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Anfang Mai traf Plaschke mit seiner Tochter in Bremen ein.
Ihr Mann hatte vorläufig die Klage auf Herstellung der häuslichen Gemeinschaft eingeleitet. Jutta war entschlossen, sich verurteilen zu lassen, damit die Scheidungsklage vor sich gehen konnte.
Bisher hatte Plaschke seine Tochter in allem gewähren lassen. Er verstand ihren Stolz zu würdigen. Er sah auch ein, daß eine Trennung der Ehe notwendig war. Aber daß durch den Prozeß ein Makel auf sein Kind fiel, das wollte er denn doch nicht dulden.
Zweimal fuhr er darum nach Berlin und hatte lange und ernste Auseinandersetzungen mit seinem Schwiegersohn.
Das zweitemal traf er dort auch mit Bodo von Succo zusammen, der zu seinem Neffen gereist war, um ihm in dieser peinlichen, die ganze Verwandtschaft in helle Aufregung und Entrüstung versetzenden Eheirrung beizustehen. Plaschke gegenüber zeigte sich der alte Herr tadellos höflich.
Rechtlich und auch moralisch lag seiner Meinung nach der Fall durchaus nicht so klar, daß Gustav seiner Ehefrau Untreue vorwerfen konnte. Die Histörchen, die ihm inzwischen auf dem Umweg über verschiedene Gruppen der Verwandtschaft zu Ohren gekommen waren – seine Frau wußte sie von Schaufferts, die hatten sie von Zabells, und denen waren sie von Frau von Druhsen erzählt worden – boten ja allerdings reichlich viel Angriffspunkte. Aber es erschien ihm in keiner Weise wünschenswert, daß Gustav die breite Oeffentlichkeit mit seinen Eheangelegenheiten unterhielt.
Mit dem alten Herrn kam Plaschke daher auch viel schneller zu einer Verständigung. Und das Wort, das Bodo von Succo am Schluß dieser Aussprache zu seinem Neffen sagte, schien ihm die Lage am klarsten zu beleuchten.
»Nimm mir's nicht übel, Gustav, aber was Dich so aus heiler Haut, aus heiterem Himmel, urplötzlich in diese krankhafte Aufregung versetzt hast, das war im großen und ganzen ein Anfall von – Tropenkoller!«
Gustav ward noch immer von seinen Zweifeln hin und her gerissen. Die gekränkte Eitelkeit, die Eifersucht, auch die noch nicht erloschene sinnliche Erregung peinigten ihn und machten ihn urteilslos.
Plaschke hielt eine weitere gütliche Verhandlung mit seinem Schwiegersohn für unangebracht. Er verabschiedete sich von ihm mit den Worten: »Du hast als Jurist gewiß schon in tausend verzwickten Fällen Scharfblick und Scharfsinn bewiesen, lieber Gustav. Aber hier versagt Deine Logik vollkommen. Wirklich, mein Teurer. Eben weil sich's um Deinen eigenen Fall handelt.«
»Du mußt Dir doch immer vorstellen,« führte Onkel Bodo hernach, als sie allein waren, weiter aus, »Du hast drei Jahre lang das unbedingte Vertrauen zu ihr gehabt. Du wußtest doch, wer und wie und was sie war. Und nun vergleiche: als Du in Marseille an Bord gingst, wäre Dir doch die bloße Vorstellung eines solchen Verdachts wie eine Ungeheuerlichkeit erschienen, nicht wahr – und wenige Tage darauf sollte sie mit einemmal so ein ganz anderer Mensch geworden sein, der auch nicht die entfernte Aehnlichkeit mit der Frau mehr besaß, für die Du vorher womöglich durchs Feuer gegangen wärst?«
