetz des Gegensatzes, lasse ich unentschieden und halte mich nur an die Tatsache. Begreiflich und fast verzeihlich muß es nun scheinen, daß diese allgemeine Lust an der Schönheit sich in meiner übelberatenen Jugend ganz besonders auch äußerte in einer feurigen Liebhaberei für lebendige und persönliche Vorzüge reizbegabter Frauen. Leider mußte ich die rätselhafte Beobachtung machen, daß schon damals das sonst so liebelustige Geschlecht schier ausnahmslos eine wahrhaft leidenschaftliche Abneigung verriet, meinem schüchternen Liebeswerben auch nur mit einem hoffnungsweckenden Blicke entgegenzukommen. Wollen Sie daraus schließen, daß schon in jenen Blütetagen mein Äußeres verwöhnten Blicken nicht völlig genügt habe, daß ich vielleicht ein wenig krummbeinig, hager, farblos, schlitzäugig, stülpnasig, sommersprossig gewesen sei, so kann ich Ihnen diese bösartige Auffassung nicht verbieten. Unglücklicherweise war ich wenig mit solcher allgemeinen Zurückweisung einverstanden; ich fand im Gegenteil diese unartigen Dinger nur immer reizender und mühte mich fort und 131 fort verzweifelt um ihre Gunst. Da fand ich wahrhaftig zuletzt ein Persönchen kühn und originell genug, daß sie es schien mit mir wagen zu wollen; vielleicht daß sie künstlerisch genug veranlagt war, eine so folgerichtige und rein ausgeführte Häßlichkeit als eine Art Schönheit zu empfinden. So sind in den Augen der rechten Hundekenner oft die ganz häßlichen Rassen von Kötern die wertvollsten. Wie dem auch sei, sie nahm meine Verehrung, meine Leidenschaft geduldiger, dann teilnehmend, dann angeregt, zuletzt schon feurig auf, und ich will heute noch schwören: wäre mir nach soviel Verschüchterung der Mut nicht allzu schwer gedämpft gewesen, ich hätte das Glück gehabt und die Braut heimgeführt. So aber zögerte ich und verlor die Gunst des Augenblicks. Ein anderer kam mir ins Gehege, ein schmucker, flinker, strammer, wohlgefügter Bursche im blanken Waffenrock: der gewann die grillenhafte Gunst der Schönen, und ich verlor sie, die ich schon besessen. Und das Schlimmste: was er gewann, war weniger als nichts; was ich verlor, war alles. Sie war eine Polin, heiß, süß, wild, sprühend und sprudelnd, tändelnd und tänzelnd, leichtblütig, trotzig, lustverlangend, aufbrausend, hinwirbelnd und ewig lachend, ein Weib, das alles besaß, was mich durchglühen und beseligen konnte – und er? Nun er, mit einem Wort, er war ein Preuße. Aber noch mehr als das, er hieß Jageteufel und war die Larve, aus der dereinst der trübselige Nachtschmetterling herausflattern sollte, den ich den blechernen Rittmeister nenne. Begreifen Sie nun, meine verehrungswürdige und unparteiische Richterin, daß ich den Menschen hassen, noch nach dreißig Jahren hassen muß, muß, muß?«
Frau Doris sah dem Redner noch eine Weile stumm aus erschrockenen Augen ins Gesicht, dann streckte sie ihm beide Hände entgegen und sagte mit bittendem Ton:
»Ich begreife wohl alles – aber doch –, Sie müssen ihm doch verzeihen – denn sehen Sie, er hat ja gewißlich nicht geahnt, was er Ihnen antat, was er Ihnen nahm; ist es seine Schuld, daß jene Polin ohne sein Bemühen, ja gegen seine Neigung Wohlgefallen an ihm fand? Und dann, wie 132 schwer hat er's gebüßt, daß er nicht widerstand! Könnte nicht das unglückselige Ende dieser Ehe auch dem gerechtesten Rachedurst genügen?«
»Nein!« rief der Physikus schneidend mit seltsam funkelnden Augen, »was geht mich dies blinde Rollen seines Schicksals an? War das meine Rache? War ich's, der ihm sein Glück zerstörte? Nicht einmal das vermochte ich, denn es entwich von selber. Sie wollte tanzen, und er wollte Pflichten erfüllen, das ging nicht miteinander. Ich habe keinen tätigen Teil daran, und darum ist es keine Rache für mich, die mein ausgehungertes Herz ersättigen könnte. Und wie? Daß er nicht wußte, was er tat, daß es keine feindliche Absicht war, das sollte mich beschwichtigen? Oh, wäre es trotzige Absicht gewesen, daß ich offen gegen ihn hätte kämpfen können! Wenn mir ein plumpes Nashorn sinnlos behaglich stampfend meinen Rosengarten zertritt, ist das nicht dreimal gräßlicher, als wenn mein tapferer Feind es wissend tut? Und so ein Vieh soll ich nicht niederschießen, sobald ich's schußgerecht bekommen kann?«
»Herr Physikus, ich fürchte mich!« rief Doris, krampfhaft nach seiner Hand greifend, »oh, hätte ich nie daran gedacht, mit Ihnen Gemeinschaft zu machen!«
Er lachte in einer sonderbaren Weise auf und kniff die Augen zwinkernd zusammen.
