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Neunzehntes Kapitel

Vor zwanzig Jahren

Das Kapitel, worin die Geschichte von Blankas Eltern verzeichnet stand, war eins der traurigsten in der ganzen Familienchronik der GunsIeben, und sein Schluß war, wie wir bereits erfuhren, in ein Dunkel gehüllt, das für die Angehörigen alles noch um vieles schwerer und trübseliger machte.

Zur Zeit, als der ›Junker‹ seine älteste Tochter Gertraude an den Grafen Altheim verlobte, wurde die Gerichtsstelle in der kleinen Stadt gerade von einem Assessor Heribert Wehrenberg verwaltet, der sich, trotz seines noch kurzen Aufenthalts, in der Umgegend bereits viel Achtung und Ansehen erwarben hatte. Der ›Junker‹ hegte schon damals ein gewisses Mißtrauen gegen seinen zukünftigen Eidam und suchte vor der Hochzeit, gegen die landläufige Gewohntheit und zum großen Ärger des Grafen, das Geschick seiner Tochter in einer Art von Ehevertrag einigermaßen zu sichern. Der alte, vertraute Geschäftsführer der Familie war gerade gestorben, und da die Zeit drängte, nahm Detlef Gunsleben bei Abfassung des Schriftstückes den Rat des genannten jungen Beamten in Anspruch. So kam dieser ziemlich häufig nach Menkendorf und fühlte sich bald durch die Tochter des Pfarrhauses gefesselt. Die Eltern und das Mädchen selber waren ihm nicht entgegen, und als er nach einem Jahr zum großen Gerichtshof zurückversetzt wurde, begleitete ihn die junge Frau. Bei dieser Hochzeit traf einmal wieder jenes alte Sprichwort zu, daß nicht leicht eine solche Verbindung geschlossen wird, ohne daß dabei schon eine andere in Aussicht genommen würde. Mit Heribert Wehrenberg kam sein bester Freund zum Fest, der damalige Rat, Baron von Warneck. Er wandte der zweiten Tochter des ›Junker‹, Mathilde, obgleich sie noch ein halbes Kind war, eine große Aufmerksamkeit zu und bewarb sich fortan ernstlich um sie. Indessen nahm diese Verbindung einen nicht ganz so raschen Verlauf wie diejenige Wehrenbergs. Es vergingen mehrere Jahre, bis Warnecks echte Liebenswürdigkeit und Tüchtigkeit die Bedenken der Eltern besiegte. – Nun lebte das neue Paar – wir dürfen es ein glückliches heißen – mit der Familie Wehrenberg drunten in der Stadt in einem Freundschaftsbunde, der an Herzlichkeit und Einträchtigkeit um nichts jenem nachstand, der zu Menkendorf die Eltern vereinigte. Auch diese Eintracht wurde niemals gestört. Die beiden Frauen verstanden und liebten einander, wie von jung auf, unverbrüchlich bis an den Tod. Zwischen den Männern trat freilich infolge der traurigen, volkzerklüftenden Achtundvierzigerereignisse eine gewisse Erkaltung ein, die indessen nicht so weit reichte, um sie wirklich zu trennen oder sie auch nur gegeneinander zu stellen. Übrigens fand der politische Meinungsstreit schon von Anfang an auf der Seite Warnecks keinen sehr günstigen Nährboden; denn Freund Heribert schien von einem langsam aber rastlos vorschreitenden Nervenleiden geplagt zu sein, das den bis dahin durchaus heiteren Mann in seiner Stimmung auf das peinlichste zu beeinflussen und erschüttern anfing. Von einer äußeren Veranlassung wurde nicht das geringste sichtbar, und er selber wußte auf die besorgten und herzlichen Fragen seiner Vertrautesten! nichts anzuführen, während er die Veränderung selbst nicht im entferntesten abzuleugnen suchte. Als im Jahre 1850 nach achtjähriger Ehe Heriberts Frau starb, machte das Leiden derartige Fortschritte, daß man allen Ernstes das Hervorbrechen einer Geistesstörung fürchtete. »Laß mich gehen, laß mich gehen,« sagte der Kranke ungeduldig, wenn der Freund ihn gelegentlich aus seiner Vereinsamung hervorzulocken und in seinen glücklichen häuslichen Kreis hinüberzuführen unternahm. »Ich würde mir wie ein Schatten in eurem Frieden und Glück erscheinen, ja, wie ein wirklicher Störer. Ich habe kein Verständnis mehr für Frieden und Glück – und keinen Glauben daran, weder für mich selbst, noch für andere. Und Erheiterung und Ermutigung vermag ich am allerwenigsten zu bieten. Die schwarze Sorge bleibt stets hinter mir.«

