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Der prächtige deutsche Luxusdampfer, der den Verkehr zwischen Marseille und Aegypten vermittelte, lag an dem Riesenpier des Hafens von Joliette. Er ragte mit seinen beiden gelben Schornsteinen hoch empor über die ganze Flotte, die den großen Hafen füllte. Die Marseiller betrachteten den Eindringling voll Staunen, fast Ehrfurcht, aber auch mit Neid, denn keines der Schiffe der französischen Gesellschaften konnte den Vergleich damit aushalten.

Die gewaltigen Maße des Dampfers hatten für die am Morgen der Abfahrt am Hafen eintreffenden Reisenden etwas ungemein Beruhigendes. Der Himmel war bedeckt, ein kalter Wind fegte durch die Straßen, und die Hotelportiers weissagten den Mistral: die Aussichten auf eine glatte Ueberfahrt waren im Schwinden begriffen.

Auch Succo und der Rittmeister betrachteten das Schiff, als ihre Wagen in die lange Zollhalle einfuhren, mit einer gewissen Genugtuung.

»Erstens aus Patriotismus und zweitens aus Selbstsucht,« sagte Stangenberg. »Ich habe mir nämlich vorgestern einen Touristendampfer der › Messageries maritimes‹ angesehen, und ich versichere Ihnen, das sind Appelkähne gegen unsere Lloyddampfer; sie fordern die Seekrankheit in tückischer Weise heraus.«

Das Thema der Seekrankheit herrschte in den meisten Gruppen der Ankömmlinge vor. Jutta stellte das fest, während sie mit auf die Einschiffung des Gepäcks wartete.

»Sie sagen das so siegessicher, gnädige Frau. Sind Sie selbst seefest?«

»Ich war's wenigstens als junges Mädchen. Papa hat mich oft mitgenommen. Kattegat, Skagerrak und Kanal, bei bewegter See wären das die Kraftproben, meinte er.«

»Ich danke. Ich werde seekrank, wenn ich bloß die Namen höre. – Wie gedenken Sie sich auf dem Sprung nach Afrika zu verhalten, Herr von Succo?«

»So tapfer als irgend möglich. Da meine Frau eine halbe Seeratte ist, bin ich ja sozusagen moralisch dazu verpflichtet.«

Jutta lachte. Sie war schon wieder in guter Stimmung. Hier fühlte sie sich ganz in ihrem Element. »Dabei sündigst Du fortgesetzt gegen Papas allererstes Seemannsgebot, Gustl.«

»Was ist das für eines, gnädige Frau?«

»Von der Seekrankheit nicht sprechen – nicht einmal daran denken.«

»Na ja, Papa als Ueber-Teerjacke hat gut Ratschläge erteilen! – Meinen Schwiegervater müssen Sie nämlich kennen lernen, Herr Rittmeister. Famoser alter Herr. Die Menschheit zerfällt für ihn in Seefeste und Nichtseefeste; damit Schluß.«

Das Gedränge in der großen Halle war immer stärker geworden. Jutta schlug also vor, lieber dem jungen Schiffsoffizier, der das Verstauen des Gepäcks überwachte, die Verantwortung für die Einschiffung ihrer Koffer zu überlassen. Es hatte sich ein ganzer Berg in der Halle angesammelt, und der Gepäckkran war in fortwährender Tätigkeit. So wanderten sie denn über die steil zum Deck emporführende Brücke an Bord. Hier nahm sie der Obersteward in Empfang und gab ihnen Führer zu ihren Kabinen. Die des Ehepaares hatte die beste Lage: am oberen Promenadendeck.

»Sie haben wohl die Staatskabine bekommen?« fragte der Rittmeister, große Augen machend. »Ja – wer den Papst zum Vetter hat.«

Jutta schüttelte lachend den Kopf. »Nein, denken Sie, Papa wollte uns selbst die Billette besorgen und uns bei der Direktion eine Ermäßigung erwirken, aber hier dieser Mann der strengen Prinzipien war nicht zu bewegen, sie anzunehmen.«

»Na, Prozente nehm ich nu ziemlich skrupellos,« sagte Stangenberg jovial. »Und vorhin im Hotel bei der Rechnung hab ich sie sogar gefordert. Schlankweg. Als Offiziervereinsmitglied.«

»Siehst Du, siehst Du, Gustl!«

Succo strich sich den Schnurrbart, ohne zu erwidern.

»Na, armes Luder von Agrarier wie unsereins«, fuhr Stangenberg humoristisch fort, »muß sich eben durchs Kommißbrot durchbeißen, so gut es geht. – Hier an Bord hab ich nämlich bloß einen Platz im Hauptdeck belegt. Das ist um ein paar Stockwerke tiefer, aber auch um mindestens zweihundertundfünfzig Meter billiger.«

Sie lachten und verabredeten ein Wiedersehen vor dem Gabelfrühstück, um sich Tischplätze nebeneinander anweisen zu lassen. Dann begaben sie sich zum Auspacken des kleinen Gepäcks in ihre Kabine.

»Darin verstehe ich den Rittmeister nicht,« sagte Succo, in dem eleganten und geräumigen Salon sich umblickend, der mit großem Kleiderschrank, bequemer Waschtoilette, Tisch und zwei Betten zu ebener Erde versehen war. »Hauptdeck ist nicht viel besser als zweite Klasse.«

»Dort wohnen ja auch Menschen, Gustl.«

»Hm. Eben. Die sich zweiter Klasse einschätzen.«

»Nein, Gustl, wenn man Dich so hochmütig reden hört. Du sagst das alles bloß, um mich zu ärgern.«

»Erlaube, Schatz. Gewisse Schranken müssen nun doch mal existieren. Stangenberg wird das auch noch am eigenen Leibe erfahren.«

»Wieso?«

»I, natürlich schläft er in seiner Kabine nicht allein, sondern er teilt sie mit einem andern Herrn, der ebenso billig reist. Wen bekommt er da also als Reisegenossen? Vielleicht den Kammerdiener eines amerikanischen Schweinespeckkönigs.«

