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Sie saßen vor dem berühmten Fischrestaurant von Basso-Brégaillon am Kai von Marseille in dem rot und weiß gestreiften Zelt, an dem das tolle, bunte, aufgeregte Treiben der Hauptgeschäftsstunden eines sonnigen Februartages vorüberwirbelte: schreiende Händler und Zeitungsjungen, lebhaft verhandelnde Börsenleute, hochbeladen zu den Stapelplätzen schwankende Lastwagen, fauchende Autos, Trupps von Hafenarbeitern, Radfahrer, Neger, Matrosen, Touristen, Stiefelputzer, Bettler, Straßensänger, spielende Kinder, bellende Hunde.

Ein frischer, kräftiger Seegeruch lag in der Luft. Auf schmalen Schaubänken zwischen dem mit Töpfen von Alpenveilchen besetzten Geländer des Restaurationszeltes und dem Bürgersteig waren die appetitreizenden Schaltiere ausgebreitet, Austern in tangbeschwerten, triefenden Körben, Muscheln aller Art, Riesenhummern und Langusten. Die weißbeschürzten Aufwärter brachten den Gästen die ›Früchte des Meeres‹ gleich von der Straße, verlockend angerichtet mit Grünzeug und Zitrone.

Alle Tische waren besetzt. Zumeist von laut redenden und schmatzend essenden Herren der wohlhabenderen Geschäftswelt von Marseille. Die wenigen Damen, die das Frühstück hier nahmen, schienen fremd.

Wenigstens vermutete das Jutta. Sie hatte Augen für alles, und in ihrer lebhaften Weise machte sie ihren Gatten immer wieder auf dies und das aufmerksam. Das war für sie hier ein großes Theater mit immer wechselnder Szene: in den dichtgefüllten Speisesälen zu ihrer Rechten das großstädtisch elegante Leben, das dabei doch das lässige Südfranzosentum nicht verleugnete, und die verwirrenden Straßenbilder zu ihrer Linken auf dem weiten Hafenplatz, dessen Hintergrund der Mastenwald der sich wiegenden mächtigen Segelboote bildete.

Herr von Succo nickte und lächelte. Manchmal ein bißchen überlegen. Er war weniger leicht begeistert als seine Frau. Allem Ausländischen gegenüber war er sogar eher abweisend. Mit einem gewissen Stolz betonte er sein Preußentum, auch vor seiner Frau, die aus Koblenz stammte und in deren Familie in der Zeit der großen Revolution ›ein Tropfen französischen Blutes‹ geraten war. Der Gegensatz hatte sich in ihrer jungen Ehe schon oft bemerkbar gemacht. Er trat jetzt auf ihrer ersten größeren Reise noch deutlicher hervor. Uebrigens kam es bei Juttas humorvoller Veranlagung und dem feinen, zurückhaltenden Wesen ihres Mannes auch bei starker Meinungsverschiedenheit nie zu unerquicklichen Stimmungen.

Die umsitzenden Marseiller, die mit Austernschlürfen oder dem umständlichen Verzehren der safrangelben Bouillabaisse beschäftigt waren, schenkten dem deutschen Paar weiter keine Aufmerksamkeit. Vielleicht deshalb, weil Juttas Erscheinung in einem romanischen Lande nichts Auffälliges darstellte. Sie hatte dunkelbraunes Haar und dunkelblaue, vielmehr seltsam ins Blaugrüne schillernde Augen mit großen Pupillen. Ihre feine, schlanke, keck hervorspringende Nase besaß etwas Pariserisches.

Aber ein stattlicher Herr in mittleren Jahren, der im Innern des Restaurants saß – vom Wirbel bis zur Zeh' ein preußischer Landjunker oder Offizier a. D. – hatte die beiden schon eine gute Weile beobachtet. Er war sich darüber klar, daß er den jugendlich schlanken Deutschen mit dem blonden Habyschnurrbart und dem leicht angegrauten Haar kannte. Ein Assessor oder Regierungsrat oder so etwas. Irgendwo in einem Kasinogarten oder Manöverquartier Ostpreußens war er ihm begegnet, als er selbst noch aktiv war. Ein leiser Zweifel bestand bei ihm nur: ob das rassige, schlanke, nervige und pikante Weibchen auch wirklich seine Frau war. Das fußfreie englische Reisekleid war nämlich erheblich forscher, als man's bei den deutschen Damen sonst auf Reisen sah; und der kokett aufgeschlagene Hut wies einwandlos auf Nizza als Ursprungsort hin. Schmunzelnd sagte er sich: ›So ganz verheiratet, rite, mit Standesamt und so, sieht das süße Balg entschieden nicht aus …‹

Inzwischen hatte der Landsmann ihn jedoch schon selbst entdeckt und grüßte verbindlich und ohne jede Verlegenheit zu ihm her, seinem Gegenüber ein paar erklärende Worte zuflüsternd.

