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Dreißigstes Kapitel

Einer von der Bande

»Nun, Mamsellchen, wie steht's?« Doktor Busch schüttelte dazu der ihm die Tür öffnenden Renate kräftig die Hand. »Denken Sie sich, Herr Doktor,« sagte die Gefragte leise und wichtig und fast gleichzeitig mit dem Frager, »sie will fort! man hat ihr von Hause versöhnlich geschrieben und –«

»Ja, Mamsellchen, ich kann diesen Entschluß eigentlich nicht tadeln. Wenn die Eltern wirklich billig sind, so ist Fräulein Mereau dort zweifellos besser aufgehoben als hier. Für sie selber macht mir die Reise auch kaum Bedenken – sie dürfte ihr im Gegenteil entschieden wohl tun. Mit dem Kinde, – das wäre eher zu überlegen. Na, ich will sie zuerst einmal sehen und sprechen. Ist sie drinnen?«

»Ja, Herr Doktor, und schon an ihrem Koffer. – Aber noch einen Augenblick, Herr Doktor, ich habe eine große Bitte!«

»Nu man los!«

»Wenn Sie hernach noch ein paar Minuten Zeit haben, so sehen Sie einmal dort im Hinterhaus, zwei Treppen hoch, bei dem Tagelöhner Balz ein. Heut morgen hat die Frau mich festgehalten und angefleht, daß ich Sie einmal zu ihr schicke, Herr Doktor. Es liege seit vierzehn Tagen ein Mensch bei ihnen in der Abseite, – ich glaube, es ist ihr Verwandter, – er habe sich das Bein verletzt. Zuerst sei's nichts gewesen, dann aber immer schlechter geworden. Nichts schlage an. Und nun wolle ihr Mann ihn hinaus haben, und es komme ihr doch vor, als ginge es mit ihm zum Sterben –«.

»So, so, weshalb ist er nicht ins Spital gegangen?«

»Ich weiß nicht! Aber, Herr Doktor, wenn Sie einen Augenblick Zeit haben –«

»Nun, das versteht sich von selbst. Jetzt aber zu unserer Reiselustigen.« – –

Als er nach einer halben Stunde wieder herauskam und Renate ihn aus der Tür ließ, blieb er bedächtig bei ihr stehen. »Mamsellchen, wie ist's, möchten Sie Fräulein Rose in ihre Heimat begleiten?« Es flog ein leises Rot über das blasse Gesicht und die Lippen zuckten. »Ich weiß nicht, Herr Doktor,« brachte sie endlich hervor, »ich bin nicht ganz von mir allein abhängig –« und sah den Arzt mit großen verlorenen Augen an. – »Nun, Kind, das müssen Sie denn mit sich ausmachen, und jetzt flugs ins Hinterhaus, zwei Treppen hoch!«

Die Sauberkeit des Vorderhauses war in dem anstoßenden kleinen Hinterbau nirgends zu entdecken. Schon unten starrte einen überall die Armut mit ihren üblichen Begleiterscheinungen an. Und je höher man emporstieg, desto mehr gab es davon zu sehen, zu hören und – riechen. Dem Arzt krampfte sich das Herz zusammen ob all dieses Menschenunwürdigen. Aber er hatte keine Zeit, jetzt »weltverbessernden« Gedanken nachzuhangen, denn schon drang ein grausiges Stöhnen und Jammern, vermischt mit einem teuflischen Fluchen, an sein Ohr ...

Verlassen wir das Bild! Und wozu auch am Ende sich unterfangen, etwas zu schildern, dem man mit Worten allein ja doch nicht Wirklichkeitstreue zu bieten vermag? – – –

»Sagtet Ihr uns damals nach dem Anfall auf Alfred nicht, daß der Angreifer vermutlich ernstlich verwundet sein müsse?« fragte am Abend dieses Tages Doktor Busch den Wirt »Zu den St. Jakobsbrüdern« leise.

»Na freilich, –« entgegnete Peter Jansen sogleich und runzelte die Stirn, »habt Ihr den etwa gefunden? Ich horche mir die Ohren ab und gucke mir die Augen aus.«

»Ruhe, Mann, Ruhe! Ich habe einen gefunden mit einer Wunde am Bein, die ihm vor ein paar Tagen nur das Bein gekostet hätte, jetzt aber das Leben kosten wird. Er mag dreißig Jahre zählen und hat blondes Haar, Gottlieb nannte die Frau ihn –«

»Das ist er, – Gottlieb Kraus, – nun hab' ich ihn! Seht, Herr, was mich so fuchtig macht, das ist nicht der Schuft und sein Verbrechen, sondern daß er mir aus den Händen kam, obgleich ich hier besser Bescheid weiß als die Polizei. Er ist schon der Zweite, bei dem es mir so ging, und das darf ich nicht leiden! – Wo steckt er?«

»Bei einem Tagelöhner namens Balz –«

»Wie? Im Hinterhaus, wo vorn die französische Dame wohnt? Alter Esel, der ich bin, – hätte selber drauf kommen können! Das Weibsbild des Balzen muß mit ihm so was wie Geschwisterkind sein! – Na, es ist eins! – Wir haben ihn jetzt!«

»Redensart! Den hat keiner mehr als der Tod; ja, ich glaube nicht einmal, daß es auch nur zu einem Bekenntnis reicht; als ich ihn eben zum zweitenmal sah, war er schon ein gut Stück weiter auf seinem Wege als heut morgen, 's ist ihm übrigens zu gönnen. Denn wenn man so etwas als Strafe ansehen könnte, so hätten die Schmerzen den armen Teufel für ein Dutzend Todsünden noch über alles Maß bestraft. Das erbarmt mich, aber was mich grimmig macht zum Fluchen, das ist die Erbärmlichkeit der Menschen. Er liegt dort in Schmutz und Verkommenheit, und der Balz scheint eine Bestie zu sein. Die Polizei zuckt die Achseln und weist mich an den Herrn Spitalarzt, und der Herr Spitalarzt zuckt die Achseln und redet von beschränktem Platz und ersucht mich, wenn's denn doch schon bloß noch um Stunden sich handle, den Patienten in Frieden und unter meiner Obhut sterben zu lassen, 's ist zum Teufelholen, Peter!«

Wir haben schon ein paarmal erlebt, daß Peter Jansen im Innern doch nicht ganz so rauh und hart war, wie er wollte, daß man es wahrhabe. »Da kann ich helfen,« sprach er jetzt auch und stand auf, »habt einen Augenblick Geduld, Herr. Ich bin in zehn Minuten wieder da.« Als er zurückkam, brachte er gute Nachricht, und die Abholung des Sterbenden erfolgte sofort.

Im Spital lag der Mann fast regungslos; nur in seinem Gesichte zuckte es zuweilen, und einzelne abgerissene Wörter und Namen, die von Zeit zu Zeit über seine Lippen glitten, zeigten, daß der Geist noch tätig war. Für die Zuhörer, darunter auch Assessor Wehrenberg war, ergab sich indessen kaum etwas anderes, als daß der mit dem Tode Ringende sich mit Menkendorf und seinen Bewohnern zu beschäftigen schien. Einen »Jan« und auch den unscheinbaren alten Drews nannte er mehrmals, ja, diesen jedesmal mit einer Art von Ingrimm.


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