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Der Speisesaal wies große Lücken auf. Auch der Platz neben Jutta war leer: sie hatte also richtig prophezeit. Der schlesische ›Kohlenbaron‹ war ziemlich schweigsam und bewies eine starke Abneigung gegen Fisch- und Fleischgerichte; auch der Oberstaatsanwalt und der Heidelberger Professor. Herr von Stangenberg trug nebst der jungen Frau die Kosten der Tafelunterhaltung allein.

Schon während des zweiten Ganges des fürstlichen Diners, das unter rauschender Musikbegleitung genommen wurde, hatten die Gläser, die auf den Tafeln standen, kleine Wanderungen ausgeführt: wie von unsichtbaren Händen geschoben, erst nach links, dann nach rechts. Da und dort erhob sich ein gezwungenes Lachen im Saale, oder es gab einen kleinen Aufschrei. Die Stewards holten eilends die Sturmhölzer, die sie an sämtlichen Plätzen festschraubten. Das Schiff rollte infam. Man sah die ersten Opfer in beschleunigtem Tempo den Saal verlassen. Plötzlich holte das Schiff über – für ein paar Sekunden drehte sich die Schraube frei in der Luft – und dabei gab's einen klirrenden Krach. Alle Flaschen und Gläser, die noch nicht in den Sturmhölzern standen, fielen um.

»Das soll nun eine Frühlingsfahrt nach dem ewig sonnigen Süden sein!« bemerkte Succo mit einem krampfhaften Lächeln.

»Wenn ich wüßte, daß ich das Deck ohne Unfall erreiche, ging ich doch lieber hinauf,« sagte Frau von Druhsen.

Jutta staunte über ihren Mann. Ein leichter Schweiß stand auf seiner Stirn; aber er nahm alle Willenskraft zusammen, um Herr seiner Nerven zu bleiben. So oft die rechte Schiffsseite, auf der ihre Tafel stand, sich senkte, schloß er die Augen und preßte die Zähne fest aufeinander.

Es schien für die Salonpassagiere nur noch nautische Themen zu geben. Mehrfach sprach man über die beruhigende Aussicht, daß man im Laufe der Nacht in den Schutz der Küste von Korsika käme; dann würde die stürmische Bewegung ohne Zweifel abflauen.

»Wer sich so lang tapfer hält, ist also gerettet,« sagte der Rittmeister, Juttas Gatten verstohlen von der Seite betrachtend.

Wieder gab's ein Klirren. Diesmal kam's aus dem Anrichteraum. »Für hundert Mark Porzellanbruch!« meinte ein Eingeweihter. Die Musikkapelle ließ sich aber nicht stören. Ihre Weisen klangen nach wie vor lustig durch den bald nach rechts, bald nach links sich neigenden, schon stark gelichteten Saal.

Ein paarmal hintereinander rollte nun das Schiff so stark, daß die Baronin sich mit der Rechten verzweifelt an ihren Nachbar, den Heidelberger Professor, anklammerte.

»O Gott, ist mir übel!« rief irgendwer.

Und das war das Signal zu einer allgemeinen Flucht. Wenige Augenblicke später saß Jutta mutterseelenallein mit Herrn von Stangenberg am Tisch. Auch ihr Gatte war verschwunden. Sie wußten beide nicht, wie dies so blitzschnell hatte vor sich gehen können. Komisch wirkte es auf alle Fälle.

»Es ist ja herzlos,« sagte der Rittmeister, »ich gebe zu, es wird einem als teuflische Schadenfreude ausgelegt. Aber man kann dagegen nicht an: es wirkt aufs Zwerchfell.«

Jutta mußte in sein Lachen mit einstimmen. »Es kam so plötzlich!« rief sie. Aber dann wandte sie doch unsicher den Blick der breiten Freitreppe zu. »Ich müßte wohl nach meinem Mann sehen.«

»Nein, nein, nein, ja nicht! Folgen Sie dem Rat eines Veteranen, gnädige Frau, es ist praktischer und edler, Ehegatten bekümmern sich im Zustand der Seekrankheit überhaupt nicht umeinander.«

»Sie sind wirklich herzlos.«

»Bitte sehr. Erstens hilft alles Zusprechen nicht. Und dann – raubt es Illusionen.«

Sie drohte ihm leicht mit den Augen, mußte aber doch wieder lächeln. Er freute sich sichtlich, daß er den Platz behauptet hatte, und schenkte zwei Gläser Sekt ein: eines aus Succos, das andere aus der eigenen halben Flasche. »Man kann sich seine holden Täuschungen nicht lange genug konservieren, gnädige Frau, denn sie erhalten jung.«

»Ich bin aber nicht mehr jung genug, um mich der Täuschung hinzugeben, daß Sie jetzt die Situation nicht böswillig ausnutzen wollen.«

»Sehr gut.« Er lachte. »Schließen wir Frieden, gnädige Frau. Wie Sie sehen, sind wir beide an diesem Tisch die einzigen Seefesten, sind also während der Sturmzeiten aufeinander angewiesen.«

»Haben Sie vor, sich dann immer über meinen Mann lustig zu machen?«

»Meine Gnädigste!«

Es kam zwischen ihnen durch diese äußeren Umstände sehr rasch eine gewisse Vertraulichkeit auf. Natürlich schnitt er ihr die Cour, und sie ließ es geschehen. Einmal war Stangenberg ja wirklich ganz unterhaltend – und zweitens ungefährlich. Sie nahm sich vor, ihm das zu sagen. Aber dann ließ sie's doch: wenn er ihr fast fünf Tage lang ein amüsanter Tischherr sein sollte, dann mußte er sich schon ein bißchen in sie verlieben.

Auf ihren Mann war nicht zu rechnen.

Er hatte sich von zwei Stewards in die Kabine hinaufführen, auskleiden und zu Bett bringen lassen.

Als sie sich dort einstellte, war auch noch die Stewardesse zugegen, mit der Herrichtung des zweiten Bettes beschäftigt. Die war sichtlich verwundert, wenn nicht enttäuscht darüber (des Trinkgeldes wegen), daß die junge Gnädige von der Seekrankheit verschont blieb.

»Um Gottes willen, laß mich, Jutta!« stöhnte ihr Mann, als sie an sein Lager kam. »Ich will nicht bedauert werden – und ich will nicht, daß Du überhaupt – überhaupt zusiehst … o Gott!«

Sie wandte sich schleunigst ab. »Aber ich kann Dir vielleicht irgend etwas bringen, Gustl?«

»Nein, nein. Bloß nicht fragen. Und dafür sind doch Leute da. Es ist ja so – so unästhetisch.«

Sie ging also. Ziemlich erlöst. Er war wirklich viel netter, als sie's erwartet hatte. Auch bei den späteren Besuchen hatte sie nur die eine Wahrnehmung: er fühlte es selbst, daß ein Gesunder die Seekrankheit nicht als heldenhaftes Martyrium auffassen konnte, und er war zu feinfühlig veranlagt, als daß er von seiner jungen Frau in diesem Zustand gesehen werden wollte. Vielleicht war es nur Eitelkeit und Scham – sie legte es ihm aber als zarte Rücksicht aus. Auch dem Rittmeister gegenüber.