Erschöpft gab Gustav zu: »Ja, ja, ja, es war ein Wahnsinn. Nenne es auch Tropenkoller, wenn Du durchaus willst. Die heiße Luft dort – ich meine das mehr bildlich – ich war ja ganz fassungslos vor Kummer – und auch vor Wut, vor blinder Wut … Aber Du weißt nicht, was das heißt, so vom Klatsch aufgestachelt zu werden. Es ist entsetzlich. Darüber kann kein Mann so ohne weiteres hinweg.«
»Aber sobald man's als elenden Klatsch erkannt hat, Gustav, muß man darüber stehen. Wohin kämen wir sonst? Ohne Vertrauen erniedrigt sich die Ehe. Unsere Ehe. Die deutsche Frau ist keine Haremsschöne, der man Wächter vor die Schlafzimmertür stellt.«
»Das hab ich mir doch alles selbst gesagt, tausendmal. Es wäre ja sonst zum Verzweifeln.«
»Nun also. Dann darfst Du Deiner Frau, ihrem Vater – und vor allem Dir selber – auch das nicht antun, daß Du die Sache vor Gericht in eine niedrige Sphäre rückst.«
Gustav rang mit sich. »Und die öffentliche Meinung? Werden sie nicht alle dafür sorgen, die Druhsens und Stangenbergs e tutti quanti, daß ausgesprengt wird: na ja, sie hat ein Abenteuer gehabt, aber der Herr Gemahl hat's nicht so genau genommen? Hat das einfach eingesteckt. Hat's vertuscht. Es ist ja himmelschreiend. Was für eine Waffe hab ich dagegen? Man macht sich über meine Diskretion bloß lustig. Es glaubt mir ja keiner, daß ich – im Grunde – wenigstens ich persönlich … nun ja, daß ich von ihrer Schuldlosigkeit doch immerhin überzeugt bin.«
Sein schwankender Ton, die Unsicherheit seiner Miene, seiner Haltung straften ihn Lügen. Aber Onkel Bodo hielt ihn sofort bei diesem Worte fest.
»Gottlob. Das ist doch die Hauptsache, mein Junge. Da wär's ja geradezu ein Frevel, wenn Du immer noch auf fremde Einflüsterungen hören wolltest.«
»Das sagst Du, Onkel Bodo? Was hast Du mir stets vorgehalten, sogar als ich noch ein ganz junger Mensch war? Halte bloß daran fest, daß wir Succos einen Besitz haben, den uns kein Bankkrach rauben kann: das ist unser Wappen, unser Name.«
Onkel Bodo nickte. »Ja. So stehe ich auch heute noch. Aber wenn man in solche Schwierigkeiten mit sich selber, innerhalb seines Hauses, gerät; dann ist dem hinzuzufügen: durch Lärmschlagen nach außen hin wird das Wappen nicht blanker.«
»Also soll ich über alles schweigen? Womöglich noch einen Heiligenschein um ihr Haupt dichten? Nein – eine Genugtuung muß ich haben. Denn ich hasse sie. Sie hat mich so unglaublich tief verletzt. Dieses unbedeutende junge Ding. Wenn ich dabei bedenke: wie ich mich ihrer damals angenommen habe, was ich durchgemacht habe, was ich auch Euch allen gegenüber hab' ausfechten müssen, um sie heiraten zu können. Nein, nein, nein, Onkel Bodo, Du ahnst nicht, wie schwer es ist, sich so getäuscht zu sehen – und doch noch Gentleman bleiben zu sollen.«
»Du bist dazu verpflichtet. Deinetwegen. Unsertwegen. Nicht Deiner Frau wegen.«
Er nickte. Dann atmete er tief auf und sagte entschlossen: »Nicht ihretwegen. Gut. Du hast recht.«
Onkel Bodo erledigte darauf mit Juttas Vater die Vereinbarungen. Er war heilfroh, daß die Sache sich nun möglichst geräuschlos abwickeln konnte. Und leidlich befriedigt reiste er von Berlin ab.