»Der dann wahrscheinlich unser Nachbar ist. – Wer hat's besser?«

»Du hast doch einen zu demokratischen Zug, Jutta!«

»Uebrigens: vielleicht muß sich Stangenberg wirklich einschränken?«

»Keine Ahnung. Sitzt in 'ner tadellosen Assiette, es ist purer Geiz.«

»Meinst Du? Hm. Dann verständ' ich's freilich nicht.« Jutta besaß selbst eine offene Hand, und sie hatte an diesem Morgen auch ihren Gatten wieder einmal als sehr freigebig kennen gelernt, was sie mit vielem aussöhnte. Als ›Schmerzensgeld‹ nämlich für die unnötigerweise unter falschem Verdacht auf der Polizeiwache verbrachte Nacht hatte dem Polizeimeister ein blankes Zwanzigfrancsstück als durchaus ausreichend für die beiden unglücklichen Arrestanten erscheinen wollen. Succo war aber anderer Meinung; er hatte seiner Brieftasche schon zwei Hundertfrancsscheine entnommen, die er dem Geschwisterpaar ohne Wimpernzucken einhändigte. Diese reiche Gabe wandelte die Szene sofort von Grund aus: der Verdacht, die ungemütliche Nacht, die Angst der beiden waren vergessen, und Succo konnte als der große Wohltäter vom Platze scheiden, mit südländisch lebhaften Dankesbezeigungen überschüttet. Seine Schilderung dem Rittmeister gegenüber war in ihrer Selbstironie so drastisch, daß auch der letzte Rest von Sentimentalität in Juttas Teilnahme schließlich schwinden mußte. › Au fond ist er eben doch ein guter Kerl,‹ sagte sie zu sich. Bei aller Korrektheit, die von einer gewissen Engherzigkeit nicht frei war, bewies ihr Gatte oftmals einen durchaus ritterlichen Zug. Geizig war er jedenfalls nicht. Häufig mahnte sie selbst, obwohl sie sich auch daheim nicht hatte einzuschränken brauchen, zu größerer Sparsamkeit. So hatte sie's ihrem Manne als übertriebenes Selbstbewußtsein ausgelegt, daß er als Staatsbeamter von einer Privatgesellschaft keine Vergünstigung entgegennehmen wollte. Er nannte das aber bloß: sein stark ausgeprägtes berufliches Taktgefühl. In derlei Doktorfragen fochten sie öfters einen kleinen Strauß aus.

Nachdem sie sich in der schwimmenden Wohnung, die sie nun für fünf Tage beherbergen sollte, alles zurechtgelegt hatten, begaben sie sich auf einen Spaziergang durchs Schiff.

Es war sehr bequem eingerichtet, der Gesamteindruck der ersten Klasse war geradezu glänzend. Der Speisesaal, das Damenzimmer, der Musiksalon hatten mächtige Ausdehnung, eine in altdeutschem Stil eingerichtete Schenke bildete jetzt schon den Sammelpunkt einer stattlichen Herrenrunde, die internationale Gesellschaft war höchst elegant, es war ein Damenfriseur an Bord, eine kleine Druckerei, ein Rasiersalon, und nun baute sich auf dem Promenadendeck auch schon die von zwanzig Stewards in blauem Matrosendreß gebildete Musikkapelle auf.

Rasselnd lief die Kette des großen Krans auf dem Achterdeck noch immer über die eiserne Rolle, der mächtige Haken pickte die größten Koffer auf und ließ sie im Gepäckraum verschwinden. In das Poltern und Klirren mischte sich das Rufen aufgeregter Reisender, die Dampfpfeife gab in tiefem Dreiklang ein unheimlich dröhnendes Zeichen, das man ein paar Kilometer weit hören mußte.

Schlag zwölf Uhr wurde der Anker aufgewunden, und eine kleine Dampfbarkasse, die neben dem Riesendampfer wie ein Liliput wirkte, spannte sich vor, um die ›Holstein‹ aus dem Hafen von Joliette in den grau und farblos daliegenden, von einem leisen Blasius gekräuselten Golf hinauszuschleppen. Die Musik spielte die Marseillaise, darauf die deutsche Kaiserhymne und zum Schluß: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«.

Jutta hatte auf eigene Faust den Bummel durchs Schiff weiter ausgedehnt, während ihr Gatte beim Zahlmeister geschäftlich in Anspruch genommen war.

Er suchte sie hernach lange. Auch Herr von Stangenberg beteiligte sich daran.

Sie stellte sich erst auf den Trompetenruf, der die Gesellschaft zum Gabelfrühstück sammelte, im Speisesaal ein.

»O, Gustl, an Bord weiß ich Bescheid, da kann mir nichts geschehen. Ich bin auch drüben in der dritten Klasse gewesen. Denk nur, da ist ein französischer Koch, der reist nach Assuan, ein Witwer, und er hat seine drei kleinen Mädelchen mit, eine ist vier, die andern sind sechs und sieben Jahre. Und eine italienische Truppe; die will in Kairo Varieté-Vorstellungen geben. Wie lustig das dort zugeht. Aber auch eine schwächliche junge Frau. Ihr Mann hat in Alexandrien eine Stellung als Kutscher. Sie reist ihm nach, fürchtet sich aber so schrecklich vor der Seereise. Na, ich hab ihr Mut gemacht, und da ist sie ordentlich aufgetaut.«

Der Landsmann wunderte sich über ihren Tatendrang und ihre vielseitigen Interessen. Succo seufzte. »Natürlich – die dritte Klasse ist wieder das nächste, worüber Du Dich unterrichten mußt.«

»Sie ist unterhaltender als die erste, lieber Gustav.«

»Eine Varieté-Truppe reist im Salon allerdings nicht mit.«

»Brummbär!« sagte sie lachend.

Die Herren hatten wegen der Tischplätze schon mit dem Obersteward verhandelt. Sie suchten nun an der Tafel neben der Freitreppe nach ihren Namen.

»Hier – Mr. Succo!« sagte der Rittmeister, auf eines der Kärtchen zeigend, die in der Reihenfolge der Tischplätze in die Tafel eingesteckt waren. »Aber da hat der wackere Beamte nun doch Verwirrung angerichtet, wie mir scheint. Sie sitzen dieser Schlachtordnung zufolge mitten in einer stockenglischen Gesellschaft.«

»Das fehlte noch. Unter Larven die einzige fühlende Brust.«

»Obersteward!«

Der Allmächtige kam sofort näher. »Ich habe Ihnen drei Plätze in der ersten Seitenkoje rechts gegeben. Das ist nahe bei den Fenstern. Sehr beliebter Platz.«

»Auch nicht zu weit von der Tür – wegen etwaigen Verschwindens in Fällen erzwungener Opfer?« warf Stangenberg ein.

»Aber mein Name steht doch hier. Wie kommt das? – Earl of Westmoreland, Mr. Smith, Mr. Succo, Mr. Brown, Lady Salmour.«

»O – das ist Mr. Succo aus Kairo. Uebrigens von Geburt auch ein Deutscher. Ebenfalls ›von Succo‹.«

»Ein Herr von Succo? Der in Kairo dauernd lebt?«

»Jawohl. Er ist dort Direktor einer Zuckerfabrik.«

»Kann das ein Verwandter von Ihnen sein?« fragte Stangenberg den Oberstaatsanwalt.

»Nicht – daß ich wüßte …«

Succo blickte etwas verstört darein. Es war Jutta, als hätte ihr Mann plötzlich die Farbe gewechselt.

Der Obersteward hatte sich suchend umgeblickt. »Da drüben steht er. Der junge Herr, der mit Lady Salmour spricht – Lady Salmour ist die blonde, schlanke Dame, neben dem Kapitän.«

»Oh –!« Succo zuckte leicht zusammen. »Das ist ja … hm, hm, das ist ja sehr seltsam.«

Der geschäftige Obersteward ward von einer andern Gruppe angerufen und wandte sich ab.

»Was hast Du, Gustl?« fragte Jutta verwundert.