Eine Minute später fand die Vorstellung statt, die jeden Zweifel zerstreute.

»Du gestattest, Jutta: Herr Rittmeister von Stangenberg. – Meine Frau.«

»Meine Gnädigste!« Er küßte ihr mit abgezogenem Hut die Hand. »Das trifft sich ja allerliebst. Die ersten Landsleute seit fünf Tagen.«

»Wir sind nur auf der Durchreise hier in Marseille,« sagte Herr von Succo. »Wollen morgen mit der ›Holstein‹ nach Alexandrien.«

»Ich dito.«

Freudige Ueberraschung. Man war nun sofort vertrauter miteinander. Herr von Stangenberg mußte mit am Tische Platz nehmen. Gleich im ersten Gespräch ergab sich: er war seit zwei Jahren nicht mehr aktiv – hatte einer Gutserbschaft halber kurz vor der Majorsecke seinen Abschied genommen.

»Ich setze voraus, meine Gnädigste: Hochzeitsreise?« fragte er dann lächelnd.

Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ihrem Gatten zu. »Gustl, ist es nicht schrecklich?«

Der bemerkte leicht belustigt: »Von diesem Verdacht können wir uns nämlich schon seit drei Jahren nicht reinigen.«

»Ich bin zerschmettert und nehme alles zurück. – Und so lange wär's also schon her, daß wir uns nicht getroffen haben, Herr von Succo?«

»Es war beim Kaisermanöver in Ostpreußen. Also vor 'nem Lustrum.«

»Richtig. Haben Sie da nicht bei den Königsgrenadieren geübt?«

»Lüneburg – der Kommandeur – ist ein entfernter Vetter von mir.«

»Ei, jawohl, der lange Lüneburg. Sie lagen in Lasditen, dicht bei meiner Klitsche, ein halb Dutzend Stäbe, und an ein paar wonnigen Abenden mit Froschkonzert und ostpreußischem Maitrank gab's die landesüblichen Dauerskate.« Er lachte. »Wobei der lange Lüneburg sowohl Ihnen als mir eine Unmenge Zechinen abknöpfte.«

»Stimmt.«

»So, nun bin ich im Bilde. – Ja, gnädige Frau, Ihr Herr Gemahl mußte die Sache nämlich immer erstens vom juristischen, zweitens vom moralischen und drittens vom vetterlichen Standpunkt aus beleuchten. Wir haben uns über seine Stegreifreden köstlich amüsiert.«

»Gustl, nein, sieh mal an, beim Militär hast Du im Verdacht eines Humoristen gestanden?« neckte Frau Jutta.

»Im Zivilleben nicht, meine Gnädigste?«

»Oh! Die Würde des Amtes!« Sie nahm eine drollig kummervolle Miene an. »Und gar – seitdem mein Schatz Oberstaatsanwalt geworden ist!«

»Ober –?! Hm. Ja, was verlangen Sie auch?« Er ging auf die muntere Tonart der jungen Frau mit Laune ein, wandte sich dann aber mit wohlwollendem Staunen an den Juristen: »Uebrigens scheint mir das eine Beförderung im Sturmschritt. Nicht?«

»Allerdings ist's etwas rascher gegangen, als ich erwarten durfte. Hab' mich natürlich riesig gefreut. Es galt aber Arbeit, heillos viel Arbeit zuvor.«

»Womit die jungen Ehefrauen nicht immer so völlig einverstanden sind, wie?« Der Rittmeister kniff ein Auge zusammen.

Jutta lachte. »Gottlob sind wir jetzt nach Berlin versetzt. Denn die letzten Jahre in Schneidemühl – furchtbar. Nicht, Gustl?«

»Wir sind dafür auch mit einem fürstlichen Urlaub belohnt: zehn Wochen.«

»Das läßt sich hören. – Familie lassen Sie zu Hause nicht zurück, gnädige Frau?«

»Nein.« Sie sagte es hastig. Es entstand darauf eine kleine Pause. Jutta hatte peinlich berührt den Blick zur Seite nach dem Mastenwald gewandt.

Stangenberg tat seine anscheinend ungeschickte Frage leid. Er suchte den Eindruck rasch zu verwischen. »Gedenken Sie auch die übliche Nilfahrt bis Luksor und Assuan zu machen?«

Jutta war nicht bei der Sache. Irgendeine Gruppe zerlumpten Volks draußen fesselte ihre Gedanken: es waren schon mehrmals Bettler vorbeigestrichen, darunter auch ein junges Ding, kaum sechzehn Jahre alt, mit einem nur notdürftig bekleideten Baby. Juttas Blick wanderte mit dem kleinen Wesen mit; es trat dann eine wachsende Spannung in ihren Ausdruck. Sie vernahm die weitergehende Unterhaltung der beiden Herren schließlich nur noch wie aus weiter Ferne.