*
Jutta hatte im Verlauf des Sommers und Herbstes mehrere Briefe erhalten, die einen arabischen Stempelaufdruck trugen. Sie waren in Bedracheïn aufgegeben und kamen zweifellos von ihrem Freund, dem ›Aegypter‹. Aber sie öffnete sie nicht, sondern legte sie in ihren Schreibtisch. Unerbrochen lagen sie dort noch, als ihr Vater sich im Winter zur nächsten Inspektionsreise nach Singapur rüstete.
Abmachungen trafen sie nicht miteinander. Plaschke war viel zu feinfühlig, um auch nur mit einem Wort zu fragen, was er dem Absender jener Briefe sagen sollte, wenn er ihn etwa zufällig sah.
… Denn er machte ja wieder Halt in Kairo …
So ließ er denn schweren Herzens seine Tochter einsam in Bremen zurück. Mit ihm zu fahren, dazu war sie nicht zu bewegen. Die Beschleunigung des Prozesses forderte ihre Anwesenheit in Deutschland – und ihr Ehrgeiz war's, die hier sich ihr bietenden guten Lernmöglichkeiten wahrzunehmen, um während dieses Winters noch allerlei Lücken in ihrem Wissen auszufüllen. Sie war ja so jung in die Ehe getreten, und das einzig aufs Aeußere gerichtete Leben, dem sie in der kleinen Stadt verfallen war, erschien ihr nun wie eine verlorene Zeit, die sie möglichst rasch wieder einbringen mußte.
Dem gesellschaftlichen Verkehr, der sich ihr trotz ihrer augenblicklichen unklaren Lage auf Grund des Ansehens und der Bedeutung ihres Vaters in Bremen leicht geboten hätte, wich sie aus. Neue Menschen wollte sie nicht kennen lernen. Der kleine Junggesellenhaushalt ihres Vaters war ihr behaglich und genügte ihr. In der Stille, so hoffte sie, brachte sie am leichtesten wieder Ordnung in ihre Gedanken.
Natürlich war von dem Klatsch über ›ihren Roman‹ auch bis hierher in die fremden Kreise dies und das durchgesickert. In dem Zirkel, in dem sie Italienisch, Kunstgeschichte und Literatur trieb, beging ein schnippisches Haustöchterchen sogar gelegentlich einmal die Taktlosigkeit, sie auf ihre Scheidungsgeschichte anzusprechen: – »das wäre doch furchtbar interessant«. Aber da sie dauernd unnahbar blieb und in ihrer selbstgewählten Verbannung jede Möglichkeit zu neuer Nachrede abschnitt, so schlief der Klatsch allmählich wieder ein.
Anfang Mai erging das Urteil. Nun war sie frei, früher als erwartet. Erst für Mitte Juni hatte sie mit ihrem Vater, der dann von seiner Inspektionsreise zurückkehrte, eine Begegnung in einem kleinen Berghotel des Engadin verabredet.
Und nun, da sie wieder den Namen ihres Vaters angenommen hatte, öffnete sie endlich die Briefe, die ihr einsamer Freund aus Bedracheïn an sie gerichtet hatte. Ihre Anzahl hatte sich im Verlauf der letzten Wochen vergrößert, trotzdem bisher noch keine Antwort darauf ergangen war.
Sie las sie bewegt. Greifbar deutlich stand die stolze, aufrechte Gestalt des Schreibers vor ihr, und die stolze, aufrechte Sprache fand in ihrem Herzen einen Widerhall.
Er wußte um alles. Er hatte ihren Vater gesprochen. Er wußte, daß sie im Juni, wenn sie mit ihrem Vater in dem kleinen Berghotel im Engadin zusammentraf, nicht mehr Gustav von Succos Frau sein würde. Und seine Bitte lautete: ihm zu gestatten, daß er sich ihrem Vater auf der Heimreise nach Europa anschloß – daß er ihr in der reinen Bergluft da oben gegenübertreten durfte …
Sie hatte gefühlt, daß es so kommen mußte, sie hatte erwartet, daß er sie darum bitten würde. Und doch sträubte sich nun etwas in ihr. Ein schimpfliches Wort, das ihr Gatte bei der letzten Begegnung gesprochen hatte, schob sich ihr immer wieder in die Vorstellung von dieser Begegnung. Ihre Frauenwürde ward ja Freiwild für alle, die damals den Verdacht geteilt hatten, wenn die Nachricht von ihren neuen Beziehungen zu Vetter Fritz die Runde machte. Es war, als ob dann eine Kette für alle Zeit sie an das vernichtende Urteil schmiedete.
