Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war sechs Uhr. Bis zum nächsten Zuge, der nach Bedracheïn ging, hatte er noch reichlich Zeit. Während er zum Tisch zurückkehrte, um seinen Spazierstock zu holen, entwarf er seinen Plan. Er wollte ganz gemächlich durch die Straßen schlendern bis zur langen Kasr en Nil-Brücke. Von dort war bei Sonnenuntergang der Blick nach der libyschen Wüste besonders schön: wenn sich der ganze Westen blutrot färbte und im heißen Dunst die blassen Schatten der Pyramiden von Gizeh auftauchten.
Im Portal blieb er einen Augenblick stehen und lächelte über sich. Warum nahm er denn nicht lieber die so seltene Gelegenheit wahr, wieder einmal das abendländische, elegante Welttreiben hier auf der Terrasse mitzugenießen? Da traf er Bekannte, konnte plaudern, sich zerstreuen. Und was bot ihm die Aussicht auf die Pyramiden von Gizeh, die er doch schon genugsam kannte? Was bot ihm schließlich sogar das Menahouse?!
Verfiel er da nicht in eine ganz krankhafte Toggenburgerei, deren er sich schämen sollte?
Ueberhaupt war doch wohl anzunehmen, daß Jutta längst an Bord einer Dahabije nilaufwärts schwamm, den Wundern des tausendtorigen Theben entgegen, die ihre großen Augen strahlen machen würden.
Und die Poesie, die der Zauber des Pharaonenlandes in ihrem weichen, reichen, schwärmerischen Gemüt weckte, versuchte sie gewiß – wenn auch vergeblich – ihrem kühlen, wohlwollend-überlegenen Gatten zu vermitteln.
Seltsam! – Der Herr, der an dem von ihm kurz zuvor verlassenen Tisch, dem einzig leeren auf der Terrasse, Platz genommen hatte, besaß eine merkwürdige Aehnlichkeit mit Gustav von Succo, eine ganz merkwürdige Aehnlichkeit. – Daß er es selbst wäre, das konnte er ja wohl kaum annehmen. Jutta hatte ihm doch bestimmt gesagt, daß sie Anfang März die Nilfahrt antreten wollten. Sie mußten also schon unterwegs sein.
Er war dicht an den Tisch herangetreten und streckte die Hand nach seinem Spazierstöckchen aus, das der neue Gast auf die Tischplatte gelegt hatte.
In demselben Augenblick fuhr der zusammen und starrte ihn mit weitgeöffneten Augen an. Auch Fritz von Succo blieb betroffen stehen.
… Es war wirklich Vetter Gustav …
Fritz von Succo fragte sich hernach noch oftmals, was ihn in diesem Augenblick dazu bewogen hatte – nach all den Kränkungen, nach all den Ungerechtigkeiten, die ihm von der Verwandtschaft zuteil geworden waren – zu einem Träger seines Namens wieder das erste Wort zu sprechen. Es war doch nach der hochmütigen Erklärung, die der Vetter damals an Bord der ›Holstein‹ gewissermaßen offiziell abgegeben hatte, geradezu ein Wagnis. Dem Oberstaatsanwalt hätte es ja freigestanden, den in Europa aus der Liste der Lebenden gestrichenen Vetter auch hier nicht zu kennen. Fritz konnte sich den Schritt, zu dem es ihn drängte und der doch alle seine Prinzipien über den Haufen stieß, nur mit dem sentimentalen, fast krankhaften Verlassenheitsgefühl erklären, das er noch nie so stark, so überwältigend empfunden hatte wie heute.
Es waren ein paar spannungsvolle Sekunden.