»Mein Reiseplan hält vorläufig bloß Kairo fest. Und natürlich das Fajum.«

»Fajum ist auch mein Fall. Wie legen Sie die Tour, Herr von Succo? Im März soll's schon bombenheiß dort sein.«

»Anfang März will erst noch mein Schwiegervater zu uns stoßen. Kapitän Plaschke vom Lloyd – er hat eine Auslandsinspektion und ist viel auf Reisen. Wir haben jetzt die Riviera hinter uns: Mentone, Monte, Nizza, Cannes.«

Succo hatte den Ton etwas erhoben, sprach auch rascher und schärfer, um seine Frau zur Sache zurückzubringen.

Aber sie hörte nicht. Ihr Blick hatte sich an die junge Mutter geklammert, die mit gesenktem Kopf draußen wieder über den Platz schlich. Es war, als ob den großen Augen Juttas eine magnetische Kraft innewohnte, denn das Mädchen blieb jetzt plötzlich stehen und sah die fremde Dame scheu an.

»Gib ihr was, Gustl,« sagte Jutta leise.

Dicht beim Zelt stand ein Polizist. Wohl lediglich diesem streng dreinblickenden Posten war es zuzuschreiben, daß die Gäste an der Straße bis jetzt unbehelligt geblieben waren. Der Beamte musterte die still Dastehende ziemlich drohend.

»Hier darf anscheinend nicht gebettelt werden,« sagte Herr von Succo, dem jedes Aufsehen peinlich war. Er wollte seiner Frau einen Wink geben, aber sie starrte noch immer wie in einem Bann die Fremde und das Kind an.

»Gib ihr doch was, Gustl,« bat sie noch einmal, dringlich flüsternd, »sie bettelt ja gar nicht.«

»Bloß mit den Augen,« meinte der Rittmeister a. D. und griff lächelnd in die Tasche.

»Jutta!« Succo suchte seine Frau zu beschwichtigen, da sie sich jetzt plötzlich erhob: offenbar wollte sie das Mädchen heranrufen. »Da draußen steht der grimme Zerberus. Paß auf, es setzt Unannehmlichkeiten, und dann bist bloß Du schuld.«

»Die Augen von den beiden. Sieh doch nur. Was da drinsteht. Der Jammer. Der Hunger. Und wir sitzen hier, es geht einem gut, und man soll das Elend still und stumm mit ansehen.«

»Jutta, ich bitte Dich. Nur nicht immer gleich so aufgeregt. Alle sehen schon her. Setz' Dich doch. Wir schicken ihr ein Fünfsousstück hinaus, und damit holla.«

»Sie ist selbst noch ein Kind, die Mutter. Ach, Gustl, sieh nur, und die Kleine, wie die mich anguckt. Das arme Puttchen. Ach nein, Gustl, nicht bloß fünf Sous. Bitte, bitte.«

Von allen Nachbartischen aus beobachtete man die Szene. Jutta hatte sich über das Blumengeländer gebeugt und suchte sich mit dem Mädchen zu verständigen. Sie wollte erfahren, wieviel Wochen das Baby zählte. Die Antwort war aber nicht zu verstehen. Der Rittmeister von Stangenberg meinte, es wäre gar keine Französin, sondern eine Andalusierin. Jutta hielt im Unterhandeln ihre rechte Hand hinter sich ihrem Gatten zu. Fast gleichzeitig legte jeder der beiden Herren eine größere Silbermünze hinein. Jutta reichte der Fremden das Geld. Die nahm es mit hastiger Gebärde – und im nächsten Augenblick schoß sie davon, wie auf der Flucht vor dem Polizisten, der sich indessen schon wieder gleichgültig abgewandt hatte.

Nun setzte sich die junge Frau und lächelte still vor sich hin. »Es war noch nicht acht Wochen, sicher nicht. Aber wie's mich angeguckt hat …«

Herr von Succo nahm das Reisethema wieder auf, vielleicht etwas zu hastig, so daß man merkte, er wollte die ihm peinliche Unterbrechung schleunigst vergessen machen. Er hatte ja immer zu zügeln, zu beschwichtigen und zu mäßigen bei seiner Frau. Sie war ganz Nerv, ganz Temperament. Fortgesetzt arbeitete ihre Phantasie. Sie rieb sich damit vorzeitig auf, meinte er. Der Arzt hatte ihn auch schon gewarnt. Sie war achtzehn Jahre gewesen, als er sie geheiratet hatte. Ein Kind war zur Welt gekommen, aber nach wenigen Wochen gestorben. Er hatte damals viel mit ihr durchgemacht. Alles in ihr strebte nach Betätigung. Und ganz von ihren Stimmungen abhängig, setzte sie sich dabei auch manchmal über die Schranken hinweg, die ein ungeschriebenes Gesetz den Frauen der höheren Beamten in Preußen zog.