Und dabei lehnte sich in ihr etwas auf gegen die Selbstverständlichkeit, womit ihr Freund Beschlag auf sie legen wollte. Er war ihr Schicksal geworden. Gewiß. Aber konnte er denn ahnen, wie ihre Erlebnisse sie innerlich gewandelt hatten? Wollte er ihr nur Genugtuung geben? Oder wußte er, wie tief er auf ihre innere Welt eingewirkt hatte? Woher konnte er's wissen?«
In diese unklare Bangigkeit, die einen letzten Rest Succoschen Erbes bedeutete, und in diesen stolzen Trotz, den ihr Vater ›ganz Jutta‹ genannt haben würde, fiel eine seltsame Begegnung.
Eines Abends meldete das Hausmädchen eine fremde Dame, die ihren Namen nicht nennen, aber durchaus die gnädige Frau sprechen wollte.
Jutta vermutete eine Bittstellerin, die Verwandte irgendeines Lloydbeamten, die um ihre Fürsprache bei der Inspektion nachsuchen wollte. Bei dem über alle Erdteile reichenden großen Betrieb wies ihr Vater derlei Umgehungen des Dienstweges stets ab. Unmutig – weil ihr's leid tat, von vornherein eine Hoffnung zerstören zu müssen – ließ sie die Fremde in das Arbeitszimmer ihres Vaters eintreten.
Die Abendsonne schien in das Gemach, das durch die Schiffsmodelle, die Karten, die Mitbringsel aus aller Welt, am meisten von allen Räumen des Hauses das Gepräge seemännischer Behaglichkeit trug.
Von draußen öffnete das Mädchen die Tür, und ziemlich hastig – ein wenig scheu sich umblickend – kam eine ältere Dame im Reiseanzug herein. Sie schlug erst jetzt den perlgrauen Schiffsschleier in die Höhe. Ein faltenreiches, aber feines, schmales Antlitz kam zum Vorschein. Aengstlich schweifte der Blick der großen Kinderaugen, die aus dem seltsam zarten, vielleicht etwas altjüngferlichen Gesicht lugten, über Jutta hin und nach der zweiten Tür.
»Bist Du allein, Jutta?« fragte eine matte Stimme, fast flüsternd.
Es war Tante Eveline.
Am Fenster saß Jutta dem scheuen Besuch dann gegenüber und suchte sinnend, schweigend und lauschend das Rätsel zu lösen, das Fritz von Succos Mutter ihr nun seit vielen Monaten bot.
Die alte Dame war nur auf einen Husch hier, wie sie sagte. Sie hatte einen Zug übersprungen. Herta von Schauffert war mit der kleinen Hede und ihrem Kinderfräulein nach Langeoog gereist. Auf Onkel Bodos Wunsch sollte sie der kränklichen jungen Frau, solange deren Mann auf dem Truppenübungsplatze weilte, auf Langeoog Gesellschaft leisten. Es hatte sie ja schon seit dem vorigen Frühjahr brennend verlangt, mit Jutta zu sprechen. Heute endlich war ihr der Zufall günstig. Sie war glücklich, unsagbar glücklich, daß sich's so traf.
»Einmal – im vorigen November – wollte ich Dir schreiben, Jutta. Aber dann fand ich doch den Mut nicht. Sie hätten mir's alle natürlich sehr übel genommen, wenn es herausgekommen wäre. Du darfst mir nicht böse darum sein. Ach, meine liebe Jutta, Du ahnst ja nicht …«
Und die großen, ängstlichen Kinderaugen der nervösen kleinen alten Dame füllten sich mit Tränen – ein Spitzentaschentüchlein fand den Weg aus dem Pompadour zu den schwimmenden Augen, darauf zu der schmalen, sich rasch rötenden Nasenspitze – und das ruckweise, leise Aufschluchzen löste sich in ein langes, leises, ergiebiges Weinen.