»Dieser Herr von Succo – Fritz von Succo – ist nämlich allerdings verwandt mit mir, aber …«

Der Rittmeister horchte auf. »Sagen Sie mal: Fritz von Succo – früherer Regierungsreferendar? Etwa der?«

»Jawohl.«

»So sag doch, Gustl.«

»Ich kann das nicht so in der Eile …«

Jutta blickte forschend hinüber. »Ich sah den Herrn schon vorhin oben an Deck, aber da hört' ich ihn mit der englischen Gesellschaft sprechen und hielt ihn selbst für einen Engländer.«

»Er hat eher was von 'nem Amerikaner,« sagte Stangenberg. »So ganz bartlos, glatt rasiert. Und überhaupt die ganze Haltung.«

»Ja, ja, stimmt. Besonders das energische Gesicht. – Nicht, Gustl?«

»Bitte, sieh nicht so auffällig hin, Jutta,« sagte Succo rasch. »Denn – offiziell kennen wir einander nicht.«

Stangenberg hatte einen Blick des Einverständnisses mit Succo gewechselt. »Das Frühstück läßt bitten, meine Herrschaften!« fiel er lebhaft ein.

Soeben hatten die Stewards in langem Zuge den Speisesaal betreten. Sie brachten das erste Vorgericht. Die Passagiere nahmen ihre Plätze ein. Der größte Teil des mächtigen Saales war nun bald besetzt. Die Mitteltafel, an der der Kapitän saß, wies keine einzige Lücke auf. An der kleineren Tafel, wo die drei Deutschen ihre Plätze angewiesen bekommen hatten, fand sich nach einiger Zeit noch ein halbes Dutzend Landsleute ein. Deutscher Sitte folgend, stellten sich die Ankömmlinge durch kurze Namensnennung vor. Succo blieb aber während der Mahlzeit sehr zurückhaltend. Jutta war dies gewohnt. Ihr Mann pflegte erst dann aufzutauen, wenn er über neue Bekanntschaften gründlich unterrichtet war. Es gab zunächst immer ein vorsichtig abwägendes Tasten. Erst gegen den Nachtisch hin ward auch er etwas wärmer: er hatte in seinem Gegenüber, einem rundlichen alten Herrn mit artig zurückgekämmtem, weißem Haar, einen berühmten Staatsrechtslehrer entdeckt, den Universitätsprofessor Dr. jur. Gneisel aus Heidelberg. Jutta war nicht so wählerisch. Sie kümmerte sich um Rang, Stand und Namen neuer Erscheinungen zunächst gar nicht. Eine humoristische Gesprächswendung, ein sinniges Wort, ein gutes Urteil führten einen Fremden bei ihr viel besser ein.

Als sie hernach auf dem Promenadendeck den Kaffee nahmen, berichtete sie über ihren Tischnachbar, den sie in ein lebhaftes Gespräch hatte verwickeln wollen, nicht ohne etwas Bosheit.

»Er ist mehrfacher Hausbesitzer in Dresden, heißt Marcks, hat zweimal die Reise um die Erde gemacht, mit einer Stangenschen Reisegesellschaft, ist magenleidend, Antialkoholiker, kennt nichts von der neueren Literatur, schimpft noch auf Richard Wagner, ist von Haus aus Apotheker und reist jetzt nach Heluan am Nil, weil in Deutschland ›ja auch nichts los‹ ist.

Stangenberg lachte hell auf. »Gnädige Frau, vor Ihnen muß man sich in acht nehmen!«

»Eine anregende Tischgesellschaft – nicht?«

»Ich wunderte mich, Jutta, daß Du Dich gleich so eingehend mit dem Manne beschäftigt hast.«

»Um festzustellen: wes Geistes Kind er ist.«

»Und bist nun fünf Tage lang quasi verpflichtet, mit ihm Konversation zu machen.«

»Ich denk nicht dran, Gustl.«

»Dann hat er ein Recht, sich gekränkt zu fühlen.«

»I wo. Wenn ich ihn recht beurteile, wird er noch vor dem Diner seekrank – und wir sehen ihn erst bei der Landung in Aegypten wieder.«

»Sie haben eine grausame Phantasie, meine Gnädigste. – Uebrigens finde ich, der Kasten wackelt schon jetzt nicht unbedenklich.«

Die französische Küste war als graubrauner Streifen an der nördlichen Horizontlinie zurückgeblieben. Graue Wogen wälzten sich mit weißschäumenden Kämmen gegen die Backbordseite des Dampfers. Es war noch nicht abzusehen, ob es zum Rollen oder zum Stampfen kommen würde. Vorläufig gab es nur kleine Schwankungen, die aber doch die ängstlicheren Gemüter veranlaßten, sich in den großen Liegestühlen, die an Deck standen, der Ruhe hinzugeben. Bald lagen an die hundert Passagiere – Männlein und Weiblein – in langer Reihe nebeneinander, in Pelze gepackt, in Plaids bis zum Kinn eingewickelt.

Es war sehr kalt und sehr windig geworden. Jutta hatte ihre weiße, gestrickte Wollmütze mit mehreren Nadeln festgesteckt und ihren Pelzbolero zugeknöpft. In dem fußfreien Rock wirkte ihre schlanke Erscheinung wieder so frisch und mädchenhaft, daß dem in Ehedingen schwarzseherischen Stangenberg der starke Gegensatz der beiden Gatten und ihrer Temperamente fast bedenklich erschien: Succo gemessen, korrekt, ohne Frage ein tadelloser Gentleman, aber doch erschreckend engherzig, vom Wirbel bis zur Zeh ein Akten- und Formenmensch – sie ein impulsives Wesen, durchaus frei von Pedanterie, klug, aufgeweckt, oft von nervöser Empfindsamkeit, dabei mit Sinn für Humor und einem ganz kleinen Schuß Koketterie.

»Ich schlage ein Schiffsspiel zur Erwärmung vor,« sagte Jutta, nachdem sie den Kaffee genommen hatten.

Die Herren waren einverstanden. Stangenberg schon deshalb, weil sie so außer Hörweite der andern Gesellschaft kamen. Es drängte ihn, mit Herrn von Succo über dessen Namensvetter zu sprechen.

Auch Juttas erste Frage, als sie das Promenadendeck verlassen und auf dem doppelt überbrückten Durchgang zum Hinterdeck einen windgeschützten Platz gefunden hatten, war die nach dem ihr unbekannten Verwandten.

Succos Antlitz hatte sich seit der Begegnung noch nicht wieder aufgeheitert. »Es verdirbt mir wahrhaftig einen Teil der Reisefreude,« sagte er verstimmt.

