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Vierunddreißigstes Kapitel

Dem Feinde entgegen

Frau Agnesens Zustand besserte sich von Tag zu Tag, und Doktor Busch meinte nur noch das Ende des regnerischen Wetters abwarten zu müssen, um ihr die sehnsuchtsvoll herbeigewünschte Rückfahrt nach Menkendorf endlich unbesorgt erlauben zu dürfen. Bei Blanka dagegen fing man an, ein gewisses, allgemeines Nachlassen der frohen und frischen, mutigen Jugendlichkeit zu bemerken. Und Hildegard äußerte sich darüber so: Es sei eine Entschiedenheit und ein Starrsinn in das so sanfte und lenksame Kind hineingefahren, die ihr und ihrem Gatten schon mehr als einmal, und besonders neulich, da der Baron Mirow mit seinem Sohn am Abend bei ihnen gewesen, auf das unangenehmste aufgefallen sei, ja sie geradezu in ernstliche Verlegenheit gebracht habe. Und sie schloß daran eine leise Hindeutung auf Blankas gar zu ungezwungenen Verkehr mit Alfred. Ob sich da etwa nicht dies und jenes einmischen könne –?

Frau Agnes von Gunsleben schüttelte den Kopf. Sie hatte seit Wochen Alfred wieder häufiger und zuletzt nicht selten mit Blanka zusammengesehen. Aber sie dachte wieder um vieles milder über ihn: was er in diesen Wochen den Ihren und zumal dem Gatten gewesen, hatte sie wohl erfahren und mußte es ihm von Herzen danken. »Ich glaube wirklich, liebe Tochter,« erwiderte sie daher mit der kühlen Miene, die sie zuweilen annehmen konnte, »daß Sie zu ernst sehen und allzuviel sorgen. Ich habe unsere Blanka nie überspannt gefunden. Und von Alfred Wehrenberg möchte ich ähnliches sagen. Er hat wirklich nicht viel verloren, wie ich eine Zeitlang gleichfalls gefürchtet habe, und hat uns nirgends durch eine Erinnerung an seine anderweitigen Verhältnisse gestört und verletzt, noch uns durch irgendeinen Anspruch belästigt. Er war sonst immer ein guter, treuer und bescheidener Mensch und zeigt sich uns auch jetzt nicht anders.«

Frau Hildegard wandte darauf das Gespräch einem anderen Gegenstande zu. Am Abend aber, als ihre Tochter Rose sich schon zurückgezogen hatte und sie mit dem Gatten allein war, sagte sie verstimmt: »Ich versuchte heut nachmittag mit deiner Mutter über Blanka zu sprechen. Aber in manchen Punkten ist doch auch mit ihr, trotz all' ihrer Trefflichkeit, kaum noch etwas anzufangen.« Und er zuckte die Achseln und versetzte verdrießlich: »Das ist nicht anders. Die Menschen, selbst die besten, werden allmählich alt und versauern und verstocken. Gottlob, daß wir wenigstens die »Braut« des Monsieur Eugen losgeworden sind, der man ja auch in der unerhörtesten Weise das Wort geredet hat ...«

Madame Mereau, oder die »französische Madame«, wie man die unglückliche Verlassene in der Stadt genannt hatte, war mit der Zustimmung des Arztes in der Tat schon vor einigen Wochen abgereist und hatte bereits Nachricht gegeben, daß sie nebst ihrem Kinde die Reise wohl überstanden habe und bei ihren Eltern gut aufgenommen worden sei. Auch Renate Stein, die arme Nähterin, war in ihre frühere stille Wohnung zurückgekehrt und führte ihr Leben ebenso bescheiden und unscheinbar fort wie früher. Den städtischen Kaffeegesellschaften ging mit der Auflösung dieses Hausstandes einer von den Hauptgesprächsstoffen verloren, und das war jedenfalls ein empfindlicher Verlust. Es war in der Stadt augenblicklich auch sonst eine auffällig stille und langweilige Zeit. Leutnant Eugen Graf Altheim war verschollen, seine Schwester Viktoria in den weit entlegenen Rheinlanden im Hafen der Ehe gelandet. Frau Agnes war gesund und kein rechter Gegenstand der Teilnahme mehr; über die Menkendorfer Erlebnisse ihres Gatten ließ sich auch nicht viel reden. Und endlich, daß der berüchtigte Peter Ahrens im Kriminalgefängnis saß und als fast schon überführter Mörder des Willmanns vor die Herbstgeschworenen gestellt werden sollte – das konnte am Ende doch auch nicht stets von neuem wieder beredet werden.

»Was meinen Sie, Doktor Busch – wenn's einer von uns so machte wie der da und Tag und Nacht des Schlafes pflegte?« sagte einer von den Gästen, die sich heute abend am Stammtisch in den »St. Jakobsbrüdern« zusammengefunden hatten und deutete auf den wackeren Peter Jansen, der gesenkten Hauptes im Schenkstande saß und gesund schnarchte »Wie dürfte unsereinem solches bekommen?«

»Schlecht!« entgegnete der Arzt m seiner trauerklößigen Art, die stets zum Lachen reizte. »Andere tränken inzwischen den Stoff aus, der uns sonst gelabt hätte; und wer steht uns für den, welchen wir beim Erwachen finden? Also wachet, so lange ihr Durst habt!«

»Schlimme Zeiten!« sagte ein Dritter trocken.