»Ich – bin – ja … so furchtbar unglücklich, kleine Jutta … Du ahnst ja gar nicht …«
Jutta fand noch immer des Rätsels Lösung nicht, sie sah auch keinen Weg, hier zu raten und zu trösten. Sie wußte nur, daß dieses Weinen eine Anklage gegen das Haus Succo bedeutete. Und natürlich setzte die alte Dame voraus, daß sie, die Ausgestoßene, dafür am ehesten Verständnis zeigen würde.
Aber dazu konnte Jutta keine Stellung nehmen. Des vereinsamten ›Aegypters‹ Mutter war ihr noch immer fremd.
Das Spitzentaschentüchlein war jetzt ganz naß geworden; es hatte sich in den nervösen Fingern der alten Dame zur Kugel geballt. Allmählich versiegte das leise Weinen. Aber die Stimme blieb matt und tonlos. Etwas Wundes lag darin.
»Du darfst mir nicht böse sein, Jutta, daß ich mich so hingebe. Es geschieht sonst nie. Ich habe die ganze Zeit die Zähne zusammengebissen und hab's tapfer hinuntergewürgt. Aber bei Dir kann ich mich einmal ausweinen. Nicht wahr, Du verstehst mich? Eine solche Sehnsucht hab' ich gehabt, zu Dir zu kommen. Du hast ihn lieb. Zu Dir kann ich sprechen, wie mir's ums Herz ist. Von Dir kann ich endlich einmal hören … Sonst ist ja nie von ihm die Rede. Und seitdem nun erst das geschehen ist … Sie haben furchtbar böse über Dich gesprochen, Jutta. Es hat mir sehr, sehr wehe getan. Aber ich habe mir immer gesagt: Ach, wenn ich sie doch nur selbst sehen und sprechen könnte! – Siehst Du, und nun hat sich's so getroffen … Und nun sitze ich hier und weine, und die Zeit vergeht, ich darf den nächsten Zug nicht versäumen … Aber ich bin so aufgeregt, da, fühle nur mein Herz schlagen … So ist es jetzt immer gewesen. Eigentlich sollt' ich nach Nauheim, sagt der Arzt, er war sehr ungehalten. Aber wo Herta doch so schwächlich ist – man kann sie mit dem Kind dort nicht allein lassen, meint Onkel Bodo. Da hab' ich ihm lieber gar nichts von Nauheim gesagt. Aber jetzt erzähle doch, Kind. Hast Du ein Bild von ihm? Du mußt mir alles, alles, alles sagen … Komm, Jutta, ach bitte, laß mir Deine Hand. Was hast Du für wundervolle, kluge Augen. Das hab' ich damals auf der Hochzeit gar nicht bemerkt … Warum bist Du so still, Jutta? Hast Du mir etwas übel genommen? Ich bitte Dich innig, Jutta, sei gut zu mir, tu mir die Liebe an … Ich hab' ja gar keinen Menschen, keinen einzigen Menschen hab' ich auf der ganzen weiten Welt!«
Und nun schluchzte sie wieder. Ganz leise schluchzte sie in ihr nasses Spitzentaschentuch. Aber ihr Kopf fuhr schreckhaft herum, als an der Wand ein Uhrwerk anschlug: sie hatte doch nur so wenig Zeit, Minute um Minute verging, und sie fanden nicht den Weg zueinander!
Juttas ernster, beobachtender Ausdruck war immer nachsichtiger geworden. Jetzt regte sich endlich auch etwas wie Mitleid in ihren Zügen. Aber ihr erstes Wort war doch eine Anklage.