Es war die ganze Nacht durch stürmisch. Da Succo darauf bestanden hatte, daß das Fenster aufblieb, war es in der Kabine sehr kalt. Jutta hatte ihre Pelzjacke übergezogen, fühlte sich sehr mollig und schlief prächtig. Succo fror mörderlich. Am folgenden Tage blieb er liegen, er zeigte sich an Deck selbst während der beiden Stunden nicht, da die »Holstein«, um neue Fahrgäste aufzunehmen, im Hafen von Neapel stille lag.

Juttas ständige Begleitung bildete Herr von Stangenberg. Die übrigen Reisenden konnten sie für Vater und Tochter halten – vielleicht auch für ein ungleiches Ehepaar.

Mehrmals waren sie auf ihren Spaziergängen an Deck dem Vetter begegnet. Er mochte keine Ahnung haben, daß sie ihn kannte, wußte wohl nicht einmal, daß sie Deutsche waren, denn er kümmerte sich um niemand von der Schiffsgesellschaft. Jutta sah ihn nur mit seinen nächsten Tischnachbarn und den Schiffsoffizieren reden. Die englische und französische Sprache herrschte an Bord vor. Aus der kleinen, ganz schief liegenden, von den Wellen hin und her geschleuderten Dampfbarkasse kamen nun mit den neuen Fahrgästen auch noch Italiener von Neapel herüber.

Jutta stand mit auf der Steuerbordseite und beobachtete gleich allen seefest Gebliebenen die Ueberholung der Ankömmlinge. Selbst hier im Hafen war der Wogengang so stark, daß die Barkasse oft an die zwei Meter hoch über die unterste Stufe der Fallreepstreppe emporgehoben wurde. Die einzelnen Passagiere konnten nur durch einen Sprung – unterstützt von vier Matrosenarmen – auf die Schiffstreppe gelangen.

Ueber die lange Steinmole des Hafens jagten mächtige Schaumkämme. Von Neapel, vom Golf überhaupt, vom Vesuv war nichts zu sehen.

»Es könnte ebensogut die Nordsee im Februar sein,« meinte Stangenberg.

Zwischen den Köpfen ihrer Nachbarn entdeckte Jutta das Gesicht des ›Aegypters‹. Er sprach italienisch mit einem Agenten, der unten an Bord der Barkasse geblieben war. Sie verstand nur so viel Italienisch, als ihr das Studium des ›Kleinen Meyer‹ vermittelt hatte; immerhin ward ihr aus der Unterhaltung klar, daß sich's um landwirtschaftliche Maschinen handelte. Der schwarzäugige Neapolitaner, der in Gummimantel und Gummikapuze steckte und vom Regen triefte, gestikulierte und gebrauchte Beteuerungen aller Art. Er besaß ein wahres Galgenvogelgesicht. Fritz von Succo trug eine behagliche Überlegenheit zur Schau. Er hatte dabei einen so humorvollen Ton, daß in der Umgebung mehrmals herzhaft gelacht wurde. Offenbar war dem Neapolitaner eine schlechte Lieferung nicht abgenommen worden, und er versuchte nun die Durchfahrt des vizeköniglichen Direktors zu einer persönlichen Aussprache zu benutzen. Der Regennasse da unten auf dem auf und nieder tanzenden Boot blinzelte, kniff mehrmals die Augen zusammen, ließ seinen verzweifelten Blick dann über die andern gleiten und machte – nur halb verstohlen – die Geste des Geldzählens.

Nun lachte der ›Aegypter‹ hell auf und sagte zu seinem Nachbar auf englisch: »O – er muß mich wohl schon für einen waschechten Untertan des Khedive halten. Da er meint, daß ich Bakschisch nehme.«

Auch der Nachbar lachte.

» Niente, niente, basta!« rief der ›Aegypter‹ fröhlich über die Brüstung hinunter. Und darauf wandte er sich flott ab, seinen Deckspaziergang fortsetzend.

Jutta mußte ihn immer und immer wieder betrachten.

»Sehen Sie nicht fortwährend hin, Gnädigste,« warnte Stangenberg, »sonst bildet sich der Kerl am Ende noch ein, Sie interessieren sich für ihn.«

»Das tue ich auch!« entfuhr ihr's.

Er sah sie verdutzt an. »Na – lassen Sie das Ihren Mann hören.«

Sie war wirklich drauf und dran gewesen, ihm von der Begegnung am Abend zuvor zu erzählen. Wenigstens die kleinen Geschichten des ›Aegypters‹ von Achmed, seinem Boy, hätte sie gern zum besten gegeben. Aber der offenbare Schreck des Rittmeisters – auch die verächtliche Art, in der er über ihn sprach – nahm ihr wieder allen Mut.

Als der Dampfer den ungastlichen Hafen von Neapel verließ, sah sie Fritz von Succo in der Gesellschaft des Schiffsarztes drüben in der dritten Klasse verschwinden. Es war in Juttas Nähe davon gesprochen worden, daß der Koch, der mit seinen drei kleinen Töchtern nach Assuan wollte, beim Rollen des Schiffs die Zwischendeckstreppe hinuntergefallen war.

Und plötzlich trieb sie's – das kam so über sie, ohne daß sie die Gedankenbrücke recht übersah – sich ebenfalls nach der dritten Klasse zu begeben. Vielleicht konnte sie dem Aermsten helfen. Und zugleich feststellen, ob etwa auch der ›Aegypter‹ mit dem armen Teufel Mitleid hatte. Rein psychologisch interessierte sie das.

Aber sie nahm für ihren kleinen Ausflug doch lieber einen Augenblick wahr, wo sie Herrn von Stangenberg nicht Rede zu stehen brauchte. Er war in die ›Schenke‹ eingetreten, um sich mit Zigarren zu versehen. So harmlos ihr Vorhaben war: sie empfand doch ein gewisses Schuldbewußtsein und dabei ein gewisses Prickeln.

In dem als Versammlungsraum dienenden Speisesaal des Hauptdecks saß nur eine kleine Gesellschaft beisammen. Die meisten schliefen auf den rundum laufenden Bänken. Alles war tadellos sauber, bloß die Luft ließ zu wünschen übrig. Es kostete Jutta also zunächst einige Ueberwindung, einzutreten.