»Gustl?! – Das wäre!«

»Aber bester Herr von Succo – wie kann Sie das weiter anfechten?«

»Er trägt nun doch mal unsern guten Namen in der Welt spazieren.«

Stangenberg zuckte leicht die Achseln. »Derlei kommt in fast allen Familien vor. Auch den besten. Irgendein Glied will meistens nicht taugen.«

»Man stößt es ab,« sagte Succo, »aber damit ist im Grunde gar nichts erreicht.«

»O doch. Es hat dann kein Mensch mehr ein Recht, einen verantwortlich zu machen.«

»Sie haben sich des Falls sofort erinnert?«

»Natürlich. Aber das liegt nun doch schon gut acht, neun Jahre zurück, nicht? Ein Bruder von mir – der älteste – war damals Etatsmäßiger bei den Königsgrenadieren.«

»Richtig. Wir sprachen ja damals noch im Kaisermanöver – vor vier Jahren – die ganze Sache durch.«

»Stimmt, stimmt.«

»Na, Gustl, Du verstehst's aber wirklich, Spannung zu machen. – Sie verstehen's gleichfalls, Herr Rittmeister,« setzte sie lachend hinzu. »Ich denke immer: nun bekommt man einen hochinteressanten Roman zu hören, es fallen die dunkelsten Anspielungen, die Phantasie hat Gelegenheit zu den ausschweifendsten Vermutungen …«

»Ach, Jutta, es ist wirklich nichts Lustiges.«

Sie behielt ihren übermütigen Ton trotzdem bei. Die Hände im Rücken verschränkend, wippte sie sich auf den Fußspitzen auf und nieder und sah ihren Mann mit angenommener Strenge an. »Warum hast Du mir diese Vetterschaft unterschlagen? Gestehe, Angeklagter.«

»Jutta – ich begreife Dich nicht.«

»Herr von Stangenberg, helfen Sie mir. Ist eine solche Verheimlichung eigentlich ein Scheidungsgrund?«

»Na, meine Gnädigste, Totschweigen wär' allerdings das beste, denn er ist tatsächlich ein sauberes Früchtchen gewesen …«

»Wer? Mein Mann?«

»Um Himmels willen – Gnädigste!«

»Jutta, nun laß doch diese – diese ganze Art. Du siehst doch, wie unangenehm mir die Geschichte ist.«

»I, bester Herr von Succo, aber es trifft Ihre Familie doch nicht der leiseste Tadel dabei.«

»Gegen welches der zehn Gebote hat dieser geheimnisvolle Herr Vetter also gesündigt? Darauf kann ich jetzt endlich eine erschöpfende Antwort beanspruchen.«

Es war Juttas Ton noch immer nicht zu entnehmen, ob sie die Angelegenheit wirklich ernst auffaßte. Succo runzelte die Stirn.

»Ich habe Dir von Fritz von Succo bisher bloß deswegen nichts gesagt, weil wir seinerzeit auf einem Familientag in Hannover, der extra deswegen einberufen war, uns geeinigt haben – das heißt so ziemlich sämtliche Vertreter des Namens von Succo – mit Vetter Fritz jegliche Verbindung abzubrechen. Sein Name wurde von da an zwischen uns auch nicht mehr genannt. Er selbst war seitdem so gut wie tot für uns.«

»Ja – und – die Ursache?«

»Ganz kurz. – Nein, bitte dringend, lieber Herr von Stangenberg, bleiben Sie! – Also er war Regierungs-Referendar, machte eine Uebung als Reserve-Offiziersaspirant, und dabei passierte eine scheußliche Geschichte. Er ging tätlich gegen seinen Vorgesetzten vor – Krakeeler war er schon immer gewesen – und erhielt vom Kriegsgericht zehn Monate Gefängnis, zusätzlich Degradation.«

»Oh –!«

»Ja, meine Gnädigste, ganz garstige Sache. Wirklich ein mauvais sujet. Da läßt sich nichts beschönigen.«

Eine Weile herrschte darauf Schweigen. Jutta war ernst geworden.

»Hat er sonst noch Verwandte in Deutschland – ich meine, Blutsverwandte?« fragte sie endlich.

»Ja, seine Mutter ist noch am Leben.«

Ueberrascht blickte sie auf; auch der Rittmeister.

»Sie werden kaum von ihr gehört haben, Herr von Stangenberg. Sie lebt ganz zurückgezogen. Onkel Bodo hatte sich damals ihrer angenommen.«

»Ach – etwa Tante Eveline?« rief Jutta überrascht.

»Ja. Du hast sie ja flüchtig kennen gelernt, Jutta. Auf dem Polterabend von Herta – im Kaiserhof in Berlin vor zwei Jahren – da war sie auch.«

»Gottchen – Tante Eveline – die!«

Succo war jedes Wort dieser Erörterung eine Qual. Er fügte aber, zu Stangenberg gewandt, nun doch noch hinzu: »Uebrigens war ja vor der Welt das Dekorum in denkbar bester Form schon dadurch gewahrt, daß auch seine eigene Mutter sich damals glatt von ihm losgesagt hat.«

»Hm, ja. Ein verteufelter Bursche. – Seither hatten Sie nie was von ihm gehört?«

»Einmal hieß es, er wäre im Haag Versicherungsagent.«

»Hat er sich auch nie um Geld an jemand gewandt?«

»An seine Mutter. Ja, anfangs. Wenigstens ließ Onkel Bodo – das ist der Regierungspräsident, Sie wissen – ja, der ließ mal nach der Richtung etwas verlauten. Aber in den letzten Jahren war er wie spurlos von der Bildfläche verschwunden. Ich hätte ja nie im Leben eine Reise nach Kairo gemacht, wenn ich geahnt hätte: man hat da mit diesem – diesem Herrn ein Wiedersehen zu gewärtigen.«

»Hat er Sie vorhin eigentlich erkannt?«

»Ich glaube nicht. Aber bei passender Gelegenheit muß ich's ihn natürlich merken lassen, daß er für uns Luft ist.«

»Sein Auftreten ist sonst nicht übel. Schlecht zu gehen scheint's ihm auch nicht.«

»Er ist ein sehr fähiger Mensch gewesen. Auch im Amt gut zu verwenden. Nur eben – gänzlich direktionslos.«

»Er war noch sehr jung, als das passierte – nicht?«

»Dreiundzwanzig. Gerade hatte er sein erstes Verwaltungsexamen gemacht. Unverantwortlich. So ein Schlag – gewissermaßen uns allen ins Gesicht.«

»Ja. Es passieren doch tolle Dinge. – Wie wär's nun mit einem Kognak oder Kirsch, Herr von Succo?«

»Nimmst Du auch einen Likör, Jutta?«

»Zur Seelenwärmung, gnädige Frau.«

Sie raffte sich gewaltsam aus ihrer Nachdenklichkeit auf. »Danke, danke. Wir wollen zu dem Zweck lieber ein kindliches Spiel im Freien vornehmen, denk ich. Das ist auch wesentlich gesünder, meine Herren.«

Succo hatte bereits einen der Stewards herbeigewinkt und bei ihm seine Bestellung gemacht. »Es ist mir ganz öde im Magen geworden von der Aufregung. – Da, fühle mal, Jutta, eiskalte Hände hab ich.«

Sie nahm seine Hand nicht – in einem unwillkürlichen Zurückzucken, als ob sie sich vor seiner Kälte fürchtete. Flott fing sie dann mit den Vorbereitungen zu der Spielpartie an. Sie ließ von einem Schiffsjungen das Spielbrett nebst den Sandsäckchen herbeischaffen, stellte es mit seiner Hilfe auf und unterwies die Herren in den Spielregeln. Man warf die kleinen Sandsäckchen nach den mit Zahlen versehenen Feldern des schräg gestellten Brettes. Die Felder mußten in einer bestimmten Reihenfolge gewonnen werden. Jutta begann sogleich das Spiel mit den ersten drei Würfen. Jeder Wurf saß.