»Du brauchtest nicht allein zu stehen auf der Welt, Tante Eveline. Der prächtigste Mensch, der mir je begegnet ist – vielleicht außer meinem Vater – der könnte heute Dein Freund sein.«
Sie nickte und seufzte müde. »Heute – ja. Aber damals war er ein Sorgenkind. Ach Jutta, was ahnst Du denn von meinen Kämpfen. Ich mußte ja immer schweigen, alles in mich hineinwürgen. Die Frauen von heute sind wohl anders. Aber woher sollt' ich denn den Mut nehmen? Ich hatte nichts – ich war nichts – sie schickten mich von Haus zu Haus, wo in der Verwandtschaft ein Kleines erwartet wurde, oder wo eine Ausstattung zu machen war … Und sie waren ja auch wirklich gut zu mir. Ich hab' nie Not zu leiden gehabt, nie. Oft hätt' ich gewünscht … Aber das sind alte Zeiten, Jutta. Traurige alte Zeiten. Ich hab' noch nie zu jemand geklagt. Du bist die erste, Jutta. Weil ich mir sage: Du kannst das alles verstehen. Und wenn ich eine Schuld gehabt hab', dann kannst Du verzeihen.«
Dem Häuflein Elend, das da vor ihr saß, hatte Jutta in der Tat schon fast verziehen.
Und nun endlich kam sie zum Schildern. Oder es war mehr ein Antworten auf hundert sprunghafte, ungeduldige, oft wieder bang zögernde oder teilnehmende Fragen.
Aber aus der verworrenen, hundertfach unterbrochenen Erzählung wuchs doch eine plastische Erscheinung heraus. Ehrlicher Stolz schilderte den Mann gewordenen Tunichtgut. Und fast ehrfürchtig falteten sich die schmalen Hände der Hörerin über dem zusammengepreßten Spitzentaschentuch.
Vielleicht fehlte der alten Dame noch eine rechte Vorstellung von den äußeren Verhältnissen da unten am Nil. Auch über die Einkünfte, kurz so über die ganze Art dieser eigenartigen Stellung beim Khedive hätte sie wohl gern noch Näheres erfahren. Doch darüber wußte Jutta ihr wenig zu sagen.
Immerhin war's der alten Dame, als ob jemand ihr krankes, immer schreckhaft zuckendes Herz mit linder Hand streichelte. Dieses arme alte Mutterherz, das so lange Jahre hatte schweigen müssen, das niemals, niemals gewagt hatte aufzuschreien, auch wenn man's mißhandelte …
»Ach Jutta, liebe, liebe Jutta – daß ich das nun doch noch erlebe – daß ein fremder Mensch so gut ist und so von ihm spricht! So!«
Und nun sank der schmale, feine Kopf des Besuchs auf Juttas Schulter, und allmählich fand sich etwas wie stiller Jubel in die großen Kinderaugen, an deren Wimpern noch die Tränen hingen. Tante Evelinens Ton ward ruhiger. Eine gewisse Zärtlichkeit regte sich.
»Sag' mir alles, Jutta. Wir sind von einem Geschlecht, nicht wahr. Wir brauchen kein Geheimnis vor einander zu haben. Wirst Du seine Frau werden? Du hast ihn doch lieb, nicht wahr? Ihr habt Euch – gewiß – sehr lieb gehabt … Ach, sag' mir alles, Jutta. Ja? Willst Du mir alles sagen?«
Juttas Antlitz hatte sich verschönt in der Erinnerung. Es war wie geadelt. Die kleinen, lachhaften, menschlichen Schwächen der alten Dame hatten die weihevolle Stimmung, die über sie gekommen war, nicht stören können. Groß und klar war der Charakter ihres einsamen Freundes wieder vor ihr erstanden. Seine Schulter ragte so hoch über die Häupter all der ängstlichen, kleinlichen andern. Und ehrlich stolz war sie auf ihn. Weil sie die einzige war, die ihn erklären konnte.