Das älteste Töchterchen des französischen Kochs erkannte die fremde Dame sofort wieder und kam ihr lebhaft entgegen. Der Marseiller, ein großer, rassiger Mensch mit mächtigem Schädel und gutmütigen, feuchten Augen, saß in der Ecke und schwatzte mit der zweiten; er trug den Arm in der Binde. So gut sie sich auf französisch ausdrücken konnte, erkundigte sich Jutta nach dem Unfall. Der Schiffsarzt hatte ihn getröstet: bis zum Antritt seiner Stellung in Assuan würde er schon wieder arbeitsfähig sein, denn es sei nur eine leichte Quetschung des vierten und fünften Fingers. Aber traurig war's, daß er nun hier unten sitzen mußte: bei den starken Bewegungen des Schiffs durfte er's nicht wagen, die Treppe zu steigen, weil er sich dabei doch hätte anhalten müssen. Und seine » petites demoiselles« hatten darum mit ihm zusammen Arrest. Fast die ganze dritte Schiffsklasse war seekrank geworden. Seine Jüngste auch – die war sofort ins Bett gepackt worden. Aber die beiden ältesten nicht. Und sie bei diesem Seegang allein an Deck zu schicken, war nicht erlaubt.

» C'est moi qui vais faire vous promener, mes enfants!« sagte Jutta mit raschem Entschluß zu den beiden schwarzäugigen Kleinen.

» Très aimable de vous, madame! – Eh bien, Augustine, Isabelle, que dites-vous?« rief der Marseiller seinen Töchtern zu. Und die kleinen Damen zeigten sich sofort marschbereit. » Mais non, d'abord – pour aller au grand monde – il faut faire la coiffure!«

Er hatte offenbar Lebensart, der Koch. Neben ihm lag ein Handköfferchen aus Pappe, mit Segeltuch bezogen. Darin befanden sich Toilettengegenstände, eine Milchflasche und Bilderbücher in buntem Verein. Er holte daraus Kamm und Bürste. Das Schwesternpaar besaß dichtes, wundervoll gepflegtes Haar. Jutta hatte es schon gestern bewundert. Der Herr Papa versuchte ihre beim Spielen in Unordnung geratenen Mozartzöpfe und breiten Schleifen mit seiner gebrauchsfähigen Hand für den ›Ausflug in die große Welt‹ standesgemäß herzurichten. Er tat das mit einem Anflug von Selbstironie und drolliger Wichtigkeit. Jutta lachte und nahm ihm Kamm und Bürste ab. Es erschien ihr praktischer, den ganzen üppigen Lockenreichtum in den gestrickten Mützen unterzubringen.

» Vous voilà en bon état,« lobte der Franzose, » comme les vraies Parisiennes! Au revoir, mes dames! Allons, allez!«

In diesem Augenblick trat der Schiffsarzt in die Tür: in seiner Begleitung Fritz von Succo.

Alle drei – der Papa wie seine beiden Töchter – empfingen den Schiffsarzt mit hellem Geschrei: » Monsieur le docteur! Imaginez-vous, monsieur, voici Madame, qui nous fait nous promener!«

Der Schiffsarzt, ein Deutscher, sprach ein so grausames Französisch, daß selbst Jutta Mühe hatte, ihn zu verstehen. Er sagte ungefähr: Gerade hätte er ein Viertelstündchen Zeit und hätte sich nach den Kleinen umsehen wollen, und der Herr hier, sein Bekannter, stellte sich gleichfalls zur Verfügung.

» Bien de chances, mes petites demoiselles!« sagte der Koch lachend.

Inzwischen hatten die beiden Herren aus allen Taschen Mandarinen hervorgeholt. Wie sie die Früchte auf dem Tisch aufhäuften, ließen die beiden Mädchen Juttas Arm sofort los und tanzten jubelnd und in die Hände klatschend um die neuen Gönner herum. » Oh, oh, oh, voyez donc! Oh, que vous êtes gentils! Oh, quel charme! Six, sept, huit, – onze, douze, quatorze!«

Die Mehrzahl der Früchte kollerte zu Boden: hier im Vorderteil des Schiffes waren die Schlingerbewegungen besonders stark. Am Auflesen beteiligten sich alle, auch Jutta, und Mademoiselle Isabelle, der stupsnäsige Fratz von sechs Jahren, machte sofort ein lustiges Spiel daraus: sie sammelte in ihr rasch aufgeschürztes Röckchen, ließ aber alles wieder seitwärts zu Boden gleiten, so wie sie's wohl im Zirkus von den Clowns einmal gesehen haben mochte.

Es war eine sehr lustige Szene, alles lachte über den drolligen Knirps.

Und so kam es denn auch ganz ungezwungen zu einer kurzen Unterhaltung – auf französisch – zwischen Jutta und dem ›Aegypter‹. Man sprach über den Unfall des Marseillers, das Glück dabei, daß es noch so gut abgelaufen war, und lobte die bei dem starken Seegang so tapferen kleinen Mädchen. Beide Kinder bewaffneten sich mit je vier, fünf Mandarinen, Augustine hängte bei Jutta ein, Isabelle links beim Schiffsarzt, rechts bei dem neuen Bekannten, und so zog der Trupp fröhlich aus der Unterwelt zum Deck der dritten Klasse empor.

Grau in grau waren Himmel und See. Ueber den Bug und den im Gummimantel steckenden Posten am Bugspriet spritzte der Gischt. An der vordersten Spitze des Schiffs hielt sich sonst kein Mensch auf. Hinter den mit Segeltuch bespannten Güterstapeln war aber ein trockenes Plätzchen verfügbar, um mit den Kindern irgendein Spiel vorzunehmen. Ein paar Mitglieder der italienischen Varieté-Truppe hatten sich stark vermummt im Schutz der Güterstapel auf Liegestühlen von Segeltuch niedergelassen. Als Isabelle ohne weiteres die Mandarinen zu einem Fangballspiel mit den drei Erwachsenen benutzte – an dem sich das ältere Schwesterchen natürlich sofort beteiligte – streckte zuerst der Kapellmeister, dann ein anderes Mitglied der Truppe die Nase aus der Vermummung. Eine der Früchte flog daneben. Sofort schossen die beiden Artisten empor, schleuderten die Decken von sich und machten Jagd auf die Mandarine. Es war so komisch, die beiden Leutchen auf dem schwankenden Schiff sich haschen zu sehen – einer suchte dem andern die Beute abzujagen, wobei sie mehrmals das Gleichgewicht verloren – daß sie alle fünf gespannt den Ausgang des Kampfes abwarteten. Die kleinen Marseillerinnen feuerten sie zuerst durch ihre Rufe an, dann riß das Temperament sie aber doch dazu hin, die Jagd des Artistenpaares mitzumachen.

Und daran anschließend entwickelte sich trotz des Rollens und Stampfens der ›Holstein‹ – trotz Kälte, Wind und überholender See – ein so lustiges Spiel zwischen diesen Stockfremden, die den verschiedensten Nationen, den verschiedensten Klassen angehörten, daß Jutta sich und den Gatten und seine gesellschaftlichen Anschauungen ganz und gar vergaß.

Sie tat nichts halb, sie widmete sich jeder Sache, die sie fesselte, gleich mit Leib und Seele. In der Pension zu Koblenz war sie die beste Tennisschlägerin gewesen, im Golfspiel hatte sie einmal – das war kurz vor ihrer Verlobung – bei einem Match den Sieg über eine berühmte englische Schlägerin davongetragen.