»Kinderspiel!« rief der Rittmeister, nahm die drei Säckchen, zielte und – warf sie alle daneben.

»Sie müssen ruhiger werfen,« meinte Succo, »und die Schwankung des Bodens dabei mitberechnen. Ungefähr so. – Plumps, das war vorbei. Ich habe mich zu weit zurückgestellt. So – klein bißchen näher.«

»Nee, Gustl, mogeln ist nicht!«

»Aber Jutta –!«

»Bitte, hier ist der Strich.« Sie war ganz Eifer.

»Gut. Also noch einmal von vorn.«

»Nein, Du hast jetzt bloß noch zwei Würfe.«

Succo warf – und verfehlte das Ziel abermals. Er schleuderte darum das dritte Säckchen hitzig hinterdrein. »Das ist ja stumpfsinnig.«

Sie lachte und neckte ihn. »Ja, Gustl, Erkenntnisse ausarbeiten oder Anklagen schmieden, das ist 'ne brotlose Kunst, die hilft nicht viel im praktischen Leben!« Und voll Uebermut fuhr sie im Spiel fort. Selten, daß ihr ein Wurf mißlang. Sie hatte eine kindliche Freude, und man hörte ihr Lachen auf dem ganzen Promenadendeck. In ihrem Eifer sprang sie immer wieder zum Brett und hob die Säckchen auf, sie den Herren bringend, die sich an die Schwankungen des Bodens noch nicht so wie sie gewöhnt hatten. Sie wirkte in ihrer drolligen Dienstbeflissenheit wie ein kecker Backfisch. Aber Succo war doch unangenehm berührt von ihrem burschikosen Ton, denn es stellten sich oben am Geländer des Promenadendecks immer mehr Zuschauer ein. Er konnte nichts Degagiertes leiden; wenigstens bei seiner Frau.

Stangenberg dagegen fand sie entzückend. Ihr Spieleifer steckte ihn selbst an. Er war auch erfreut darüber, daß sein militärisch geschulter, von Jugend auf an Strapazen gewöhnter Körper sich beim Spiel noch so gewandt anstellte: nach kurzer Uebung gelangen ihm schon die Würfe ganz leidlich, und es fand dann zwischen ihm und der jungen Frau ein ehrgeiziger Wettkampf statt. Succo verdarb sich alles durch die zornige Hast, mit der er das Spiel betrieb.

Schließlich waren sie alle drei heiß geworden, und Jutta schloß die Partie.

»Ach, ich schwärme für die Seefahrt,« sagte sie, die Arme erhebend und die Hände im Nacken verschlingend, indem sie mit ihren großen Augen übers rollende Wasser hinblickte. Vom Land war nichts mehr zu sehen. Meer ringsum. »Und besonders den grauen Himmel liebe ich. Das ist der echte Marineton.«

Sie kletterten die steile Treppe zum Promenadendeck hinauf und wandelten droben plaudernd auf und ab.

»Ihr Herr Vater ist lange als Kapitän gefahren, gnädige Frau?« fragte Stangenberg.

»Bis vor zwei Jahren, wo er die Inspektion bekam.«

»Er steht auch in der Reserve der Kaiserlichen Marine,« setzte Succo hinzu. »Jetzt vielmehr Seewehr. Als Offizier hat er da das Recht, das Eiserne Kreuz in der Schiffsflagge zu führen.«

»Ich freue mich sehr, sehr, sehr, ihn wiederzusehen,« sagte Jutta. »So weit ich zurückdenken kann, hab ich ihn immer nur besuchsweise für ein paar Tage gehabt. In Koblenz – in der Pension – da war's immer ein Fest für die ganze Klasse. Die Mädels schwärmten ihn alle an.«

»Ihre Frau Mutter ist früh verstorben, sagte mir Ihr Herr Gemahl.«

»Ja. Ich war noch ein Kind.« Für ein paar Sekunden blickte sie wieder gedankenvoll übers Wasser. Etwas überlegen lächelnd fuhr sie dann fort: »Das ist die Erklärung für meine erschreckende Unerzogenheit. – Was, Gustl, in dem Sinne hast Du's doch zweifellos gesagt?«

»Aber keine Ahnung, Jutta! Wie kommst Du darauf?«

»Sie lachen, Herr von Stangenberg, weil ich das gleich erraten hab?«

»Man muß vor Ihnen ewig auf der Hut sein, gnädige Frau. Sie gehen scharf ins Zeug.«

Es war auch wirklich ein fortgesetztes amüsantes Plänkeln. Dabei war selten festzustellen, ob sie nicht die kleinen Spitzen, die so drollig wirkten, mit vollem Bedacht vorbrachte. Stangenberg war noch immer nicht so recht klug aus ihr geworden. Forderte sie's eigentlich heraus, daß man ihr den Hof machte?

Als man späterhin mit einigen Landsleuten an einer windgeschützten Stelle des Promenadendecks eine Plaudergruppe bildete, belustigte es ihn, zu beobachten, wie sie scheinbar auf all die Gemeinplätze der neuen Bekannten einging, aber durch eine feine, den andern unverständliche Ironie immer über der Sache schwebte. Mit einer Freifrau von Druhsen, einer mittelalterlichen, sehr gönnerhaften, sehr redseligen Dame, die mit einem Gesellschaftsfräulein reiste, hatte der Oberstaatsanwalt verschiedene Anknüpfungspunkte gefunden: vor allem gemeinsame Freunde und sogar entfernte Verwandte in der Armee und im preußischen Staatsdienst. Eine Unmenge adliger Namen wurde genannt, die verwandtschaftlichen Beziehungen wurden eingehend festgestellt. Auch Stangenberg war schon im Begriff, mit beiden Füßen wieder in das so ergiebige Thema der Rang- und Quartierliste hineinzuspringen – doch da streifte sein Blick zufällig Frau Juttas Miene. Es lag eine so drollig scheinheilige Bewunderung in dem Ausdruck, womit sie der Aufzählung lauschte, daß er, über sich selbst verlegen, rasch wieder abbaute.

»Ich staune über Ihr fabelhaftes Gedächtnis, gnädige Frau,« sagte er nun lächelnd zu Frau von Druhsen. Und bemerkte dabei ein lustiges Aufzucken in Frau Juttas Antlitz.