»Oh, meine Gnädigste«, sagte er gemütlich, »wie ganz verkennen Sie meine Meinung! Sie trauen mir zu, ich wollte als ein aufgeputzter Tragödiennarr mit Dolch und Gift ihm zu Leibe gehen? Wenn ich ihn vergiften wollte, so hätte ich dreißig Jahre Zeit dazu gehabt. Aber was sollte mir das nützen? Er gewönne den Frieden des Grabes, und mein Triumph wäre genußlos ohne seine Zeugenschaft. Nein, mit so plumpen Mitteln arbeiten feine Köpfe nicht. Sie brauchen nicht zu zittern, es geht ihm weder ans Leben noch an die gesunden Glieder. Etwas anderes ist es, wenn ich ihm von Zeit zu Zeit mit sanftem Lächeln eine moralische Ohrfeige versetzen kann, daß er dann dasteht tage- und wochenlang und sich mit dummem Staunen die Backen reibt; wenn ich ihm mit 133 meinem spitzen Stocke das Gedankennest durchlöchern kann, darin er seine Narrheitseier ausbrütet, wenn ich seine eigensinnigen Pläne durchkreuzen und verwirren kann, bis er tobt und rast in seinem unbehilflichen Trotz – ja, sehen Sie, das ist ein Vergnügen für mich, das sich der Mühe lohnt! Und nun, nicht wahr, da kommt mein Streben doch dem Ihrigen im schönsten Gleichmaß aufs angenehmste entgegen? Sie zweifeln noch? Ei nun, wohin zielt denn Ihr Begehren? – Sie wollen Ihren Sohn dem barbarischen Zwange seiner Philosophie entziehen – ganz recht, eben das will ich auch und weiter nichts. Das ist meine Ohrfeige, und ich denke, sie wird brennen. Denn wahrhaftig, er liebt Ihren Herrn Sohn mit seiner ganzen brutalen, stierköpfigen, despotischen Liebe, die immer herrschen muß, wo sie liebt, und nur da lieben kann, wo sie herrscht. Und wissen Sie auch, warum er ihn liebt? Weil er sein getreues Ebenbild in ihm erblickt –«
»Nicht möglich!« rief Frau Doris lebhaft aus. »Ich bitte Sie, ich kenne keine schärferen Gegensätze als diese beiden, deren jedem gerade das nur fehlt, was der andere besitzt, dem einen die Freiheit und Freudigkeit, dem anderen die Zucht –«
»Halt, meine vortreffliche Gönnerin«, unterbrach er sie, »ich höre die Worte Ihres Beherrschers – aber nur seine Worte. Glauben Sie mir, ich kenne ihn besser, diesen Helden der Zucht; ich habe ihn belauscht und belauert mit der ganzen Liebe meines Hasses und habe ihn zerlegen gelernt bis in die letzten Fasern seines Wesens. Und was ich gefunden habe, ist dies: der tiefste, ursprünglichste Kern dieses Peinlings, der das Gesetz beständig und den Gehorsam im Munde führt, er ist doch nichts anderes als der alte unbändige ostpreußische Freiheitstrieb, der unaustilgbar in dieser Rasse sitzt, aber in wenigen so tief als in ihm, der nicht einmal ein Lob seiner Vorgesetzten, geschweige denn den Tadel vertragen kann, weil es ihm ein Stück seiner Freiheit nimmt, ja, dem der Stachel seiner eigenen Begierden nur deshalb verhaßt ist, weil diese ihm die stolze Freiheit der Entschließungen hindern. Und weil er doch das stumme Bewußtsein mit sich schleift, daß er niemals ganz loskommen kann von dieser Kette seiner Natur 134 und den hundert anderen Ketten der Menschlichkeit, darum tobt er so und quält sich so in sein Poltern hinein, da er doch von Hause aus nicht mehr und nicht weniger als ein gutmütiges Tierchen ist, bloß trotzig und prahlerisch und eitel, eitel, eitel! Sehen Sie, Allergnädigste, so hängt das zusammen, daß er gerade in Ihrem Sohn sein Ebenbild erkennt und liebt, sowohl an angeborenem, heißem Willenstrotz als auch in der eingebildeten Kraft, diesen Trotz in wütender Selbstzucht einem eingebildeten Sittengesetze zu unterwerfen. Wenn also dieser geliebte gelehrige Zögling ihm zuletzt versagt und fröhlich seiner plumpen Zucht entspringt, dann – dann hat er meine Ohrfeige. Weiter will ich diesmal nichts, weiter wirklich nichts, und in diesem Streben werden Sie mich, beklagenswerte Frau, von Herzen unterstützen, wie ich Ihnen von Herzen meine Hilfe biete – ganz einfach, weil Sie müssen. Oder sollte ich unrecht haben, Frau Geheimrätin?«