Unwillkürlich warf Gustav zunächst einen raschen Blick in die Nachbarschaft, um festzustellen, ob er beobachtet würde. Die Nebentische schienen aber sämtlich von Ausländern besetzt – Amerikanern, Engländern und Levantinern. Er wandte sich also Fritz wieder zu und sagte ein unverbindliches Entschuldigungswort. »Ich wußte nicht, daß dies Dein Platz war.«
Wie er so Aug' in Aug' dem Vetter gegenüberstand, für den er in früheren Jahren so etwas wie der ›große Bruder‹ gewesen war – besonders in der Zeit, als er studierte, und Fritz, der noch Pennäler war, wohlwollend protegierte – da brachte er doch nicht das steife ›Sie‹ über die Lippen. Aber in seiner Stimme lag nichts weniger als Herzlichkeit. Fritz hörte aus Gustavs lässiger Betonung sogar eher den Versuch heraus, den großen Abstand zwischen ihnen durch die Beibehaltung des ›Du‹ noch mehr hervorzuheben.
»Es ist auch nicht meine Absicht, Gustav, Dich zu stören.«
Fritz hielt den Stock schon in der Hand, zögerte aber doch noch eine Sekunde. Denn trotz der äußeren Kälte der Stimme und der Miene lag etwas Drohendes – oder etwas wie Haß – in dem starren, forschenden Blick des Vetters. Gewaltsam entzog er sich endlich der Suggestion. Was hatte es für einen Zweck, hier spitze Redensarten zu wechseln? Er fühlte: er vergab sich nur, wenn er noch länger stehenblieb.
Aber im Augenblick, da er sich abwenden wollte, leicht die Achsel zuckend, ging ein Ruck durch die steife Gestalt des andern.
»Da Du einmal da bist, Fritz, bitte ich Dich: bleib!«
Eine Bitte war es nicht – eher ein Befehl. Wieder hatte Fritz die Empfindung: der Vetter suchte wie vor fünfzehn Jahren die Ueberlegenheit und Würde seines reiferen Alters ins Treffen zu führen. Das kam ihm fast komisch vor. Aber da es insgeheim trotz aller Bedenken doch auch sein dringender Wunsch war, sich mit ihm auseinanderzusetzen, so sagte er: »Gern. Was wünschest Du von mir?«
»Rechenschaft!«
Das kam so scharf und spitz, kriegerisch und befehlend heraus, daß Fritz ihn nun doch verwundert maß.
»Ich wüßte nicht, wofür ich Dir die schuldig wäre.«
»So. Nicht? Du willst also leugnen, daß Du hinter meinem Rücken … daß Du Dich auf der Ueberfahrt von Marseille nach Alexandrien … Nein, es ist hier unmöglich. Es ist in dieser Form überhaupt … Also kurz und gut, ich fordere Dich auf, mit mir hineinzugehen und mir ein paar Fragen zu beantworten.«
»Ich habe keine Ursache, Gustav, einem Befehl oder einer Aufforderung von Dir zu folgen. Du sprachst zuerst von einer Bitte.«
»Du willst mir ausweichen. So. Dann muß ich Dir offen sagen: ich finde das feige.«
»Du –!« Fritz sah ihn groß an. Ein spöttisches Lächeln trat auf seine Lippen. »Das kannst Du mir doch wohl am allerwenigsten vorwerfen, Gustav.«
»Willst Du also – oder willst Du nicht?«
Sie standen noch immer aufrecht an dem kleinen Tisch einander gegenüber, kaum schrittweit voneinander entfernt. Fritz musterte, trotzdem sich der Ton so nadelscharf zwischen ihnen zugespitzt hatte, die Züge des Vetters mit wachsendem Interesse, vielleicht auch mit verwunderter Neugier. Bei den bisherigen Begegnungen, die ja nur flüchtig gewesen waren, hatte er an Gustavs ganzem Wesen gar keine Veränderung gegen damals wahrzunehmen geglaubt. Er hatte ihn eben immer bloß als einen Typ, als den hübschen, oberflächlichen, verwöhnten Liebling des Hauses Succo im Gedächtnis gehabt. Nun aber fielen ihm ein paar physiognomische Besonderheiten auf: die Unzahl von Krähenfüßchen, die sich von Gustavs Augenwinkeln über seine Schläfen hinzogen, das nervöse Zucken in seinem Gesicht, die vielen starkgefüllten Blutäderchen in seinen Augen. Er bemerkte auch, daß Vetter Gustav schon ziemlich grau war, jedenfalls stark gealtert.