»Von den uns nahestehenden Familien kenne ich alle Seitenlinien auswendig, aber auch alle. Die Succos und die Druhsens hatten erst neuerdings mehrere neue Verbindungen durch Heirat. – Und denken Sie doch, Herr von Succo, da hab ich nun in der Schiffsliste vorhin auch wieder den Namen Succo gefunden. Ein Mr. Succo aus Kairo. Und eigentlich gleichfalls: von Succo. So sagte wenigstens der Zahlmeister. Ich fragte ihn natürlich gleich. Was kann das wohl für ein Zweig sein?«

Ein paar Sekunden lang erwartungsvolle Stille – denn Succos wachsende Unruhe hatte die Sache auffällig gemacht. Er warf nun aber plötzlich den Kopf etwas zurück und sagte ziemlich scharf, wenn nicht hochmütig, in einem gewissen offiziersmäßig schneidigen Ton: »Mit diesem Herrn von Succo aus Kairo lehnen wir eine Verwandtschaft durchaus ab. Jede Beziehung, gnädige Frau.«

»Ah –!« Den Mund ein wenig offen lassend, mit wichtiger Miene, sah sie erst den Rittmeister, darauf die etwas entfernter sitzende junge Frau des Sprechers an. Beide schwiegen. »Pardon!« sagte sie dann, ihre Diskretion ein bißchen zu indiskret betonend.

Juttas Blicke waren denen ihres Gatten gefolgt. Es stand für sie fest, daß seiner scharfen Erklärung eine bestimmte Absicht zugrunde gelegen hatte.

Und sie täuschte sich nicht.

In demselben Augenblick nämlich waren zwei Herren dicht an ihnen vorübergekommen – und der eine davon war der Vetter ihres Mannes.

Ein ganz klein wenig hatte der Fremde gestutzt, kaum merklich das Tempo verkürzend. Aus seinen hellgrauen, großen Augen schweifte ein fragender Blick über die Gruppe – und in kurzem, bestürztem Erkennen begegnete er dem des Juristen.

»Der ist es?« fragte die Baronin in scharfem Flüsterton. – »Er hat es unbedingt gehört!«

Wieder herrschte darauf ein peinliches Schweigen.

Die beiden fremden Herren waren weiter geschritten und, gegen den Wind ankämpfend, um den Rauchsalon herum auf die andere Deckseite gegangen.

Jutta erhob sich.

»Ist Dir kalt?« fragte ihr Gatte, gleichfalls aufstehend.

Da sie nicht antwortete, sondern die Gruppe verließ, kam er rasch an ihre Seite und begleitete sie, indem er bei ihr einhängte.

»Ich hatte natürlich meine Gründe, Jutta, Frau von Druhsen sofort reinen Wein einzuschenken. Herausgebracht hätte sie's doch. Und es traf sich nun mal so, da der – der Betreffende – gerade vorbeikam. Damit ist nun von vornherein festgestellt: so stehen wir. Uebrigens entschuldige. Es war mir selbstredend gleichfalls peinlich.«

Sie nickte kaum.

Nach einer Pause hob er wieder an: »Hm. Irgend etwas stimmt nicht, Jutta. Du hast mir da sicher was übel genommen, wie? Na, sag doch. Bist Du deshalb aufgestanden?«

Sie hatte sich von ihm freigemacht. »Bewahre. Bloß um den Herrschaften Gelegenheit zu geben, den Fall unter sich zu erledigen. Das war doch jetzt der gegebene Moment.«

»Das ist nun wieder mal ganz Jutta,« sagte er. Und versuchte zu lächeln.

*

Ihre Menschenkenntnis trog übrigens nicht. Als sie auf ihrer Wanderung wieder in die Nähe der Gruppe kamen, hörten sie Frau von Druhsen eifrig auf Herrn von Stangenberg einreden. Der Name Succo kam in jedem Satze vor.

»… Also es waren drei Brüder. Kuno von Succo, der als Oberlandesgerichtspräsident starb. Das war der Vater von dem jetzigen Oberstaatsanwalt. Der zweite Bruder war Philipp von Succo. Der starb sehr früh. Er war Major bei den Ulanen und hatte eine geborene von Zabell zur Frau.«

»Von Zabell mit zwei l,« warf das Gesellschaftsfräulein ein.

»Die Witwe lebt noch. Und deren Sohn muß es sein. Stimmt's?«

Der Rittmeister war ihr hilflos ausgeliefert.

»Der dritte Bruder ist als einziger noch am Leben: Bodo von Succo, der Regierungspräsident. Ja – und denken Sie – in einer solchen Familie … ach, Herr von Stangenberg, Sie wissen sicher noch Näheres …«

»Gnädigste, Sie sind doch schon so eingehend unterrichtet!«

Aber sie ruhte nicht. Hier war sie ganz in ihrem Fahrwasser. Mehrmals sah sie ihr Gesellschaftsfräulein geradezu beglückt an.

Was Stangenberg verschwieg, kombinierte sie. Und als er ziemlich ausgepumpt endlich die erstbeste Gelegenheit wahrnahm, um in den Rauchsalon zu verschwinden, fühlte sie sich imstande, der aufhorchenden Runde einen lückenlosen Tatbericht zu geben.

Also. Es hatte als ganz gewöhnliche dumme Kasinogeschichte angefangen. Der Referendar von Succo war Gast gewesen, Reserveoffizieraspirant, und war mit seinem Kompagnieleutnant in einen heftigen Wortwechsel geraten. Der junge Offizier, schließlich bis aufs Blut gereizt, hatte ihn dienstlich hinausgeschickt, Succo verweigerte den Gehorsam, ein regelrechter Skandal entstand – es gab ein Handgemenge – in plötzlicher Wut holte Succo aus und schlug seinem Vorgesetzten vor den versammelten Kameraden ins Gesicht. Die überwältigten ihn natürlich und schafften ihn fort, noch bevor sich der Offizier in den Besitz seiner Waffe gesetzt hatte.

Nun entsann sich sowohl der Dresdener Apotheker und Weltumfahrer als auch sein Nachbar: sie hatten darüber seinerzeit in den Tagesblättern gelesen. Die schufen aber Verwirrung, denn sie brachten ein paar andere ähnliche Fälle durcheinander. Die Sache lag ja schon so lange zurück.

Der Nachbar des Apothekers, ein junger, reicher Schlesier namens Schneider, dem man sofort den Namen ›der Kohlenbaron‹ gegeben hatte, bemühte sich – vergeblich – ein Einglas ins Auge zu klemmen. »Es war ein Herr von Münchhoff,« sagte er.

»Nicht von,« belehrte die Baronin, »bloß Münchhoff.«

»Dann ist es zu einem Duell gekommen?« fragte der Apotheker.

»Nein, der Ehrenrat hat es nicht geduldet, weil der junge Mann doch gleich in Untersuchungshaft gekommen und abgeurteilt worden ist.«

Der Schlesier hatte ein Bonvivantlächeln aufgesetzt. »Zweifellos war's doch 'ne Mädelsgeschichte. Nicht?«

Frau von Druhsen hob die Augenbrauen und räusperte sich. »Details wollen wir lieber nicht erörtern.«

Nun räusperten sich auch die anderen.