Aber nun ging es wie ein grauer Schatten über sie hin. Und ein Frösteln durchlief sie. Die armseligen paar Worte, die die weibliche Neugier da sprach, taten ihr bitter weh. Weil sie ihr verrieten: daß ihre Schilderung doch nicht imstande gewesen war, den ganzen großen Menschen seiner eigenen Mutter nahe zu bringen.
»Es ist nichts weiter zu sagen, Tante Eveline. Eine Liebe, wie Ihr sie Euch denkt, hat nicht zwischen uns bestanden.«
Eine Pause. Ein fast scheuer Augenaufschlag der alten Dame, die sich nun wieder langsam aufrichtete und langsam die Lehne ihres Sessels gewann. Und dann ein verzagtes: »Ich wollte Dich nicht kränken, Jutta. Sie glauben es ja alle. Aber wenn Du so ernst sprichst – Du zu mir – dann glaub' ich Dir's natürlich. Nur versteh' ich dann nicht alles … Warum Du all das gewagt hast, mein' ich.«
Nun lächelte Jutta. Auf die Frage ging sie nicht ein. »Ist Dir's nicht wertvoller, Tante Eveline, daß ein Weib Deinen Sohn verehrt, ohne sein Liebchen zu sein?«
»Ach Jutta – ich habe Dir wehgetan. Siehst Du, nun weiß ich's. Aber Du darfst nicht so streng mit mir ins Gericht gehen … Was soll ich darauf sagen? Du bist so ganz anders als all die andern Frauen. Gewiß, Du siehst klar und frei ins Leben und wie Du ihn mir geschildert hast, da hast Du ihn mir wie neu geschenkt. Ja, ich glaube wohl, verliebte Augen sehen nicht so. Nicht so gerecht, möcht' ich sagen. Aber leid tut mir's doch, Jutta …«
»Was tut Dir leid, Tante Eveline?«
»Ich stelle mir vor: wie wunderbar Ihr beide zusammenpassen müßtet. So stolz und tapfer, Ihr beide. Und wenn ich mir denke: es hätte schon damals jemand neben ihm gestanden, der so wie Du …« Sie seufzte tief und schwer. »Das ist nicht jedem gegeben. Man kann nichts anderes aus sich machen. Siehst Du: unsereinen zwingen die Verhältnisse – Ihr zwingt das Schicksal.«
Wieder schlug die Uhr. Tante Eveline hatte nur noch zehn Minuten. Die frühere Hast und Nervosität überkam sie wieder. Was wollte sie doch in der kurzen Frist noch alles sagen und fragen, erforschen und erbitten.
Sie standen nun beide mitten im Zimmer. Jutta suchte und suchte in dem schmalen Frauenantlitz nach wesensverwandten Zügen mit Fritz. Aber sie fand nichts davon, gar nichts.
Ihre Nachsicht war einem tiefen Mitleid gewichen. Sie sah wohl ein: dieser Aermsten war es freilich nicht gegeben, ihr Schicksal zu zwingen.
Mit gefalteten Händen hielt Tante Eveline vor ihr. »Jutta,« sagte sie bittend, »wie Du Dich auch entschließen magst – irgend einmal im Leben wirst Du ihn doch sicher wiedersehen, nicht?«
»Vielleicht, Tante Eveline.«
»Und dann – dann wirst Du ihm auch ein Wort von mir sagen – ja, willst Du?«
»Was soll ich ihm sagen, Tante Eveline?«
»Daß ich – daß ich Angst um ihn ausgestanden hab', all die Jahre über, immerzu …« Sie verschluckte die Tränen, und dann atmete sie tief auf. »Aber daß ich jetzt wie erlöst bin – wo ich Dich hab' reden hören über ihn. Er soll nicht schlecht von mir denken. Ich hab' auch nie schlecht von ihm gedacht. Ich hab' nur – nur Angst hab' ich um ihn ausgestanden.«
Jutta nickte, matt lächelnd. »Ja, Tante Eveline. Gern. Das werde ich ihm sagen.«
Die alte Dame blickte nach der Uhr. »Nun muß ich gehn. Lebwohl, Jutta. Ich danke Dir für alles, Jutta.« Beide Hände der jungen Frau nahm sie und preßte sie an sich. Ganz leise, fast tonlos flüsterte sie dabei: »Und mach' ihn glücklich, Jutta. Du kannst es. Und Du sollst es. Du bist eigens in die Welt gekommen, um mit ihm glücklich zu sein. Ihr seid füreinander geschaffen. Sei nicht töricht, Jutta. Höre auf keinen andern. Die können nur immer wehren. Aber sein Glück muß man sich selber schaffen. Wenn man den Mut hat wie Du und wie er.« Sie küßte sie auf Mund, Schläfen und Augen und wandte sich zur Tür. »Lebwohl, Jutta.«
»Lebwohl, Tante Eveline.«
Hastig durchschritt die alte Dame den Korridor, sich wieder scheu umblickend, als wittere sie überall Verräter.