»Nanu, Jutta, wo ist denn Dein Armband?« fragte er plötzlich.

Die junge Frau hob die Linke – suchte dann erschrocken auf ihrem Schoß, rückte den Stuhl zurück und stand auf – und auch die beiden Herren erhoben sich und begannen zu suchen. Sofort war ein Aufwärter zur Stelle. In der ersten Erregung – denn das Armband hatte großen Wert – fand sich Succo nicht in die französische Ausdrucksweise hinein. Jutta half ihm.

»Ich hab's noch vorhin selbst gesehen, gnädige Frau,« bestätigte Stangenberg. »Ein goldenes Kettenarmband mit einem à jour gefaßten Brillanten, nicht wahr?«

»Das Mädel hat's!« stieß Succo aus. Nur eine Sekunde überlegte er. »Pardon!« sagte er dann so kaltblütig, als es ihm irgend möglich war, knöpfte seinen Rock zu und trat auf die Straße.

Er schien die Gestalt noch im Gewühl zu erkennen, denn mit einem Male gab er sich einen Ruck und eilte davon.

Auf Stangenbergs Anordnung wurde der Direktor des Restaurants herbeigerufen. Wiederum gab's eine Absuchung des Platzes – wiederum erfolglos.

Jutta saß mit einem wahren Armsündergesicht da. Ihr Nachbar bemühte sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Sie haben wohl Angst vor Schelte?« neckte er.

»Wenn er die Aermste bloß nicht findet!« sagte Jutta zitternd.

Dieser Gedankengang wirkte auf ihn so verblüffend, daß er zunächst sprachlos war: – sie sorgte sich also nicht um das Armband, sondern lediglich darum, daß die Diebin ertappt werden könnte. Das war mindestens originell.

Der Direktor hatte inzwischen den Polizisten unterrichtet. Der kam ins Zelt herein, und ein Herr aus der Nachbarschaft nahm an der Darstellung der Sachlage hilfreichen Anteil, weil die beiden Ausländer das Französisch der Zwischenfragen des stark nach Knoblauch duftenden Beamten nicht verstanden.

Da – mitten im Gewühl des Platzes und im allgemeinen Geschrei – ein plötzliches Anschwellen des Lärms in einer der Gruppen. Ein zweiter Polizist schob im Geschwindschritt rechts die junge Bettlerin mit dem Kind, links einen halbwüchsigen Stiefelputzer vor sich her. Der Junge schluchzte – das Mädchen sah mit leerem, scheuem Blick vor sich hin.

»Da sind sie!« stieß Jutta erschrocken aus.

In demselben Augenblick kam Herr von Succo eilig ans Zelt. »Verzeihung für die Störung, Herr von Stangenberg. Darf ich Sie bitten, meiner Frau noch ein Viertelstündchen Gesellschaft zu leisten?«

»Mit Vergnügen, selbstverständlich. Nun, wie liegt der Fall?«

»Sie arbeitet wohl gemeinsam mit dem Bengel, die Kleine. Das soll ihr Bruder sein. Schon mal bestraft. Der Polizist kannte ihn. Als ich kam, teilten sie gerade das Geld. Aber das Armband war schon heidi. Haben sie sicher geschwind 'nem Dritten zugesteckt.«

»Dann laß doch, Gustl.«

»Wieso, laß doch? Das wäre ja noch schöner, Schatz!«

»Sonst willst Du immer nicht, daß Aufsehen gemacht wird. Und jetzt bitte ich Dich. Wirklich, Gustl.«

Ihr Gatte hatte schon wieder seine volle Ueberlegenheit zurückerlangt. »Nein, meine liebe Jutta, das ist für mich nun geradezu Berufssache.«

Stangenberg zwang sich zu einem Lächeln. »Ich denke, Sie haben Ferien?«

»I, man muß doch mal feststellen, wie die wackern Marseiller so 'ne Sache anfassen. Ist doch riesig bildend für unsereinen.«

»Laß sie laufen, Gustl, bitte, bitte, mir zuliebe, laß sie laufen!«

Es lag geradezu Angst in ihrem Ton.

»Fällt mir nicht ein, Schatz. – Aber ich bin gleich wieder da. – Nochmals: mille fois pardon!«

Und weg war er.