»Jedenfalls schlossen Gefängnis und Degradation jede Satisfaktion aus,« meinte der Kohlenbaron.

»Höchst peinlich für die Familie,« sagte das Gesellschaftsfräulein.

Der junge Schlesier machte wiederum einen Versuch, sein Monokel unterzubringen. »Ich erinnere mich, Münchhoff sollte von seinem Regiment gehalten werden, nahm dann aber doch seinen Abschied.«

Frau von Druhsen lehnte sich in ihrem Liegestuhl behaglich zurück. »Ich hatte mir's doch gleich gedacht, daß mit diesem Mister Succo aus Kairo irgend was nicht stimmte.«

Und die Unterhaltung plätscherte in der angeschlagenen Tonart weiter.

An der Tür zum Rauchsalon stieß Herr von Stangenberg mit dem Ehepaar Succo wieder zusammen. Jutta merkte ihm eine kleine Verlegenheit an: weil er, wenn auch ohne sein Verschulden, von der fremden Dame in den Klatsch mit hineingezogen worden war. Sie hatte ein besonderes Lächeln. Das Thema selbst ward zwischen ihnen aber nicht mehr angeschnitten.

»Mußt Du nicht bald in die Kabine, um Toilette zu machen?« fragte Succo seine Frau.

Der Vorwand kam ihr ganz gelegen. Sie sagte sich auch, daß ihr Gatte sich nun doch von Stangenberg ausführlich Bericht über die Auffassung der andern erstatten lassen wollte. Denn das Urteil der Welt war ihm ja Richtschnur in allem. »Ja, es wird bald Zeit. Aber laß Dich nicht stören, Gustl. Ich spaziere bloß noch ein bißchen über Deck.«

So trennten sie sich denn.

Jutta war es ein rechtes Bedürfnis, noch ganz für sich etwas ›See kneipen‹ zu können.

Glanzlos war die Sonne untergegangen. Der Anblick der dunklen Flut hatte etwas Unheimliches. Das Wasser wies nur in der aus den Kajütenfenstern vom Licht getroffenen Bahn weiße Schaumkämme auf, sonst wirkte es wie eine schwarze, zähe Masse, die sich hob und senkte mit dumpfem Donnern und dröhnendem Anprall an die Bordwand.

Als Jutta später, um zur Kabine zu gelangen, das obere Promenadendeck hinter der Kommandobrücke betrat, begegnete ihr der Kapitän. Ihr Gatte hatte sich mit ihm bereits bei der Ankunft im Zahlmeisterbureau bekannt gemacht. Inzwischen hatte der Kapitän durch den Zahlmeister erfahren, daß die Inhaberin der Kabine Nr. 1 die Tochter des sehr einflußreichen Inspektors Plaschke war, der rechten Hand des Generaldirektors. Er sprach sie also daraufhin an und lud sie und ihren Mann ein, jederzeit und nach Gefallen die dem Publikum sonst gesperrte Kommandobrücke zu benutzen.

Sie folgte der Einladung sofort. Als Gäste des ersten Offiziers befanden sich noch ein paar Herren dort. Es war auf deutsch eine lebhafte nautische Unterhaltung zwischen ihnen im Gange.

Auf der Brücke selber war es dunkel. Aber man übersah von hier aus die verschiedenen hell erleuchteten Decks. Jutta verblüffte die enorme Höhe über dem Bug, der sich in gleichmäßigem Takt tief da unten in die Wogen senkte.

»Die Wolkenkratzer des Meeres,« sagte soeben einer der Herren drüben.

Der Kapitän leistete ihr noch ein Weilchen Gesellschaft und trat dann zu der Gruppe auf der anderen Seite. Jutta versenkte ihre Hände über Kreuz in die Aermel ihres Pelzbolero, lehnte sich gegen die Brüstung und ließ ihren Blick mit dem Bug wandern. Allerlei Erinnerungen an schöne, eindrucksreiche Stunden, die sie bei ihrem Vater auf der Kommandobrücke verlebt hatte, tauchten in ihr auf.

Die Herren drüben rauchten. Alle vier hatten die Arme auf das ziemlich hohe Geländer aufgestützt. Gegen den Nordwind schützte sie der Aufbau des Kompaßhauses mit den anstoßenden Staatskabinen.

Mit dem ihr vertrauten Rhythmus der Schiffsschraube, dem Gurgeln und Poltern der See und dem Rauschen in ihrem Ohr, das so klang, als spräche jemand in eine Muschel, vermischten sich die Stimmen der Herren drüben. Die der beiden Seeleute hatten den behaglichen, leicht ans bremische Platt erinnernden Beiklang. Die der beiden Gäste waren grundverschieden: die eine, etwas nasal, mit einem Anflug von englischer Trübung der Vokale, die andere sehr klangvoll und frisch, dabei warm und herzlich. Sie stellte sich unwillkürlich vor, daß ihr Besitzer – von dem sie in der Dunkelheit nur die Umrisse sah – ein offenes Bajuvaren- oder Rheinländergesicht mit blondem Vollbart und freundlichen, ›knitzen‹ Augen haben müßte. Unbedingt besaß er Humor.

So gab er gerade eine höchst drollige Schilderung des Arabervolks. Sie widersprach durchaus den Darstellungen, die Jutta bisher von den Vergnügungsreisenden gehört hatte.

»Man muß sich eben nur vorstellen: es sind Kinder geblieben,« sagte er lebhaft. »Sie haben alle Untugenden unerzogener Kinder – aber auch alle Vorzüge. Ein primitives Völkchen. Ich möchte meine arabischen Arbeiter um keinen Preis mit europäischen vertauschen. Trotz ihrer fast märchenhaften Faulheit. Diese Naivität, diese Liebenswürdigkeit, Geschäftigkeit – und ihre putzige Art, Ehrgeiz zu betätigen. Nein, ich komme mit meinen Schwarzen vorzüglich aus.«

»Die Touristen versündigen sich viel an ihnen,« sagte der Kapitän in seiner etwas bedächtigen Art, »wenigstens in den größeren Städten, in den Häfen. Die Korruption kommt von Europa.«

»Nicht die Korruption. Aber bedenken Sie: die Bibel, der Schnaps und der Assessor – für ein Naturvolk ist das zu viel der Kultur auf einmal.«

Die Herren lachten, und das Gespräch ging weiter. Jutta verstand nicht alles, hatte auch nicht die Absicht, zuzuhören, obwohl sie's interessierte. Noch mehrmals gab's ein gemütliches Lachen von allen vier Herren.

»Verleben Sie den Sommer denn auch dort?« fragte jetzt der Kapitän drüben.

»Juli und August am Libanon, sonst das ganze Jahr in Bedracheïn bei Kairo. Unweit vom alten Memphis.«

Der Libanon – Memphis. Was das für Klänge waren! Sie hatte sich nun gleichfalls mit beiden Ellbogen auf das Geländer aufgestützt und atmete tief die Luft ein. Dabei beugte sie sich unauffällig ein wenig vor, um ihn zu sehen.