Und als sie die Klinke der Flurtür in der Hand hielt, wandte sie sich noch einmal gegen Jutta um. »Aber sag's sonst keinem Menschen, daß ich bei Dir war, Jutta. Du kennst sie ja – weißt ja, wie sie sind.«
»Keine Sorge, Tante Eveline,« sagte Jutta lächelnd.
Die Tür schloß sich. Hastig entfernten sich die Schritte. Jutta kehrte ins Zimmer zurück.
Lange blieb sie hier still stehen. Sie hörte noch die leise, schüchterne Stimme, das schmerzliche Weinen, sie sah noch das Aufleuchten in den Kinderaugen der alten Frau, – und die letzten Bitten klangen in ihr nach.
»Mach' ihn glücklich … Aber sag's sonst keinem Menschen …«
Es war jede Anklage aus ihrem Herzen geschwunden. Ein warmes, erlösendes Mitleid sprach in ihr. Und es weckte ein verzeihendes Lächeln.
»Arme Tante Eveline!« sagte sie vor sich hin.
*
Der Abend war hereingebrochen. Jutta trat ans Fenster und blickte in das letzte verglühende Sonnengold.
Sie wußte nun nach dieser Begegnung, daß sie den Verdacht der Succos nie, nie mehr entkräften würde, wenn sie ihrem einsamen Freund die Hand reichte. Der Verdacht war wie eine Kette, die sie ihr ganzes Leben lang tragen mußte. Schüttelt man's vom Nacken ab, dann heftet sich's an die Sohlen und folgt einem. Schließlich auch bis in den andern Erdteil.
Aber frei richtete sie sich auf und hob stolz die Stirn.
Man mußte es dem ›Aegypter‹ gleich tun. Der hatte ›sein' Sach' auf nichts gestellt‹. Er hörte das Urteil der Leute nicht mehr – weil er um ihr Verständnis für seine Dinge nicht mehr kämpfte. Seine leibliche Mutter hatte ihn für einen Verbrecher gehalten. Was tat das ihm?
Was tat es ihr, wenn ihr Frauenruf in diesem weiten Kreis zu Boden getreten ward?
… Soll ich klagen und verzweifeln, weil die in ihrer Beschränktheit nicht zu bekehren sind? Was ändert's an mir? Werde ich besser oder schlechter durch die Einschätzung, die ich bei andern finde?
Wir wollen uns da unten eine neue Heimat suchen. Ganz losgelöst. Wo wir unser Glück nicht auf dem Urteil der Welt aufbauen, sondern auf der eigenen Achtung. Wir beide müssen aneinander glauben …
*
Sie schloß das Fenster, drehte das Licht auf und setzte sich an den Schreibtisch.
Nun wollte sie ihrem einsamen Freunde da unten am Nil die langerbetene, langersehnte Antwort geben.
Ja, er sollte im Juni mit ihrem Vater in das kleine Berghotel kommen. Sie erwartete ihn.
Die letzte Zagheit war von ihr gesunken. Ihr Weg lag klar vor ihr.