»So komm!« sagte er endlich kurz und gelassen.
Während sie die Halle durchmaßen und in den rückwärtigen Garten eintraten, zu dem die breite Glastür offen stand, sah sich Fritz in der Erwartung um – oder vielmehr in der Hoffnung, – Jutta zu sehen.
Daß er's überhaupt zu diesem Gespräch mit ihrem Manne hatte kommen lassen, dazu war sie ja ganz allein die Veranlassung. Denn was bedeutete für ihn Vetter Gustav?!
Er war noch zerstreut, mit seinen Gedanken weitab von hier – auf dem letzten stimmungsvollen Spaziergang, den er mit Jutta am Rand der Wüste unternommen hatte – als Gustav plötzlich stehenblieb.
»So. Hier sind wir ohne Zeugen. Ich hatte nicht vorgehabt, mit Dir darüber zu verhandeln. Aber es ist vielleicht ganz gut so. Eines zunächst. Von meiner Frau hab ich mich natürlich getrennt. Sie ist mit ihrem Vater abgereist. Doch das weißt Du wohl schon. Was ich von Dir will, das ist nur die kurze Antwort auf die kurze Frage: Wirst Du vor Gericht aussagen oder wirst Du Dein Zeugnis verweigern? Das gesetzliche Recht zu schweigen steht Dir zu. Die Sache ist aber für beide Parteien rascher erledigt, wenn Du mir von vornherein erklärst, wie Du Dich zu verhalten gedenkst.«
Fritz hörte nur Worte, hörte nur den ihm unausstehlichen Assessorton, den Gustav schon als Student immer angeschlagen hatte. Hinter den Sinn dieser Fragestellung kam er nicht.
»Um was für einen Prozeß handelt sich's? Wo soll ich aussagen? In welcher Angelegenheit? Oder warum sollte ich mein Zeugnis verweigern wollen? Worüber?«
Gustav blieb äußerlich kalt, förmlich und von oben her. Aber in ihm arbeitete es gewaltig. Er maß den Vetter mit einem langen, drohenden, vielmehr verächtlichen Blick. »Ueber die Affäre selbst spreche ich nicht. Die hab ich völlig überwunden. Völlig. Ich will nur wissen, ob auch Dir daran liegt, sie so kurz und glatt zu erledigen – wie sie erledigt werden muß.«
»So sprich doch – so sag mir doch um alles in der Welt –?«
»Selbstverständlich strenge ich die Scheidungsklage gegen meine Frau an.«
»Du – gegen Deine Frau? Weshalb?«
»Weil sie durch Dich kompromittiert ist. Vor mir – vor aller Welt.«
»Bist Du – – wahnsinnig?!«
»Ich war meiner Sinne, meines Urteils und meiner Entschlüsse noch nie so sicher wie jetzt.«
»Was wirfst Du mir vor? Was wirfst Du Deiner Frau vor? Daß sie sich meiner gegen Euch angenommen hat? Vielmehr – annehmen wollte. Weil sie eingesehen hat, wie ungerecht Ihr alle gegen mich gewesen seid?«
»Das steht hier nicht zur Erörterung. Ich entnehme Deinen Worten aber, daß Du nicht vorhast, eine freiwillige Aussage zu machen. Gut. Das war alles, was ich wissen wollte. Ich bedaure also, daß ich Dich bemüht habe.«
»Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert … Gustav, ich kann doch unmöglich annehmen, daß die paar freundlichen Worte, die Deine Frau über mich gesagt haben mag … Halt! Du hast kein Recht, mich jetzt hier stehen zu lassen! Eine Erklärung bist Du mir schuldig! Verstehst Du?!«
Gustav hatte sich schon zum Gehen gewandt, hielt nun aber doch inne. »Was zwischen Euch gewesen ist, das wird sich ja vor Gericht ergeben. Denn das eine sag ich Dir: ich werde Dich zwingen, durch Aussage oder durch Schweigen die Wahrheit zu bekennen.«
Voller Entsetzen sah der ›Aegypter‹ den Vetter an. Ganz verstanden hatte er erst jetzt.