Der Erheiterung und Ermutigung bedurfte zu dieser Zeit allerdings auch der Präsident Baron von Warneck. Denn seit Blanka geboren war und die Mutter noch im Wochenbett den nach kurzer Krankheit unvermutet erfolgenden Tod von Heriberts Frau vernommen hatte, fing sie an zu siechen und vermochte ihre früheren Kräfte nicht wiederzufinden. Erst eine Badekur im nächsten Sommer schien in ihren Folgen wirklich Erfreulicheres hoffen zu lassen. Sie kehrte gestärkt zurück und ging zur weiteren Kräftigung mit ihren Kindern für die nächste Zeit zu den Eltern nach Menkendorf. Der Gatte, durch seine Amtstätigkeit an einer längeren Entfernung von der Stadt verhindert, besuchte die Seinen von Zeit zu Zeit.

So kam er denn auch in den ersten Augusttagen wieder einmal nach Menkendorf hinauf und ging, da er diesmal zwischen Ankunft und Abreise ein paar ganz freie Tage vor sich hatte und ein leidenschaftlicher Jäger war, am Morgen des ersten schon ziemlich früh mit seiner Flinte hinaus, und zwar allein –, da der ›Junker‹, der den Schwiegersohn sonst meistens zu begleiten pflegte, heut anders beschäftigt war. Er wolle nur einen Rehbock zu schießen suchen, um für den nächsten Tag einen Braten in die Küche zu liefern; und da er die Reviere und den Wildstand genau kenne und ein sogenannter glücklicher Jäger wäre, so könne man ihn mit ziemlicher Bestimmtheit noch vor dem Mittagessen wieder zurück erwarten, erklärte er seiner Frau noch vorm Aufbrechen.

Er kam indessen nicht, und als er auch zur Kaffeestunde, wo Frau von Gunsleben die Hausgesellschaft versammelt zu sehen liebte, noch immer nicht erschienen war, fing besonders seine Gattin an, besorgt zu werden. Man begann nach ihm zu fragen und sich überall umzusehen. Es war aber der reine Zufall, daß ein paar Holzarbeiter einige Stunden später den Jäger fanden: er war – tot! Ein Schuß in die linke Seite hatte das Herz getroffen und vermutlich den augenblicklichen Tod zur Folge gehabt. Man stand vor einem Rätsel: An Selbstmord war nicht zu denken, und ein Unglück war gleichfalls ausgeschlossen; nicht nur die Wundstelle sprach dagegen, sondern auch der Zustand der Waffe; der Büchslauf enthielt noch die Kugel und war nicht abgeschossen worden, aus dem Flintenlauf war der Schrotschuß allerdings heraus, aber die Wunde rührte nicht von einem solchen her. Ein unglücklicher Zufall von fremder Seite ließ sich gleichfalls nicht annehmen, – man wußte von niemand, der an diesem Tage mit einer Flinte durch die Reviere gestreift sein könnte. Und so mußte man wohl, wie sehr man sich auch dagegen sträubte, endlich an ein Verbrechen glauben. Es wurde aber bekanntlich bis heute nicht aufgeklärt, ja, es war niemals auch nur zu einem wirklichen Verdacht wider irgend jemand gekommen.

Die Gattin, die das Geschehene leider zuerst und ohne Schonung erfuhr, starb am Begräbnistage des Gatten und ließ ihre armen kleinen Kinder völlig verwaist zurück. Es waren die schwersten Tage, die Detlef Gunsleben bisher mit den Seinen zu verleben hatte. Seine Mathilde war, ohne daß er davon viel Wesens gemacht, sein ganzer Liebling gewesen und sein Schwiegersohn, besonders in den letzten Jahren, ganz und gar ein Mann nach seinem Sinne. Nicht weniger schwer war der Schlag für den Freund in der Stadt.