»Nein, nein«, seufzte sie, »leider nein. Allein ich fange an zu glauben, daß Sie um vieles besser sind als Sie sich stellen; und darum will ich mich nicht mehr fürchten vor Ihrer Hilfe. Wenn wir den Alten kränken müssen; o Gott, was hilft's? Ich kann doch meinen Sohn nicht seiner Schrulle opfern! Aber wenn ich nur erst wüßte, mit welchem Rate Sie mir helfen können – Gewalt hilft nichts und Überredung auch nicht –«
»So muß denn um so sicherer die List heran. Soviel ich sehe, heißt hier die Losung: Zeit gewonnen, alles gewonnen. Die erste Aufgabe wäre also, unseren Widersacher für einige Zeit unschädlich zu machen, entweder zu entfernen oder in Spiritus zu setzen so lange, bis Sie Ihrem Sohne nach Frankfurt geschrieben haben und Antwort erhielten –«
»Oh, zum Glück ist soviel Zeit nicht erforderlich«, fiel sie freudig ein, »denken Sie nur, der Ulrich ist schon unterwegs nach Hause! Er schreibt, im Vertrauen auf meine Verheißung werde er sich sogleich über Berlin nach Danzig aufmachen und dort meine letzte Botschaft erwarten, auf die hin er kommen und sich zu meinen Füßen werfen wolle. Er wird nun nicht viel langsamer reisen als sein Brief: wie nahe also 135 kann er mir jetzt schon sein! Wenn ich sogleich nach Danzig an ihn schreibe –«
»Vortrefflich!« rief der Physikus, »über Erwarten vortrefflich. So kann die Wirrnis in zwei Tagen geordnet sein, und dem Tyrannen fliegt eine vollzogene Tatsache gegen die eherne Stirn. Setzen wir ihn also vorerst in Spiritus. Wie das geschehen soll? – Hören Sie gefälligst noch ein kleines Geschichtchen. Also, heute in aller Morgenfrühe kommt eben dies besprochene Ungeheuer in mein stilles Haus getrampelt, um mir mein Frühstück durch eine Kantische Bußpredigt zu vergiften. Und was war mein Verbrechen? Einem armen Teufel von Nachtwächter hatte ich einen Schlaftrunk gegen Zahnschmerzen eingegeben; kann man sich schöner um seine Zeitgenossen verdient machen? Denn sagen Sie selbst, was kann ein Nachtwächter in unserer sittlich reinen Stadt wohl Menschenfreundlicheres tun als schlafen, soviel er kann, und die Bürger mit seinem Tuten und Heulen verschonen? Und da bekomme ich statt einer Bürgerkrone eine schimpfliche Verwarnung! Das war die tragische Seite unserer Zwiesprache. Die lustige aber ist die, daß der wütende Mensch sich nicht beruhigen will, ehe er nicht selbst die Wirkung jenes Zaubertrankes an sich erprobt und festgestellt hat, wie weit der Sterbliche imstande sei, sie durch Willenskraft zu überwinden. Natürlich schwört er darauf, daß ihm diese Fähigkeit von des kategorischen Imperativs Gnaden verliehen sei. Kann freilich sein, daß der Eisenfresser recht behielte, dafern ich ihm keine stärkere Gabe verabreiche als meinem Nachtwächter; allein, das eben ist die Frage, aus der mein kühner Plan emporzukeimen und zu gären begann. Jedenfalls werden Sie nun nicht mehr allzu sehr erschrecken, wenn man Sie etwa morgen früh durch die Botschaft überrascht, Ihr sonst so klotzgesunder Freund sei bettlägerig – ärztliche Diagnose: besondere Form von Schlafsucht, lethargia bestialis – – Aber ich bitte im Ernst, meine Gnädige, nicht diese ängstlichen Augen! Ich verbürge mich durchaus für seine untadlige Genesung, und die Dauer seiner Krankheit hängt einzig von Ihren Wünschen und Ihrer geschickten Benutzung der 136 Stunden ab. Sollte er freilich bei dieser Gelegenheit noch eine weitere moralische Besserung davontragen und dann in seiner namenlosen Vollkommenheit ganz gemeingefährlich werden, so bin ich als Arzt für diese Folge nicht verantwortlich. – Also noch einmal: benutzen Sie die Zeit; setzen Sie sich zuvörderst gleich mit Ihrem Sohne in Verbindung; vermeiden Sie während des heutigen Tages nach Möglichkeit die Gesellschaft Ihres Blechtrompeters; sodann möchte es vielleicht gut sein, Demoiselle Lisbeth ins Vertrauen zu ziehen, und endlich hätte ich noch einen Vorschlag zu machen –«
Frau Doris unterbrach durch einen tiefen Seufzer seine Rede.