»Ist es ein Andenken, gnädige Frau?« fragte der Rittmeister. Und da sie kurz bejahte: »Ausgeschlossen ist's ja nicht, daß Sie's wiederkriegen.«

»Ich will es nicht. Ich werd's auch nie wieder tragen.«

»Aber meine Gnädigste!«

»Ich kann den schrecklichen Blick nicht vergessen. So leidensvoll. Und das Würmchen – noch nicht acht Wochen!«

»Hm.«

Nach einer Weile begann sie's zu frösteln. Ob er so gütig sein wollte, sie nach dem Hotel zu bringen, fragte sie. Die Rechnung war schon erledigt, Stangenberg gab dem Aufwärter noch die erforderliche Weisung und ein Trinkgeld, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg.

*

Das Hotel, in dem das Ehepaar wohnte, lag an der Cannebière, dem Glanzpunkt und Stolz von Marseille, dem großartigen Boulevard, der vom alten Hafen nordwärts zur Stadt ansteigt. An einem sonnigen, windstillen Tag wie dem heutigen bot sich hier trotz der frühen Jahreszeit ein ganz sommerliches Bild. Vor den Cafés saß man an den kleinen Marmortischen bis weit in die Straße hinein, die eleganten Marseillerinnen trugen ihre reichen Promenadenmäntel von Pelzwerk, Seide und Spitze, ihre Kunstwerke von Hüten und ihre Silberfuchs- und Hermelinstolas zur Schau. Herren im Zylinder, eine Blume im Knopfloch, flanierten auf dem breiten Asphalt. Bei aller Geschäftigkeit, bei allem Lärm vor der Börse, vor den Kaufhäusern, vor der Großen Oper, sah man doch an tausend Einzelheiten die Genußfreude dieses Volkes.

Aber Jutta fand sich in die Touristenlaune, dies alles in sich aufzunehmen, nicht mehr hinein.

Stangenberg war ein weltgewandter Mann. Er erzählte unterwegs von seiner Herreise und verlangte gar nicht, daß die junge Frau mitsprach. Aber er beobachtete sie, denn sie fesselte ihn lebhaft. Ihre Gestalt besaß für ihre einundzwanzig Jahre noch wenig Entwicklung. Sie war mädchenhaft schlank. Nur das Oval des Gesichtes verlieh ihrer noch herben Erscheinung einen weicheren, frauenhafteren Zug. Und – ›in den Augen hatte sie's‹. Eine Durchschnittsfrau war sie jedenfalls nicht, das stand für ihn fest. Succo mochte sich vielleicht gesagt haben, daß es für einen Mann Ende der Dreißiger im ganzen bequemer wäre, so ein blutjunges Ding zu heiraten. Man konnte sich sein Frauchen dann erziehen. Aber Stangenberg, in der Hinsicht erfahren, meinte bei sich: die würde ihm wohl noch manche Nuß zu knacken geben, die seltsam nervige, wenn nicht leidenschaftliche junge Frau. Er persönlich hatte ja auch schon seinen Roman durchgemacht: hatte sich nach nur zweijähriger Ehe scheiden lassen müssen.

In der Hotelhalle angelangt, versprach er, ihren Gatten zu erwarten. Sie fuhr also im Aufzug zu ihrem Zimmer empor, und er setzte sich mit dem ›Figaro‹ und einer Zigarette in einen Schaukelstuhl.

Als Succo ein halbes Stündchen später ankam – der Aufwärter des Fischrestaurants hatte ihm die Meldung richtig übermittelt – war er noch ganz erfüllt von dem Erlebnis auf der Polizei.

»Zustände sind das hier,« sagte er lachend, »einfach vorsintflutlich. Von Protokoll und so was keine Spur. Und das Spitzbubenvolk wird mit einer Höflichkeit behandelt – die reine Lustspielszene, sag ich Ihnen.«

»Hat das Mädel gestanden?«

»I bewahre. Ganz verstockt. Steht da und glotzt mich an, ordentlich groß und von oben her, dann weint sie wieder ein bißchen – na ja! Und der Junge weint mit. Schließlich auch noch ihr Gör. Richtige Verhandlung wie bei uns, mit Personalien und so, scheinen sie gar nicht zu kennen. Das ist wieder ganz der feminine Zug in diesem Volk: weil sich's um so'n Mädel handelt, bißchen hübsch ist sie ja auch noch, da schlagen sie ganz andere Saiten an als bei uns in solchem Falle. Nein, diese Franzosen – eine zu ulkige Gesellschaft!«

»Hat man das Völkchen denn schließlich an die frische Luft gesetzt?«

»Na, das trauten sie sich denn doch nicht. Sie können die Prussiens zwar nicht ausstehen, aber einen höllischen Bammel haben sie vor uns, das merkt' ich wohl 'raus. Vorläufig bleibt das edle Paar mal eingesponnen.«

Auf Succos Einladung hin erklärte sich der Rittmeister gern bereit, den Rest des Tages in der Gesellschaft seiner Landsleute zu verbringen. Die Herren einigten sich, zunächst einen Landauer zu mieten, eine Spazierfahrt auf der Corniche, der Kunststraße am Golfufer, zu machen und später am Korso auf dem Prado teilzunehmen. Es blieb dann noch Zeit, sich zum Diner in Dreß zu werfen. Für den Abend bestellte man am besten Plätze in der Großen Oper. Es wurde ›Carmen‹ gegeben.