Die Mandarinen flogen in dem unregelmäßigen Siebeneck auf die kurzen hellen Anrufe von Hand zu Hand. Blitzgeschwind und ohne Verabredung hatte sich etwas wie eine Spielregel zwischen ihnen entwickelt. Es warfen immer zwei über Kreuz, das ging so reihum, und der siebente hatte indes einen Fangball zu tun. Wenn einer einen Wurf verfehlte, so rannten die andern, bis er wieder im Besitz seines Geschosses war, im Geschwindtempo von Platz zu Platz, was bei den schwankenden Schiffsbewegungen ein Kunststück war. Man hörte Rufe in allen Sprachen, helles Lachen – das Jauchzen der Kinder.

Die Ausgelassenheit lockte bald Publikum an. Oben auf dem Promenadendeck waren schon mehrere der unermüdlichen Spaziergänger stehen geblieben und musterten die ungleiche Gruppe.

Jutta bereitete es Vergnügen, ihren jeweiligen Partner zu necken: wenn der Kapellmeister, der sich rasch die Direktion des Spiels angeeignet hatte, sein › ecco!‹ oder › eccolo!‹ hinausschmetterte, dann zögerte sie noch mit ihrem Wurf, so daß er vergeblich zufaßte und komisch verdutzt den Mund aufriß, oder sie warf ihren Ball so hoch sie konnte, so daß alles durcheinander lief, um ihn zu fangen. Zwei Mandarinen waren schon – unter einem allgemeinen Schreckensruf – über Bord gegangen. Der Schiffsarzt, der ungeschickteste der Spieler, war der Uebeltäter. Augustine, deren Wangen vor freudiger Aufregung glühten, holte eilends neuen Vorrat aus der Kajüte. Am geschicktesten fing Juttas kühne Würfe immer der ›Aegypter‹ auf. Er war ein ebenso guter Ballspieler wie sie. Ein paarmal tauchte Juttas Blick mitten im Eifer des Spiels mit einer Art verwunderter Neugier in den seinen. Und dabei hatte sie die Empfindung: was er doch für ein hübsches, offenes Gesicht besaß – und was für helle, lustige, liebe Augen!

In jähem Schreck brach sie indessen plötzlich das Spiel ab.

Unter den Zuschauern oben hatte sie Herrn von Stangenberg bemerkt.

» Au revoir, mes petites, au revoir!« rief sie den beiden Kindern noch lebhaft zu. In der nächsten Sekunde hatte sie dann schon die eiserne, leiterähnliche Treppe, die zum Promenadendeck emporführte, erklommen. Sie eilte auf Stangenberg zu, hängte burschikos bei ihm ein und zog ihn mit sich fort, atemlos, immer noch lachend.

Aber das Lachen klang jetzt ein bißchen erkünstelt.

»Ich traute erst meinen Augen nicht … was war denn das, Sie verwegene kleine Frau?!«

Sie schmiegte sich an ihn an wie ein Backfisch an die Gouvernante: als ob es gälte, den Erlaß einer Strafe abzuschmeicheln.

»Nicht ausplaudern, bitte, bitte.«

Allerliebst war sie in ihrer Kopflosigkeit, ihrer Bestürzung. Und es lag trotz aller Angst auch jetzt ein schalkhafter Zug in ihrem Wesen.

»Nu sagen Sie bloß: da war doch Succo bei, der Referendar?!«

»Bscht –« Sie hielt ihm die Linke vor den Mund und klammerte sich mit der Rechten noch fester an ihn. »Wir machten bloß mit den Kindern ein bißchen Unsinn. Das sind die kleinen Marseillerinnen – und überhaupt: er weiß doch gar nicht, wer ich bin!«

»Meine Gnädigste, na, hören Sie …«

Sie entzog ihm hastig den Arm und blieb stehen. »Wenn ich durchaus eine Strafpredigt haben soll, dann hol ich sie mir lieber von meinem Mann!«

Man konnte nicht wissen, ob sie das noch im Scherz oder ob sie's im Ernst sagte. »Die würde dann jedenfalls energischer ausfallen, meine Gnädigste, als mir's zusteht.«

»Ist es Ihnen recht, wenn wir jetzt unsern Tee nehmen? – Gut. Also im Damensalon.« Sie lachte. »Nein, im Rauchzimmer, wo Sie behaglich schmauchen dürfen. Um Sie einzuwickeln. Bin ich nicht nett?«

Sie traten in den mollig erwärmten Raum ein. Hauptsächlich Herren waren zugegen. Geraucht wurde aber nur wenig. Die Luft war gut. Jutta machte flott die Bestellung und suchte vom Teegebäck eine stattliche Portion aus, die sie vom Barkeeper einwickeln ließ. Ein Steward mußte das Päckchen sofort den kleinen Marseillerinnen nach der dritten Klasse hinüberbringen. An dem einzigen noch freien Tisch nahm sie Platz; Stangenberg ließ sich ihr gegenüber nieder. Sie hatte noch ganz heiße Wangen vom Spiel, vom Wind.

»Sie haben mir noch immer nicht meine Frage beantwortet, verehrter Freund,« begann sie nun übermütig.

» Fishing for compliments! – Nein, was sind Sie für eine gefährliche kleine Frau! – Stürzen sich da in die tollsten Abenteuer … Ja, lachen Sie nur! … Und hinterdrein reizen Sie einen – das heißt, nein, Sie sind so reizend – daß man Ihnen auf Tod und Leben die Cour schneiden möchte …«

»Was Sie doch hoffentlich nicht tun werden?« fragte sie mit einem drolligen Augenaufschlag.

»Jawohl, gerade. Und Sie wissen's, sehen einen mit Grazie in der Gefahr versinken …«

»Gefahr? Für mich nicht, ich schwör's Ihnen.«

»Aber für mich.«

»Wieso?«

»Man ist dann Mitschuldiger. Und – das wollen Sie eben.«

Der Tee kam, und sie bediente ihn. »Ich merke mir alles, was Sie sagen. Und wenn mein Mann nicht mehr seekrank ist, rapportiere ich ihm.«

»Sie wären wahrhaftig imstande. – Hm. – Wollen wir nicht lieber einen Vergleich schließen?«

»Nun wollen Sie mich mitschuldig machen.« Sie lachte wieder. »Ein bißchen Milch gefällig?«

»Ja. Nein. Ja. Danke. – Ein paar Augen haben Sie, ein paar Augen –«

»Für einen ehemaligen Schwadronslenker sind Sie seltsam leicht in die Irre zu führen.«

»In die Irre. Ja, das ist das rechte Wort. Mit Ihren kleinen Händen reichen Sie einem Tee. Tee mit Milch. Und mit den Augen: Champagner.«