»Nun, ihr Herren, malt in eurer Lust nach Neuigkeiten den Teufel nicht an die Wand,« bemerkte ein anderer.

Indem kam ein neuer Gast herein und eilig durch die Gänge auf den Tisch der Bekannten zu, – Alfred Wehrenberg war's, der sich neuerdings wieder häufiger den »wasserdichten« Genossen anzuschließen pflegte. »Seht ihn an, ihr Herren – könnte ein Maler dieses Gesicht nicht als Studie zu einem Gewitterhimmel gebrauchen?« rief Doktor Busch scherzend aus. »Alter Miesmacher, was bringst du uns?« schrie ein anderer übermütig. Da entfaltete der Ankömmling ein fast noch feuchtes Sonderblatt der ›Städtischen Zeitung‹ und sagte mit bewegter Stimme: »Den Krieg, ihr Herren! – Seht!«

»Ems, den 13. Juli. Der französische Botschafter stellte heute morgen auf der Promenade an Seine Majestät den König die Forderung, daß der König für alle Zukunft die Wiederaufnahme der Kandidatur des Prinzen von Hohenzollern untersage und einen entschuldigenden Brief an den Kaiser Napoleon schreibe. Der König lehnte dies ab und kehrte in seine Wohnung zurück. Als Graf Benedetti ihm auch dahin folgte und um neues Gehör bat, ließ der König ihm durch den Flügeladjutanten Grafen Lehndorff erwidern, daß er ihm nichts mehr zu sagen habe.«

Einer hatte dies laut vorgelesen und im ganzen Raum war es dabei so totenstill geworden, daß der dicke Peter Jansen aus seinem Schlummer erwachte und sich verwundert die Augen rieb, ob denn schon alles aufgebrochen sei. In diesem Augenblicke rief von der Tür her eine rauhe Schifferstimme: »Das ist ja schandmäßig, Jungen! Schlagt das welsche Gesindel in den Boden hinein! Ein Hurra auf den König – dreimaldrei! – Hurra!« Der herzhafte Ruf schlug donnernd zum alten verschwärzten Gewölbe empor. »Stoßt an – unser einiges deutsches Vaterland soll leben!« erscholl ein zweiter. Und dieser klang immer wieder von neuem brausend auf. Und auch draußen auf der Straße wurde es schon lebendig und bald war die ganze Stadt ein einziges »Hurra!«

Nun ging es so fort, die Nachrichten folgten einander, nicht mehr tage-, sondern fast stundenweise, und keine führte zurück, jedes Wort trug vorwärts. Es kam die Rückreise des Königs nach Berlin, begleitet von der aufbrausenden Begeisterung des gesamten Volkes und der plötzlichen Einigkeit aller Parteien. Und dann flog der Kriegsbereitschaftsbefehl durchs Land und bald zogen die Landwehren und Freiwilligen in langen Zügen auch durch die Tore unserer alten Stadt. So fand die Kriegserklärung Frankreichs alles im vollsten Gange. Und ein paar Tage später brausten schon die Wehrzüge endlos davon, dem alten Vater Rhein zu und dem näselnden Erbfeind entgegen.

Der ›Junker‹ war mit seinem alten ›Seelenkutscher‹, dem Magister Silberg und dessen Frau selbstverständlich zur »letzten Stunde« in die Stadt hineingefahren. Man mußte doch jedem der Kämpfer noch einmal in die frohmutigen Augen blicken und ihnen Glück und Segen auf den Weg wünschen! – Und der alte Herr war schier der Frischeste und Mutigste und Munterste von allen; seine finsteren Sorgen und die mutlosen Stimmungen, die ihn fast auf's Krankenbett niedergedrückt hatten, waren von ihm spurlos abgefallen und ließen ihn wieder in seiner vollen Kraft und Rüstigkeit unter den Seinen, als das Haupt der Familie, als ihr Stolz und ihr Halt, seine Stelle einnehmen. Er hätte, wenn er darauf acht gegeben, wohl wahrnehmen können, zu welchem Trost und welcher Stärkung dies den Seinen gerade in diesen ernsten Abschiedsstunden gereichte, und wie alle ihre Freude an ihm hatten.