Während der Spazierfahrt wurde das leidige Abenteuer nicht mehr besprochen. Von seinem schneidigen Eingreifen auf der Polizei hatte Herr von Succo oben im Hotelzimmer seiner Frau schon eine kurze, lebhafte Schilderung gegeben. Sie hatte darauf geschwiegen.

Unterwegs schien sich Jutta wieder ganz dem Zauber dieses gesegneten Fleckleins Erde hinzugeben. Man fuhr am Meere entlang und hatte immer den Blick auf die seltsam gezackten Felseninseln, die dem Golf vorgelagert waren. Die Herren vertieften sich mehr und mehr in jenen Gedanken- und Personenkreis, den sie in Deutschland, in Preußen zurückgelassen hatten: ein Stück Rang- und Quartierliste ward durchgenommen, hundert persönliche Wechselbeziehungen dahin und dorthin wurden festgestellt. Auch Jutta mußte an den verschiedenen Überraschungen, die sich dabei ergaben, teilnehmen. »Denk nur, Jutta, Exzellenz Quinke ist der zweite Mann von Frau von Schauffert, der Nichte von Herrn von Stangenberg. Schauffert – Landrats – Du erinnerst Dich doch!« Gewiß erinnerte sie sich. Wenigstens versicherte sie's schon aus Artigkeit für den Gast. Sie verfiel dabei wieder in ihren lebhaften Ton. Aber etwas Sprunghaftes haftete ihr an, das entging Stangenberg nicht. Alles in allem verlief die Fahrt sehr angeregt. Auf dem Prado, wo von den Korsoteilnehmerinnen die unmöglichsten Hutformen zur Schau getragen wurden, gab es auch allerhand Lustiges zu beobachten, was ihre Stimmung immer fröhlicher machte. Stangenberg war jedenfalls der Meinung, daß der kriminelle Zwischenfall nun endgültig vergessen sei.

Das Ehepaar sprach von der Angelegenheit erst im Hotel wieder, als Jutta ihre Toilette für den Opernbesuch beendigt hatte. Es war eine duftige Crêpe de Chine-Robe mit mehreren breiten Volants, das Staatsstück ihrer Reiseausstattung. Trotz der langen Handschuhe fehlte ihr etwas am linken Handgelenk. Sie griff, vor dem feierlichen großen Spiegel stehend, unwillkürlich mit der Rechten dahin. Er sah die Bewegung und nickte.

»Nun sag mal, Schatz,« hub er in versöhnlichem, fast etwas väterlichem Ton an, »warum hast Du mir da bei Basso-Brégaillon heut mittag eigentlich so 'ne Geschichte gemacht, hm?«

Sie hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Alles Festliche war sofort aus ihrem Ausdruck gewichen. Eine tiefe Traurigkeit teilte sich ihren Zügen mit.

»Kann man für Erinnerungen?«

»Erinnerungen – wieso? Ueberhaupt, man darf sich doch nicht gleich so hinreißen lassen.«

»Ich wollte der Aermsten bloß was geben, weil – nun ja, weil sie das Baby da hatte.«

»Es war eine ganz scheußliche Person, will ich Dir sagen. Hafengesindel unterster Sorte. Damit sollst und darfst Du Dich nicht einlassen. Du bist mir zu gut dazu. Deinen Denkzettel hast Du ja weg. 's war nicht nur eine – eine … na, eben aus der Hefe … sondern auch noch glatt Diebin. Der Bruder mehrfach bestraft. Na, und an so was verschwendest Du Dein Mitleid. – Und das Armband,« setzte er lächelnd hinzu.

Sie hatte sich auf das Ende des mit Seide überzogenen Ruhebetts gesetzt. Es fror sie wieder. Sie kreuzte die Arme über der Brust und suchte die Oberarme mit den Händen zu wärmen. Für ein paar Augenblicke wirkte sie in dieser Haltung wie ein Schulmädchen, das ausgezankt wird. Aber in ihrer Stimme zitterte ein Unterton.