Rat Wehrenberg geriet auf die Nachricht in einen Zustand dumpfen und stumpfen Hinträumens, der wiederum das Schlimmste für seinen Geist befolgen ließ. Dazwischen kamen einzelne Augenblicke einer düstern Verzweiflung, wo er sich beinahe selber der Mitschuld an dem Unglück anklagte. Ein paar Tage vor Warnecks Abreise hatte er nämlich das ermutigende Zureden des Freundes in unfreundlichster Weise zurückgewiesen und war in tiefer Verstimmung von ihm geschieden. Die Reise sollte eigentlich eine gemeinschaftliche sein, da Heribert gleichfalls einmal seine Schwiegereltern besuchen und des ›Junkers‹ Geburtstag mitfeiern wollte. Nun blieb er jedoch zurück und machte für sich allein einen andern kurzen Ausflug. »Wäre ich mitgegangen, so möchte das Unglück verhütet worden sein. Ob auch kein Jäger, würde ich den Freund doch auf diesem Gange wohl begleitet haben, und die Tat wäre diesmal wenigstens unterblieben.« Der Arzt, gegen den dies geäußert worden war, meinte, man hätte fast glauben mögen, daß für Wehrenberg die Tat und vielleicht selbst der Täter nicht ganz so rätselhaft seien wie für das Gericht und alle übrigen. Wie dem aber auch gewesen sein mochte, er ließ darnach nichts weiteres verlauten, ja, er sprach von dem Fall und selbst über den Toten überhaupt nicht mehr. Trotzdem überwand er den Verlust nicht. Er zog sich immer finsterer in sich zurück und brach fast allen Umgang ab. Dabei schwanden seine Kräfte mehr und mehr, und schon im nächsten Sommer erlöste auch ihn der Tod von seinem traurigen Dasein. Niemand zweifelte daran, daß der Gram sein Ende beschleunigt habe. Man halte es ja erlebt, daß er, als Silberg ihn zum Weihnachtsfest schier gewaltsam mit sich nach Menkendorf führte, wo er die verwaisten Kinder des Freundes wiedersah, in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach und aus dem versammelten Kreise entfloh, und auch an den folgenden Tagen ihrem Anblick auswich. Ein halbes Jahr später war, wie wir wissen, sein eigener Knabe Alfred in der gleichen Lage droben im Pfarrhause bei den Großeltern, wie Robert und Blanka auf dem Hofe.

Es ist eine nicht seltene Erfahrung, daß Kinder, die ihre Eltern in allerfrühster Jugend und obendrein gar durch ein Unglück verloren haben, unter diesem Verluste seelisch zu leiden beginnen, trotz der liebevollsten Hut und Pflege. Es werden dann meistens ernste und stille Kinder, und eine schöne Art von Melancholie webt sich selbst in den fröhlichsten Stunden leise um sie her. Bei Robert Warneck, dem derben Knaben, der bei der Eltern Tod eben sein drittes Jahr vollendet hatte, wurde dies weniger bemerklich, obgleich auch er zuzeiten, besonders früher, in der Menkendorfer Einsamkeit ein richtiger Träumer sein konnte. Aber desto deutlicher zeigte es sich an der um vieles zarteren und sanfteren Blanka, die an jenem Unglückstage wenig mehr als ein Jahr zählte. Von den Umständen, die den Tod der Eltern begleitet hatten, erfuhren die Kinder erst das Nötige, als sie in die Stadt kamen und der Gefahr ausgesetzt waren, die Trauernachricht durch Zufall und unvorbereitet von Fremden zu vernehmen.

Blanka erblühte zwar auf das anmutigste, nicht gerade zu einem kraftvollen, aber immerhin zu einem durch und durch gesunden jungen Mädchen; sie flog sozusagen treppauf, treppab, und nicht selten summten die seinen Lippen ein heiteres, kleines Lied –: laut jedoch wurde das Mädchen auch in den heitersten Stunden nicht, – dergleichen blieb ihr so fremd wie alle Unruhe und Hast, und der eigentliche und hauptsächliche Ausdruck ihrer ganzen Erscheinung und ihres gesamten Wesens blieb nach wie vor jene leise Melancholie, die mit ihr geboren zu sein schien und daher in den Augen nicht nur der Ihren, sondern auch eines jeden, der sie voll Liebe beobachtete, wie ein untrennbarer Teil de? liebreizenden Ganzen erscheinen mußte.


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