»Wie gesagt, ich merke mir alles.«

»Bitte.«

»Das sagten Sie so, wie die Lustspielleutnants auf der Bühne etwa: ›Racker!‹«

»Es sollte aber ›Sphinx‹ heißen.«

»Ich finde, wir unterhalten uns furchtbar geistreich. Das halten wir bis Alexandrien gar nicht aus. Wenn Sie Ihren Tee getrunken haben, dürfen Sie mich noch auf die Kommandobrücke begleiten. Dann Handkuß und Erholungspause bis zum Trompetensignal. Ich muß auch mal nach meinem Mann sehen.«

»Aha, das Gewissen schlägt.«

»Vielleicht.«

Jutta traf den ›Aegypter‹ nach dem Diner noch mehrmals auf dem Promenadendeck. Er grüßte nicht, sah sie auch kaum an. Sie sagte sich: ein richtiger Landsmann würde nach der Begegnung bei den Kindern drüben doch sicher die Gelegenheit wahrgenommen haben, sich vorzustellen. Ihm schien es gar nicht einzufallen, sich ihr zu nähern. War es nur die kühlere, zurückhaltendere Reiseroutine – oder hatte er inzwischen vielleicht in Erfahrung gebracht, wer sie war?

Noch nie hatte sie vor ihrem Gatten ein Geheimnis gehabt. Sie war ihm gegenüber selbst in den kleinsten Kleinigkeiten und Harmlosigkeiten offen. Hätte sie so wie sonst mit ihm verkehren können, so wäre ihr's ganz unmöglich gewesen, ihm ihre Begegnung mit dem Vetter auch nur ein paar Stunden lang zu verschweigen. Aber Gustav lag apathisch da. Sein Magen hatte restlos alles Verfügbare hergegeben. Sprechen konnte er nicht, hören wollte er nicht, ansehen sollte sie ihn nicht. Er hatte nun seit rund dreißig Stunden nichts als Eiswasser in kleinen Schlucken zu sich genommen.

Natürlich stand es bei ihr felsenfest, daß sie ihm die Sache noch an Bord mitteilen würde. Zugleich sagte sie sich aber – und sie empfand die Wendung selbst als etwas ihr Fremdes – daß sie bis dahin wohl noch mehr zu beichten haben würde.

Ein ganz bestimmter Trotz hatte sich in ihr eingenistet. Kein Trotz gegen ihren Gatten persönlich. Nein, es war ein demokratischer Groll gegen jene ganze ›Clique‹, die sich vermaß, einen Menschen wegen einer einzigen Jugendverfehlung einfach aus der Liste der Lebenden zu streichen. Der in ihren Augen noch Lebenden.

Fritz von Succo konnte sie sich nun einmal nicht als ›Verbrecher‹ vorstellen. Was sie für ihn sofort eingenommen hatte, das war sein Humor. Sie war allen Menschen gut, die ein bißchen Humor besaßen. Oder auch nur Humor verstanden. Selten genug waren sie ja. Und noch ein paar Züge, die sie an ihm kennen gelernt hatte, so unwesentlich sie für einen andern sein mochten, gaben ihrem Urteil über ihn eine freundlichere Richtung. Sie dachte an die Geschichten von Achmed, an sein famoses Auftreten dem Neapolitaner gegenüber, an die nette Gesinnung, die sich in seinem Besuch bei den armen kleinen Marseillerinnen verraten hatte. Es war doch wohl etwas Feineres in ihm, als das, was ihr Gatte immer mit dem Spottwort ›Humanitätsduselei‹ abtat.

Er interessierte sie. Sein ›Fall‹ interessierte sie weniger. Daß Gustavs Darstellung der heiklen Angelegenheit streng aktenmäßig gerecht ward, daran trug sie nicht den geringsten Zweifel. Aber anderes verstand sie nicht; zum Beispiel daß seine leibliche Mutter sich bloß dieses leidigen Skandals halber von ihm losgesagt haben sollte. Und sie fragte sich: wie war es möglich, daß er das überwinden konnte? Er – der als einziger von sämtlichen seefest gebliebenen Fahrgästen der armen kleinen Gefangenen aus der dritten Klasse gedacht hatte, der also doch Herz damit verriet?

Rätsel, Rätsel, wohin sie sah.

Und eine brennende Ungeduld erfüllte sie, diese Rätsel zu lösen.

Ihr Trotz wuchs insgeheim mit der Ungeduld. Er richtete sich auch gegen Stangenberg, der ebenso hoheitsvoll Fritz von Succo abgeurteilt hatte und sein bißchen Mitwisserschaft nun ausnutzen wollte, um eine gewisse Macht über sie auszuüben.

So kam's, daß sie das unbewußt begonnene Versteckspiel unbewußt fortsetzte – und daß es anfing, sie zu reizen, sie mehr und mehr auszufüllen.

*

Die Nacht war böse. Auch Jutta schlief schlecht. Der Lärm der Sturzseen übertönte noch das Rattern der Maschine. Immer wieder arbeitete die Schraube, wenn das Schiff über eine Woge turnte, frei in der Luft. Die Bewegung des Schiffes war selbst hier im Mittelpunkt noch so stark, daß Jutta in ihrem eigenen Bett bei jedem Rollen mitrollte: vom rechten Arm auf den linken und umgekehrt. Schließlich schlief sie aus Erschöpfung ein.

Als sie erwachte – es war noch ganz finster – rauschte und polterte es nicht mehr so stark. Auch das Rollen war schwächer geworden. Nun entsann sie sich einer Bemerkung des Kapitäns: in der Straße von Messina würde die Fahrt sicher ruhiger werden. Ungefähr um sechs Uhr sollte man sie passieren. Das mußte sie mit ansehen. Ohne das elektrische Licht aufzudrehen, zog sie sich an. Umständlicher wollte sie erst später nach dem Bade Toilette machen. Ihr Mann schlief. Sie hantierte, so leise sie konnte, um ihn nicht zu stören. Als sie den Schrank öffnete, um ihren weißen Lodenmantel herauszuholen, rührte sich Succo und stöhnte leicht.

Unter dem Mantel – zu dem sie ihr weißes Wollmützchen aufsetzte – trug sie eine weiße, gestrickte Jacke. Sie knöpfte den Mantel bis unten zu und schlug den Kragen hoch. Es war auch nötig, sich gut zu verwahren, denn draußen herrschte noch eine bittere Kälte. Zwischen den Rettungsbooten nahm sie in der Finsternis den Weg zur Treppe und stieg zur Kommandobrücke hinauf. Gerade hatte es sechs geschlagen. Der Offizier, der seit zwei Uhr früh Wache gehabt hatte, wurde soeben abgelöst. Sie ging am Kompaßhäuschen vorbei und stieg noch eine Treppe höher. Auf dem Dach der Kapitänswohnung befand sich das Sonnendeck. In dessen Mitte stand, einem eisernen Ofen ähnlich, der Apparat, der den Sextanten enthielt. Ein junger Mann in Schiffsuniform bereitete dort eine Messung vor. Sie trat voll Interesse näher – blieb aber plötzlich wie geblendet stehen.