»Ich hatte Mitleid mit ihrem Kind, Gustl,« sagte sie gequält. »Ist so ein armes, verkümmertes Wesen verantwortlich für seine Mutter? – Und auch gar noch für den Onkel? – Du bist so schrecklich hart diesen Leuten gegenüber.«

Er war zu ihr getreten und tätschelte sie auf den Nackenausschnitt. »Macht das Metier. Ein Jurist blickt schärfer.«

»Aber das Wesentliche hast Du doch nicht gesehen, Gustl, wie?« Sie ließ die Arme sinken und starrte vor sich ins Leere. »Es hatte ganz die Augen von Hansheinrich, das Kleine.«

»Jutta! Aber nein – so ein Vergleich!«

»Ja, ganz seine dunklen Augen, groß und fragend, und mit dem seltsam goldigen Schein. Und dabei so was im Blick, daß man fühlt, es lebt nicht lange.«

»Nein, nein, nein, nein. Ich verstehe Dich nicht, Schatz. Nun rührst Du all das wieder auf.«

»Glaubst Du, daß ich's je vergessen werde?« Langsam löste sich erst links und dann rechts eine Träne aus ihren Augen. Sie ließ sie hinunterrollen, ohne die Hand zu heben. »Und wenn ich mir nun vorstelle, sie haben meinetwegen die Mutter mitsamt dem Kind auf der Wache behalten, eingesperrt, über Nacht …«

Er sah ihr ins Gesicht und erschrak über ihren Ausdruck, zwang sich aber dazu, sie herzhaft auszulachen. »Nein, Kind, was bist Du mal wieder sentimental. Das ist meine lustige, flotte, burschikose, verwöhnte Jutta? Mit dem neuen Hut aus Nizza? Mit dem Spielteufelchen im Leib, he, von Monte Carlo? Na warte, Du!«

Sie schluckte ihre Tränen hinunter und stand auf. »Ja, ich hab eigentlich gar kein Recht. Bin ja selbst so ein leichtsinniges Geschöpf.« Sie sagte das schon wieder in hellerem Ton – von den paar Erinnerungen sofort gefesselt. »Aber siehst Du: lieb wär's eben von Dir gewesen, wenn Du mir die Bitte erfüllt hättest.«

»Hm. Sie laufen zu lassen?«

Sie nickte heftig.

»Gut. Also das nächste Mal. Wenn Du das neue Armband verlierst.« Er war neben sie getreten und hatte sie untergefaßt. Gutmütig setzte er hinzu: »In Kairo kauf' ich Dir's.« Er küßte sie, ihren Kopf zurückbeugend, auf den Mund. Sie preßte aber die Lippen fest zusammen. »Du, willst Du wohl! Ich sammle feurige Kohlen auf Dein Haupt, und Du bist so renitent?«

Sie entwand sich ihm und nahm hastig den Abendmantel um. »Es ist schon Zeit. Herr von Stangenberg wartet.«

»Eigentlich schade. Hier wär's nun doch riesig gemütlich gewesen. Weißt Du, wie an dem Abend in Wiesbaden vor drei Jahren: da ließen wir auch das Kurkonzert und … Weißt Du noch?«

Auf diese Erinnerung an die Hochzeitsreise ging sie nicht ein. Und nun wußte er: sie schmollte.

»Kratzbürste!« sagte er, seine Schnurrbartspitzen aufstreichend, während sie das Hotelzimmer verließen.

Beim Diner und in der Oper wirkte sie wieder sehr verführerisch auf ihn. Sie sah heute abend vorzüglich aus. Uebrigens lenkten sich viele Operngläser auf sie. Auch Stangenberg fand, daß sie den Vergleich mit all den herausgeputzten, juwelenbeladenen Logenschönheiten der Marseiller Börsenwelt nicht zu scheuen brauchte. Es lag ein besonderer Stil in der feinen und rassigen jungen Person.

Der Oper ›Carmen‹, die von einer mittelguten Gesellschaft gegeben wurde, folgte ein hervorragend schönes Ballett. Die Vorstellung war erst kurz vor ein Uhr aus. Es galt danach rasch zu Bett zu kommen, denn um acht Uhr spätestens mußte man sich erheben.

Jutta hatte in ihrer lebhaften, sprühenden Art an allem teilgenommen. Ihr Gatte hielt die Verstimmung von zuvor also für überwunden.

Als sie in ihrem Hotelzimmer angelangt waren und das elektrische Licht aufgedreht hatten, nahm er sie wie in einem Ueberfall plötzlich in seine Arme, trällerte ein Motiv aus ›Carmen‹ und versuchte mit ihr ein paar Schritte zu walzen. Solche Anwandlungen hatte er selten – Jutta war aber immer mit Humor darauf eingegangen und hatte die Stimmung durch ihr dunkles, zärtliches Organ und ihr warmes, melodisches Lachen rasch gesteigert.