›Wenn er doch nur weiter erzählen wollte!‹ sagte sie zu sich.

Auch drüben schien der Wunsch zu bestehen. Sie hörte den Kapitän in gemütlichem Ton etwas sagen, worauf die anderen Herren wieder lachten. Und der ›Aegypter‹ fuhr zu plaudern fort.

»Gut, also zum Kapitel Humanitätsduselei, meine Herren. Ich sagte Ihnen schon, ich hab da einen arabischen Diener, den kleinen Achmed. Ein kluger Bursche. Treu wie ein Hund – gegen mich demütig, ohne dabei zu kriechen, und im Grunde doch von einem brennenden Ehrgeiz und Stolz. Und wollen Sie mir's glauben: mit seinen feinen Bemerkungen – er radebrecht ein bißchen Deutsch und Englisch – beschämt der kleine ›Wilde‹ oft manchen Kultureuropäer.«

»Die Geschichte aus Bremen, erinnern Sie sich noch?« warf der erste Offizier ein. »Die müssen Sie sich auch mal erzählen lassen, Herr Kapitän.«

»Eine Moritat von Achmed?«

»So was ähnliches. Wir hatten ihn an Land mitgenommen, und im Hotel – es war da eine größere Herrengesellschaft in ziemlich vorgerücktem Stadium – umzingelt ihn plötzlich eine Kette von befrackten Gentlemen, die einen Niggertanz rund um ihn herum ausführen, ihm die Zunge zeigen und in eine Art Kriegsgeschrei ausbrechen. Das sollte ein Scherz sein. Aber mein Achmed blieb sehr ernst. Und als ich dazu kam und ihn befreite, fragte er mich ganz traurig: ›Oh, Sir, warum glauben diese Gentlemen, daß ich schlecht bin? Weil ich dunkel bin? Achmed dunkle Haut, aber weißes Herz.‹«

»Famos!«

»Und bei den verehrten Landsleuten«, sagte der Kapitän lachend, »war's eben umgekehrt.«

Jutta empfand sofort Sympathie mit Achmed – und auch mit seinem Herrn.

Der rauchte ein paar Züge, dann fuhr er in munterem Tone fort: »Als wir unsere Gastfreunde in London verließen – es waren da zwei ganz allerliebste Mädels von sieben und neun Jahren im Haus – da bat er mich um Vorschuß, der Boy. Anderthalb Pfund. ›Hallo, Achmed, was soll's damit?‹ frag ich. Denn das ist doch ein Vermögen für den Burschen – ich gab ihm monatlich achtzehn Schilling. Er druckst und schämt sich. Aber endlich kommt's raus. In der Regentstreet hat er zwei Puppen gesehen, wunderschöne, blonde Puppen, die zusammen anderthalb Pfund kosten, und die will er zum Abschied den beiden kleinen Misses schenken. Das imponierte mir. ›Zahl Du ein halbes Pfund – hier, den Rest will ich beisteuern,‹ sag ich. – ›O no, Sir,‹ wehrte er sich ängstlich. – ›Was, Boy, Du willst nicht annehmen?‹ – ›Oh, Sir, es muß mir machen Arbeit, selbst zu verdienen – sonst es nicht Freude für mich, den Misses zu schenken,‹ sagte mein Achmed, der kleine Wilde.«

Am liebsten wäre Jutta jetzt hinübergegangen, um dem Fremden zu sagen, daß sie die ganze Geschichte von Achmed allerliebst fände.

»Warum haben Sie den Boy diesmal nicht mit an Bord gebracht?« fragte der Kapitän.

»Der Klimawechsel bekommt ihm nicht. Er hütet nun meine Wirtschaft in Bedracheïn. Da ist er Koch und Mädchen für alles, Sekretär, Groom und Reitknecht. Jedenfalls: verlassen kann ich mich bombenfest auf den schwarzköpfigen, kleinen Boy.«

Bedracheïn – den Namen kannte sie aus dem Baedeker. Das war die Bahnstation am Nil für die Pyramiden von Sakkarah.

»Sie leiten dort die vizekönigliche Zuckerfabrik?« fragte der Kapitän.

»Stimmt. Das Dorf selbst ist aber nicht weiter sehenswert. – Lediglich Achmed.«

In diesem Augenblick zündete sein Nachbar mit einem Sturmstreichholz seine kurze englische Holzpfeife an. Beim Aufflackern der prasselnden kleinen Flamme glitt der helle Schein über die Gesichter der Versammlung.

Und Jutta durchfuhr ein jäher Schreck.

Der ›Aegypter‹, den sie sich als blonden, jovialen Landsmann vorgestellt hatte, war brünett, er hatte ein glattrasiertes Gesicht mit sehr energischem Schnitt und großen, klugen, hellgrauen Augen.

Es war Fritz von Succo – der von ihrem Gatten verleugnete Vetter.

Es bedurfte nun für sie einer inneren Umformung. Was ihr Gatte ihr von seiner brutalen Tat gesagt hatte, das wollte mit dem persönlichen Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte, nicht recht zusammenstimmen.

Dennoch war von ihrem Gatten schon so viel Korpsgeist auf sie übergegangen, daß sie merkte: ihre Sympathie für Achmeds Herrn und Gebieter geriet rasch ins Sinken, ins Schwinden.

Und ihr nächster Gedanke war der: sie wollte möglichst unbemerkt die Kommandobrücke verlassen.

Die Herren sprachen so angeregt, daß keiner nach ihr hinsah, als sie sich der Treppe zuwandte.

Aber noch auf der untersten Stufe zögerte sie und lauschte zurück. Es lag nahe, daß der Kapitän nun ein Wort über sie sagte. Und dann mußte die doppelte Vertretung des Namens an Bord zwischen ihnen doch zur Sprache kommen. Man würde ihn nach Verwandtschaft oder sonstigen Beziehungen fragen – so wie vorhin ihren Mann. Was er dann wohl erwiderte?

»Jutta?« klang's fragend aus dem Halbdunkel vor ihr. Ihr Mann stand an der Tür zum Kabinengang; er hielt die Klinke schon in der Hand. »Das erste Trompetensignal. Man muß sich schleunigst umziehen. Wo hast Du denn gesteckt?«

»Ich? – Oh, bloß da oben, auf der Kommandobrücke.«

Sie wußte selbst nicht, weshalb sie ihm nicht sofort etwas über die Begegnung mit seinem Vetter sagte. Schwieg sie aus Schonung für ihren Mann? Um das leidige Thema, das ihm nun fast den ganzen Tag schon verdorben hatte, nicht noch einmal aufzurollen? Oder tat sie's, um den guten Eindruck nicht preiszugeben, der in ihr noch mit ihrem Vorurteil kämpfte?

Während sie in die Kabine eintraten, sprach sie, sich ein wenig überstürzend, bloß über die Einladung des Kapitäns und seine Liebenswürdigkeit.

Aber insgeheim ärgerte sie sich über sich selbst und ihre seltsame innere Unfreiheit.


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