Halb rechts in der Ferne – hoch da droben über dunklem Land oder graublauem Gewölk – ragte ein feuerroter, feuerglühender Kegel von ungeheurer Ausdehnung in die Nacht.

»Mein Gott – was ist denn das?« fragte sie ganz scheu.

Der Blaue lächelte. »Der Aetna, Fräulein!«

»So ist das da drüben Sizilien?«

»Jawohl. Hier rechts Messina – da links liegt Reggio.«

»O – wirklich – all die Lichter!«

»Noch kein Viertelstündchen, Fräulein, dann geht die Sonne auf.«

Sie blickte über sich. Es blitzte und leuchtete am Himmel: Stern an Stern, und wunderbar klar die Milchstraße. Kein Wölkchen war zu sehen. »Ei – wir haben ja schön' Wetter gekriegt!« rief sie überrascht.

»Das ist hier allemal so, Fräulein: war's vorher schlecht, ist's hier passabel, war's vorher gut, wird's hier miserabel.«

Sie lachte. »Behalten wir nun das Wetter bis Aegypten?«

»Das haben wir nicht kontraktlich, Fräulein. Kap Spartivento ist ein neuer kritischer Punkt.«

»Wo liegt der?«

»Das ist die Südspitze von Italien.«

»Spartivento. Hm. Das heißt Wendewind, nicht?«

Inzwischen war noch ein Herr aufs Sonnendeck heraufgekommen, einer der Engländer, die bei Tisch an der Kapitänstafel saßen. Ihm folgte jetzt in ziemlicher Hast eine Dame, vielmehr ein Pelz- und Plaidbündel.

» Very beautiful, indeed!« rief der Herr der Dame zu, während sie die letzten Stufen nahm. » We are keeping the good moment!«

» I was afraid to come too late. – Did the sun already rise?«

Gleich darauf lachte sie selbst herzlich über ihre Frage.

Auch Jutta mußte den Mund zu einem Lächeln verziehen: wenn die Sonne schon aufgegangen wäre, hätte man's doch wohl gemerkt. Der junge Blaue zog grinsend ab.

Sie standen darauf zu dritt eine Weile schweigend an der Brüstung und schauten den Aetna an.

Immer stärker ward das Leuchten. Es war dabei, als ob die feurige Glut von der Spitze des majestätischen Schneekegels langsam herabflösse.

» Mr. Succo is not coming?« fragte die junge Lady plötzlich, sich nach der Treppe umwendend.

» I called him – he was in the bath.«

In diesem Augenblick wurden schon wieder Schritte auf der Kommandobrücke laut. Rasche, flotte Schritte. Dann kam jemand mit ein paar Sätzen die Treppe herauf.

Jutta blieb für eine Sekunde das Herz still stehen vor Schreck. Sie wußte: das war nun zweifellos wieder ihr ›Aegypter‹.

Fritz von Succo steckte, wie tagsüber immer, in einem praktischen Sportanzug mit Kniehosen und ledernen Gamaschen. Dazu trug er jetzt einen langen, fast bis an die Knöchel reichenden englischen Reisemantel. » Good morning,« sagte er munter, ohne die Mütze abzunehmen. Von der Kälte leicht zusammenschauernd, knöpfte er den noch offenen Mantel zu.

Steife Förmlichkeiten und Phrasen schien es zwischen diesen Leuten nicht zu geben. Jutta entsann sich von der Begegnung beim ersten Lunch her, daß die Dame auf der Orientierungstafel als Lady Salmour aufgeführt war. Die drei sprachen nur das Notwendigste, um sich über die Gegend, die in blauen Schatten an ihnen vorüberzog, zu unterrichten.

» What is this?« fragte die Lady ihren älteren Begleiter, auf die Umrisse der links erscheinenden Hafenstadt zeigend.

» I don't know it. Mr. Succo – you?«

»Reggio!« fiel Jutta unwillkürlich ein, da der Gefragte die Stelle noch suchte.

Daraufhin gab's zwischen ihnen auf englisch ein paar kurze Fragen und Antworten. Bei einem Wort, das sie unrichtig aussprach, blickte der ›Aegypter‹ sie genauer an und fuhr auf französisch fort. Offenbar entsann er sich der Begegnung mit ihr bei den Kindern des Kochs aus Marseille.

»Ich bin Deutsche,« sagte sie lächelnd.

Er lächelte nun auch. »Dann hätt' ich's gestern ja leichter haben können!«

Und sich wieder an seine Bekannten wendend, erzählte er ihnen auf englisch, daß er die junge Lady tags zuvor für eine Französin gehalten und sich gequält hätte, die korrekten Ausdrücke zu finden.

Die Lady meinte, er wäre ein Mezzofant, sie bewunderte seine Sprachkenntnisse. In nur wenig gebrochenem Deutsch sagte sie darauf zu Jutta: Wer dauernd am Nil lebte, käme sogar noch in die Zwangslage, Arabisch lernen zu müssen, schon der Diener wegen.

Jutta zeigte dafür lebhaftes Interesse. Es trieb sie, nun endlich in ein eingehendes Gespräch mit dem ›Aegypter‹ zu kommen, trotzdem insgeheim etwas sie davor warnen wollte. »Ich hörte Sie vorgestern zufällig von Ihrem arabischen Boy erzählen, dem Achmed. Das gab mir ein ganz neues Bild von der Rasse da unten.«

Er war überrascht, behielt seine sorglos fröhliche Art aber bei. Sie sprachen über Aegypten, und die beiden andern warfen ab und zu ein Wort ein.

Schon seit einiger Zeit hatte sich im Osten ein fahlgelber Schein bemerkbar gemacht. Die Helligkeit nahm zu – gleichzeitig verblaßten die Lichter an den beiden Ufern. Nun erloschen auch mit einem Schlage die elektrischen Laternen an Bord. Ein spitzer, greller Schein zuckte übers Wasser, scharf wie eine Nadelspitze, im Nu wachsend, dann alle blendend: – die Sonne ging auf.

Das wunderbare Farbenspiel auf dem bis tief hinunter schneebedeckten Aetna dauerte nur noch ein paar Sekunden. Dann war's taghell.

Ein prächtiger, strahlender Tag schien anzubrechen.

»Das wissen nun gar nicht alle an Bord,« sagte die Engländerin, »was für ein Feiertagsmorgen das ist!«

Man überblickte vom Sonnendeck aus fast den ganzen Dampfer. Nirgends zeigte sich Leben, eine verträumte Stille lag über dem nur noch sanft sich wiegenden Schiffe.

»Ist es für einen Deutschen nicht sehr schwer, sich in Aegypten einzuleben?« fragte Jutta nach einer Weile stimmungsvollen Schweigens.

»Nicht schwerer als sonstwo. Wenn man erst das Nationalübel überwunden hat.«

»Das ist?«

Er lächelte. »Das Heimweh, gnädiges Fräulein.«

»Oh –!«

Lady Salmour wollte die englische Uebersetzung dieses Wortes haben. Die beiden Deutschen suchten, fanden aber keinen treffenden Ausdruck dafür.