»Gott Lob und Dank!« sagte der Oberstleutnant zu dem alten Silberg, »jetzt ist der Alte doch wieder, wie ich ihn mein Leben lang gekannt und verehrt habe. Seither hab' ich mehr als einmal um ihn sorgen müssen –«

»Ei, da seh' und hör' ich's ja,« entgegnete der mit einem seltsamen Ton in der Stimme, »was deine Mutter uns heut morgen sagte, daß sie dich und deine Frau neuerdings merkwürdig unzufrieden mit dem Alten und auch sonst gefunden –«

»Das ist denn doch gar zu stark ausgedrückt! Wir verstanden nur zuweilen nicht recht –«

»Das macht mit der Mutter und euch selber aus. Damit du aber deinen alten Vater wieder ein wenig besser verstehen lernst und auf deinem Marsch ein bißchen Stoff zum Nachdenken hast – was meinst du, wenn dein Vater nun zufällig unter den übrigen Menkendorfer Armseligkeiten, wie du sie heißest, auch die Entdeckung gemacht hätte, daß vor zwanzig Jahren der eine seiner Schwiegersöhne den anderen feige erschlug und noch heut auf freien Füßen herumspaziert?«

»Altheim – Warneck?«

»Jawohl! Habe Ehrfurcht und Hochachtung vor deinem Vater, mein Junge, daß ich ihm darüber das Herz krank werden konnte! Behalt's aber lieber für dich, bis dein Vater dich vielleicht einmal zu Rat darüber zieht. Vermutlich wird er aber ohne diesen fertig.« Und damit wandte sich der alte Pfarrer dem nun völlig verstummten Nachbar ab und den übrigen zu, denen sich eben Alfred und Busch, letzterer gleichfalls in Uniform, zugesellten.

Auch Baron Mirow war mit seinem Sohn da, um diesen »vor der Abreise den alten Freunden zu geneigtem Andenken zu empfehlen.« Und als Frau Agnes fragte, wo denn der junge Herr, der noch nicht in Uniform war, eintreten werde? – antwortete der Baron seufzend, daß er des Sohnes – es sei ja sein einziger! – ungestümen Drängen freilich nachgegeben, aber in Anbetracht der schwachen Gesundheit nur seinen Eintritt beim Fürsten Pleß zugestanden habe.

»Das heißt man ja wohl die Johanniter?« meinte der ›Junker‹ mit einem belustigten Blick auf den langen Burschen, der gerade Blanka zur Bewunderung seines »patriotischen Entschlusses« aufforderte. Als der Baron später Alfred erblickte, stutzte er. Herr Wehrenberg – wenn er nicht irre? – Offizier und – bei den Ulanen? Diese Herren – hielten sich ja sonst meistens zur Infanterie? Die Reiterei verlange doch eher – besondere Naturen, die im Bürgerstande naturgemäß selten sein müßten. Aber man gestehe freilich den jungen Leuten neuerdings immer unbeschränkter die Wahl ihrer Regimenter zu. Es gehe ja alles anders als sonst. So bunt durcheinander! »Es ist eine schauderhafte Zeit!« schloß er, die Schultern verziehend.

»Nein – eine wundervolle Zeit!« rief der ›Junker‹ laut in das unbehagliche Schweigen hinein, womit man rings auf die verwickelte und ziemlich unklare Rede des Barons gehorcht hatte. »Und nun zum Abschied, Kinder! Es schlägt zehn, hör' ich, ihr müßt zum Bahnhof. Wir gehen nicht mit. Ihr habt anderes zu tun und dürft nicht zurück auf uns sehen! Vorwärts liegt der Sieg! Holt ihn euch, und sei's auch mit eurem Herzblut! – Nehmt eure Gläser und stoßt an –: eine frische und fröhliche Jagd, meine Jungen, und der Herrgott sei mit euch!«

Sie stießen hellklingend an und tranken aus, und dann gab es, wie der Alte es wollte, einen raschen Abschied. Den eigentlichen hatten alle ja schon längst genommen. Blanka stand Hand in Hand mit Alfred und ihr Auge umfaßte ihn tief und klar. An ihre Umgebung dachte sie augenscheinlich nicht. »Nimm dich meines Bruders an – er ist so wild und tollkühn und denkt nicht an sich und die Seinen.«

»Sicher, Blanka! Wenn ich's vermag, kehrt er dir heil und lustig zurück.«

»Und du selbst, lieber Alfred?« Die Augen senkten sich noch tiefer in die seinen und die Wimpern zitterten leise; aber Tränen kamen nicht. »Wirst du auch stets an dich und an uns denken?«

»Ja, Blanka, an dich, an euch alle – auch an mich.«

»So lebe wohl, Alfred, lebe wohl und Gott schütze dich!«

»Und dich, Blanka!« – –

Herr Wilhelm von Mirow hatte entschieden Unglück. Oben hatte er zum Abschied nur stumme Verbeugungen bekommen und jetzt drunten an der Haustür sagte der ›Junker‹ gar: »Na, junger Herr, Ihnen wünsche ich eine angenehme Reise und viel Vergnügen!«

Als der Alte hinterher mit Silberg wieder die Treppe hinaufstieg und der Pfarrer achselzuckend meinte, die Mirows hätten heut abend auch davonbleiben können, – da versetzte er unmutig: »Ja, daß mir der Teufel auch die Bescherung immer in den Weg schiebt – buh, es verdirbt mir den Magen! – Und der möchte meine Kleine haben? – Johanniter? – Ja, prost die Mahlzeit!«


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