»Ach, arme Lisbeth!« klagte sie. »Mein Gott, auch das ist noch ein schwerer, schwerer Kummer für mich: wie soll ich es dem guten Kinde beibringen, daß meines Ulrichs Herz sich einer anderen zugewandt hat! Gerade jetzt, wo sie seiner Treue sicher war! Und doch muß es sein, ich muß auch diesen Kelch noch leeren. Auf dieses erste Glück muß sie verzichten, das arme Geschöpf, und Gott wird ihr beistehen, daß ihr Herz nicht bricht –«
»Zum mindesten«, bemerkte der Physikus, »pflegen gebrochene Herzen sachte wieder auszuheilen und nachzuwachsen wie abgebrochene Eidechsenschwänze. Darüber machen Sie sich keine übertriebenen Sorgen, für diese Frage bin ich gründlich urteilsfähig. Übrigens unterbrachen Sie mich an einer interessanten Stelle. Ich wollte noch einer anderen Person erwähnen, die uns vielleicht von Bedeutung sein kann. Es befindet sich eine Dame hier, sagen wir auf der Durchreise, eine Dame, von der Sie sich ein erstaunlich klares Bild machen können, wenn Sie sich in allen Stücken das genaue Gegenteil meiner werten Person vorzustellen suchen: sie ist weiblichen Geschlechts, jung, hübsch, gerad gewachsen, heiter, blühend, mit strahlenden Augen, liebenswürdig, harmlos, menschenfreundlich, lebenslustig – bitte, vervollständigen Sie sich die Beschreibung aus eigener Kraft. Nicht zweifelhaft ist mir trotz ungenauer Angaben, daß sie geradeswegs aus Frankfurt kommt – Frankfurt am Main will ich verstanden wissen. 137 Ah, ich sehe, Sie werden aufmerksam! Ihre Hände bitten und Ihre Augen fragen – viel mehr als ich zu beantworten weiß. Das eine aber ist doch wohl nicht ganz unmöglich, daß wir durch sie vielleicht etwas erfahren können über den Gegenstand jener hoffnungslosen Liebe Ihres unglücklichen Herrn Sohnes, ja, daß die muntere Reisende wohl gar als eine Vermittlerin zu gewinnen wäre – – doch das sind schweifende Möglichkeiten, an die man zu früh weder Zeit noch Worte verschwenden darf. Vorläufig erbiete ich mich, die Dame Ihnen zuzuführen, sobald wir Ihren hütenden Drachen eingeschläfert haben; wobei ich freilich immer die Bedingung machen muß, daß Sie Ihre Aufregung ein klein wenig besser bemeistern, die Ihnen leider jetzt, wie ich sehe, bis in die Haarspitzen zittert: ich kann sonst wirklich nicht für gesundheitsschädliche Folgen stehen.«
»Oh, Herr Physikus – wie soll ich nur begreifen – und wie kann ich Ihnen –«
»Danken? Dadurch, daß Sie Ihre geringen Nervenkräfte nicht in nutzlosen Danksagungen erschöpfen. Ich sage Ihnen ja, ich arbeite diesmal durchaus nicht allein für Ihre schönen Augen, sondern vornehmlich für einen noch selbstloseren Zweck. Denn glauben Sie getrost: die Menschenseele kennt nur eine ganz lautere, ganz uneigennützige Freude, eine Freude, die selbst den edelsten Tieren versagt und einzig dem Menschen vorbehalten ist, darum menschlich im höchsten Sinne, ja göttlich zu nennen: das ist die Schadenfreude. – Leben Sie wohl, meine gnädige Gönnerin! Mögen Ihre schönen Augen bald etwas Schöneres erblicken als in diesem schönen Augenblicke! Und vor allem: hüten Sie Ihre Zunge vor den langen Ohren Ihres blechernen Rittmeisters!«
Mit einer merkwürdigen Geschwindigkeit schob sich das dürre Männchen zur Tür hinaus, kam durch den Garten und über die Brücke und hinkte endlich durch einen langen, dunkeln Gang, der neben der Weinstube herlief, bis auf die freie Straße, ohne einem Menschen zu begegnen. 138