»Sehen Sie,« sagte der ›Aegypter‹, »ein praktisches Volk wie das der Engländer führt den Begriff in seiner Sprache überhaupt nicht.«

»Und der Deutsche, der in der Welt draußen vorwärts kommen will, so wie der Engländer, muß sich's wohl abgewöhnen,« meinte Jutta mit leicht fragender Betonung.

»Ja, das muß er.«

»Also mit allem hinter sich abschließen?«

Wieder bejahte er, ganz ruhig, ganz ungerührt.

Sie ward immer verwegener. Es trieb sie eine fremde Macht, der sie folgen mußte.

»Sie – haben gewiß auch niemand in Deutschland zurückgelassen?« fragte sie, ohne ihn anzusehen, immer noch in die wachsende Sonne starrend.

Ein paar Sekunden zögerte er. »Niemand!« kam es dann frostig von seinen Lippen – gesucht frostig, so wollte ihr's scheinen.

Lady Salmour hatte ihren Arm auf die Schulter des älteren Herrn gestützt und sprach mit ihm in leiserem Ton. Sie schien eine Frage nach der jungen Deutschen an ihn zu richten. Ihr Nachbar hob gleichgültig die Achsel. Jutta entging nichts. Wie unbeabsichtigt streifte ihr Blick jetzt das Gesicht der fremden Dame. Sie hatte eine wunderbar zarte, rosige Haut und prächtige blaue Augen mit langen, dunklen Wimpern. Ein klares, stolzes und doch gewinnendes ›englisches‹ Gesicht. Jutta schätzte sie auf etwa dreißig Jahre – sie konnte aber ebensogut älter sein. Die Frische ihres Wesens und ihres Teints täuschte wohl.

Tief unter ihnen – drei Stockwerk tiefer auf dem Verdeck des Vorderschiffes – erschienen soeben ein paar ›Drittklässner‹: der Kapellmeister, der in schwarzen Samtpantoffeln steckte und einen roten Fes aufgesetzt hatte. Er führte links und rechts die kleinen Marseillerinnen.

» There are your friends!« sagte die Lady lächelnd zu Succo.

Es lag ein klein bißchen Spott in ihrem Ton. Er erwiderte gutmütig: »Oh – da muß ich den kleinen Herrschaften wohl bald meine Morgenvisite abstatten.« Zu der jungen Deutschen gewandt, fuhr er fort: »Ist es nicht eine allerliebste Familiarität da unten? – Isabelle ist mein ganzer Schwarm.« Er lächelte. »Schwarm – so sagt man doch noch?«

»Ja, gewiß. In der Pension und auf den Jungensschulen noch immer.«

»Sie hat ein Gesichtchen … So etwas Liebes und Sinniges steckt drin …«

»Mr. Succo gilt am Nil für einen Weiberfeind,« sagte der Engländer trocken, »aber ich habe hier an Bord noch nichts davon bemerkt.«

Die Lady streifte den ›Aegypter‹ mit einem langen Blick. Es lag etwas Liebkosendes darin, das entging Jutta nicht.

»Sie haben Kinder gern?« fragte sie ihn.

»Ich hatte ein Schwesterchen, das ihr ähnlich sah, der kleinen Isabelle.«

Nun rückte Jutta durch einen raschen Gedankensprung die Marseiller Begegnung mit der Schwarzäugigen und ihrem Baby wieder nahe. Auch sie hatte sich durch eine Aehnlichkeit in eine ihrer Umgebung ganz unbegreifliche Stimmung und Rührung fortreißen lassen. Er hatte durch diese paar Worte sogleich etwas Vertrautes für sie.

»Oh – das verstehe ich,« sagte sie leiser. Und indem sie ihn forschend ansah, setzte sie hinzu, an ihre frühere Frage anknüpfend: »Also ist doch noch eine leise Verbindung mit der Heimat da?«

»Eine Erinnerung. Ja – die indes gestorben ist.«

Lady Salmour wickelte sich wieder fest in ihren mächtigen Plaid von schottischer Wolle. » We shall catch cold!« sagte sie, leicht sich schüttelnd.

Und damit trat sie flott den Rückmarsch an.

Es war Jutta, als läge in Ton und Haltung der Fremden etwas wie Eifersucht. Sie war unter ihrem stolz prüfenden Blick ein wenig rot geworden – und ärgerte sich darüber.

Ohne einen Gruß zu wechseln, gingen sie auseinander: die Lady verließ mit ihrem älteren Begleiter das Sonnendeck.

In Jutta zitterte jeder Nerv. Sie war sich der Gefahr, in die sie sich begeben hatte, wohl bewußt. Von fünf, sechs Stellen des Schiffes aus konnte man sie schon gesehen haben. Sie fürchtete die Folgen – und doch wäre sie unglücklich gewesen, hätte er den stillen Platz hier oben verlassen.

Die Sonne schien ihm wohlzutun, der träumerische Friede dieser unverhofft schönen Morgenstunde – er blieb.

Und in ihrer temperamentvollen Art nahm sie, sobald die Schritte der beiden andern verklungen waren, das Gespräch mit ihm wieder auf.

Sie hatte begonnen, ihn zu interessieren. Ihre schlanke Gestalt bot in dem weißen Mantel ein hübsches Bild. Sie lehnte an der Brüstung. Ihre Umrisse zeichneten sich klar gegen den blauen Marinehimmel ab. Das Haar, dessen Stirnlöckchen im Winde flatterten, erschien unter der weißen Mütze dunkler – ihre Augen blickten trotzig über die tiefblaue Flut hin – aus ihrer Haltung und Miene sprach eine Persönlichkeit zu ihm.

Im Gespräch wies er nun plötzlich mit einer Kopfbewegung nach einer Gruppe von Herren, die auf dem vorderen Promenadendeck aufgetaucht waren. Sie erkannte die Gesellschaft ihres Tisches. Und – auch Stangenberg befand sich darunter. Die Köpfe waren ihr sämtlich zugewandt. Sie konnte auf die ziemlich große Entfernung die Gesichter nicht recht erkennen. Es war ihr indessen, als grüßte man zu ihr herauf.

»Landsleute von Ihnen?« fragte Succo.

Sie bejahte.

Er blickte nun etwas schärfer aus. »Es ist auch ein Herr an Bord, den ich von früher her kenne. Aus Deutschland. Unter diesen ist er nicht. Es wäre mir interessant gewesen …« Doch kopfschüttelnd brach er wieder ab.

»Warum schweigen Sie plötzlich?« fragte sie anscheinend leichthin, aber doch unter starkem Herzklopfen.