»Gustl!« entfuhr ihr's jetzt in jähem Schreck. Sie deutete mit weit ausgestreckter Hand auf den Stuhl an der rechten Seite des großen Doppelbettes. Ueber der Lehne hingen dort die Unterkleider, die sie vor dem Diner abgelegt hatte. Und von einer schwarzen Spitzenzacke des untersten Volants an ihrem Unterrock hing ein goldenes Kettchen herab. Mit zwei Sätzen war sie dort, kniete nieder und hob den blitzenden Gegenstand auf. Es war ihr Armband. Es hatte sich fest in die Spitze verwickelt. Sie brachte es nicht los, ohne ein paar Fäden zu zerreißen.

Verdutzt war er ihr gefolgt. »Na, da hört ja alles auf. Wie kommt das dahin?«

Sie hatte sich ihm zugewandt. In der ersten Erregung vermochte sie kaum zu sprechen. »Da ist es – sie hat es also doch nicht … Ach Gott, ach Gott!«

»Nun bloß nicht gleich wieder nervös, liebe Jutta, das bitte ich mir aus,« sagte er ziemlich gereizt, »die Sache hat mich jetzt schon genug geärgert.«

Sie schluckte. »Nein, nein, keine Vorwürfe, es ist eben bloß ein schrecklicher Irrtum gewesen.« Hastig steckte sie die Kette in die Futtertasche ihres englischen Reisemantels. »Wir wollen nur gleich hingehen, komm, Gustl, am besten gar nicht erst ablegen.«

»Wohin gehen?«

»Nun, auf die Wache natürlich.«

Er lachte kurz auf. »Wie denkst Du Dir das? Ein Viertel nach ein Uhr?«

»Wir müssen sie bitten – – wie kann man's nur wett machen … ach, es ist ja so schrecklich!«

»Erlaube mal, Kind, Du stellst Dir in allem Ernst vor, daß man sie jetzt, mitten in der Nacht, herausholen wird?«

»Ja, hättest Du denn Ruhe – auch nur eine Sekunde lang?«

»Aber gewiß. Vorläufig schläft die Gesellschaft. Hat wenigstens 'ne Pritsche unter sich, ein Dach über sich und ist so vielleicht besser aufgehoben als sonst. Morgen beizeiten geh ich hin, melde die Geschichte, man schenkt ihnen was und damit holla.«

»Das – ist eine seltsame Auffassung.«

»Die logische und praktische. Allerdings.«

»Sie ist aber falsch.«

»Liebes Kind: der Jurist bin doch schließlich ich. Nicht wahr? In solchen Dingen mußt Du schon mit meinen Entscheidungen zufrieden sein.«

»Ich muß?« Die Tränen traten ihr in die Augen. »Ja, freilich, Du hast recht. Als Frau ist man wehrlos.«

»Na, höre mal, Schatz, wir werden doch nicht um ein Uhr in der Früh die Frauenfrage aufrollen und solchen Unfug. – Richtig, nun schmollst Du wieder.«

»Ich schmolle nicht, Gustav. Es ist mir nur schmerzlich, daß wir jedesmal uneinig sind, wenn sich's um mehr als eine Programmnummer in unserm Amüsement handelt.«

»Kommt daher, daß ich Dir galanterweise in allem die Vorhand und die Entscheidung lasse – bloß in dem nicht, wofür ich als Mann verantwortlich bin.«

Im Mantel setzte sie sich auf den Stuhl am Bett. Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Er legte nun ab und zog seine Uhr auf. »Jutta, sei verständig. Es ist ein Uhr zweiundzwanzig.« Er gähnte leicht. »Offen gestanden bin ich auch ehrlich müde.«

»Ja so.«

Nun kam er lachend rasch auf sie zu und umfaßte von rückwärts mit der Linken ihr Kinn. »Du bist ja so reizend in Deiner Entrüstung. Wahrhaftig, man müßte Dich immer ein bißchen ärgern. Was?« Er küßte sie, er suchte unter Lachen zu ersticken, was sie erwiderte. Aber als er ihr ins Auge sah, verflog seine Stimmung sofort. »Du willst nicht – eh bien.«

Sie gingen zur Ruhe, ohne einander gute Nacht zu sagen.

Er schlief dann sofort ein. Aber sie wachte noch lange und sah mit nassen Augen in die Dunkelheit. Das ganze Mitleid ihres Herzens weilte bei der unglücklichen jungen Mutter und ihrem Kind in der Arrestantenzelle. Und im Fortschreiten der Nacht ward das Bild des armen kleinen Wesens dem ihres verstorbenen Kindes immer ähnlicher.

Noch nie hatte sie sich ihrem Manne so fremd gefühlt wie in diesen Stunden.


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