»Es ist unwesentlich, gnädiges Fräulein.«

»Sie haben also – alle Brücken hinter sich abgebrochen?«

Ihr Ton überraschte ihn. Er beantwortete ihre Frage nicht. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ich hörte neulich – hier an Bord – zufällig über mich sprechen.«

»Ich weiß.«

»Oh! Sie waren selbst dabei?«

»Ja, Herr von Succo.«

»So, so.« Er nickte und schob seine beiden Hände in die Taschen seines Mantels. Etwas wie Spott blitzte aus seinen Augen. »Also daher das Interesse.« Sie wollte etwas einwerfen, doch er setzte überlegen, ohne alle Schärfe, fast ein bißchen väterlich hinzu: »Und Sie haben gewiß einen Auftrag, gnädiges Fräulein?«

»Sie täuschen sich, Herr von Succo, ich habe keinerlei Auftrag. Mein Interesse war rein persönlich – eigenmächtig. Ich habe von Ihrem Schicksal gehört. Und es war etwas darin, das mich ergriffen, das mich gepackt hat. Weil ich meinte: es wäre Ihnen ein bitteres Unrecht geschehen.«

»Es ist mir kein Unrecht geschehen, gnädiges Fräulein. Sie verschwenden Ihr Mitleid. Ich habe nur die Strafe erhalten und verbüßt, die bei den allgemein in Deutschland herrschenden Anschauungen als ganz gerecht gelten muß.«

»Teilen Sie diese Anschauungen auch heute noch?«

»Nein. Ich bin in Aegypten verwildert.«

»Sie müssen nicht spotten. Es hat mich einen schweren inneren Kampf gekostet, mit Ihnen zu sprechen. Ich weiß auch, daß ich eine große Sünde dadurch begehe.«

»Eine Sünde?«

»Ja. An meinem Mann.«

»Sie sind verheiratet?«

»Und mein Mann hat mir gesagt: zwischen ihm und Ihnen gäb's keine Verbindung mehr. Aber ich war ungehorsam. Wie noch selten. Es zwang mich, weil … Weil ich Ihre Mutter kenne, Herr von Succo, darum zwang mich's.«

Aus seinem Antlitz war bei den letzten Worten der trotzige Spott gewichen. Er preßte für ein paar Augenblicke fest die Zähne aufeinander und schluckte. »So – Sie kennen – meine Mutter!« kam es dann leise von seinen Lippen.

Sie sah, daß er seine Erschütterung vor ihr zu verbergen suchte. »Als ich sie kennen lernte, wußte ich nicht, daß sie einen Sohn draußen in der Welt besitzt. Mein Mann hat mir's erst hier an Bord gesagt, als er Sie wiedersah.«

»Ihr Mann? Das ist …«

»Es ist Ihr Vetter.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »So. Nun wissen Sie's. Ja. Ich bin Gustav Succos Frau.«

Er starrte sie an, voll widerstreitender Empfindungen. Zuerst wollte offenbar der Groll in ihm durchbrechen – der alte Groll, den er sofort auch auf die Fremde übertragen zu müssen glaubte, da sie ihm als Vertreterin der feindlichen Partei gegenüberstand. Doch die Erinnerung an seine Mutter hatte zugleich eine Weichheit in ihm ausgelöst, gegen die er nicht so rasch ankämpfen konnte.

»Ich hab' über Ihren Streit nur ein paar dürftige Worte gehört. Es ist nicht Neugierde, was mich getrieben hat, mit Ihnen zu reden. Ich sagte mir nur: Du mußt einmal feststellen, ob er das wirklich ist, als was sie ihn schildern.«

Nun trat ein Lächeln auf seine Lippen. »Der Tunichtgut, der Taugenichts? So, so. Und wie wollen Sie das ergründen, meine Gnädigste?«

»Ich wollte nur eines wissen. – Ist es wahr, daß Tante Eveline … ist es wahr, daß auch zwischen Ihnen und Ihrer Frau Mutter jede Verbindung abgebrochen ist?«

Für ein paar Sekunden preßte er wieder die Lippen aufeinander. Dann sagte er kühl: »Glauben Sie alles, meine gnädige Frau, was man sich in Ihren Kreisen über mich erzählt. Wenn man Ihnen gesagt hat, ich sei ein schlechter Sohn, so ist es wahr. Man hat behauptet, meine Mutter wäre so grausam gegen mich gewesen wie …« Fast zornig unterbrach er sich. »Nein, ich will nicht urteilen. Ich habe alles verwunden, es ist alles vergessen. – Mit welchem Recht stöbern Sie das wieder auf?«

»Es verpflichtet Sie nichts, mir zu antworten. Es ist nur eine leidige Gewohnheit von mir, den Dingen immer gleich auf den Grund gehen zu wollen. Ich sah da eben einen Widerspruch – und der reizte mich. Kränken wollte ich Sie nicht.«

Sie war in dieses Abenteuer hineingeraten – sie wußte selbst nicht wie. Indem sie sich plötzlich vorstellte, daß sie all das, was sie dem ›Ausgestoßenen‹ hier oben gesagt hatte, unten vor ihrem Mann würde vertreten müssen, erfaßte sie ein gelindes Gruseln.

Succo schien etwas von ihrer Angst zu ahnen.

»Sie sind gewiß noch nicht lange Gustavs Frau,« sagte er lächelnd. »Wohl überhaupt noch – recht jung, wie? Bitte, ich will Sie damit ebensowenig kränken. Aber Sie mußten sich doch eigentlich sagen, daß ich der jungen Frau meines Herrn Vetters, für den ich aufgehört habe zu existieren, nicht gut Konfidenzen machen kann.«

Sie war ganz ratlos. »Ich glaube, Sie haben mich doch nicht so ganz richtig verstanden.«

Nun tat ihm ihre Hilflosigkeit leid. »Von Ihrer guten Absicht bin ich jedenfalls überzeugt. – Und ich bin Ihnen auch dankbar dafür.« Etwas überlegen setzte er hinzu: »Aber da ich den Dank doch so gar nicht betätigen kann, ist's besser: es bleibt bei guter Absicht und guter Meinung.«

Tränen saßen ihr in der Kehle. Sie schluckte einmal. Erwidern konnte sie ihm nicht. Nun merkte sie, daß in ihre Wangen, die von der inneren Erregung ganz blaß geworden sein mußten, das Blut schoß. Sie fühlte sich gedemütigt, mißverstanden – ausgelacht. So linkisch wie kaum in ihrer schlimmsten Backfischzeit kam sie sich vor.

Plötzlich raffte sie sich zusammen, so energisch sie konnte, nickte kurz und schoß auf die Treppe zu. An dem Offizier, der unten auf der Kapitänsbrücke die Wache hatte, ging sie vorüber, ohne den höflichen Gruß zu sehen.

Ein paar Augenblicke später war sie in der Kabine.

Ihr Mann schlief fest.

Sie blieb an der Tür stehen und starrte vor sich hin. Mechanisch zog sie den Mantel aus, mechanisch fuhr sie dann im Entkleiden fort. Als sie endlich wieder auf dem Bett saß, überfiel sie eine plötzliche Reue. Oder war's Scham? – Sie warf sich hin und weinte still in sich hinein.


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