»Du wagst es, etwas so Niedriges, etwas so Schmutzig-Niedriges anzudeuten, auszusprechen – auch nur zu denken?!«
»Wie ich über den Fall urteile, das ist meine Privatangelegenheit. Tatsache ist, daß durch Deine Besuche, die heimlich, hinter meinem Rücken stattgefunden haben, ein Skandal hervorgerufen worden ist, den auch mein bis dahin guter Glaube nicht mehr aus der Welt schaffen kann. Ihr seid schon an Bord beobachtet worden – dann hier in Kairo – in Bedracheïn – schließlich draußen im Menahouse. Ich bin kein Othello, der große Szenen aufführt. O bewahre. Das bilde Dir nur ja nicht ein. Ich ziehe bloß die Konsequenzen, die ich als Mann von Ehre ziehen muß. Denn mein Wappen soll und muß blank bleiben.«
»Du besudelst es selbst!«
»Höre –!« Er zuckte lässig die Achsel. »Eine Aussprache darüber gibt es zwischen Dir und mir nicht. Es bleibt mir nur der Weg zum Gericht übrig.«
»Gut, Vetter Gustav. Zitiere mich ruhig vor Gericht. Es soll mir recht sein. Ich werde keine Antwort schuldig bleiben. Aber das will ich Dir sagen: die Verhandlung wird Dir eine so unsagbar tiefe Beschämung bringen, daß Du am liebsten in den Erdboden versinken möchtest. Und mit Dir alle Succos, deren Gesinnung in diesem Prozeß mit verurteilt werden wird.«
»Ich hasse alle Phrasen und Exaltationen, mein Lieber. Sie verfehlen auch ihren Zweck. Was Du unterm Eid aussagen wirst, das bestimmt das Urteil, und bei diesem Urteil hat es dann sein Bewenden. Wenigstens nach außen hin. Aber so oder so: Du wirst kaum Gelegenheit haben, Fritz, Dich als Triumphator über das Haus Succo zu fühlen. Denn es handelt sich ja gottlob um keine Succo. Es handelt sich jetzt nur noch um die geborene Plaschke, deren Einbeziehung in den Succoschen Kreis von vornherein ein Irrtum war.«
»Ein Irrtum. Ja. Ein gewaltiger Irrtum. Darin hast Du recht. Deine Frau steht so himmelhoch über Euch Succos, daß ich allerdings kaum einen Zusammenhang sehe.« Er atmete tief auf. »Ich will Dir die Geschichte unserer Freundschaft erzählen, Gustav. O – Du brauchst nicht diese hochmütig abwehrende Miene aufzusetzen. Höre Dir ruhig an, was ich Dir zu sagen habe. Es ist sehr lehrreich. Vielleicht wird Dir daraus klar, was Du Dir verscherzt hast.«
Gustav kämpfte schwer mit sich. Er fühlte jede Silbe, die der Vetter sagte, wie einen wohlgezielten Stoß: Fritz suchte ihm ja wehe zu tun, suchte ihn vor sich selber herabzusetzen und zu demütigen. Doch ob er sich auch sträubte, ihn noch länger anzuhören, ob er sich auch immer wieder voll Zorn, voll Haß, voll Wut abwenden wollte: die Eifersucht war es jetzt, die ihn an den Platz bannte, die geheime, fast krankhafte Neugier, der zitternde Zweifel, der seit jenem unvergeßlichen Abend der Rückkehr aus dem Fajum und seit jener furchtbaren durchwachten Nacht ihn quälte, an ihm fraß!
Denn er lauschte ja auf das, was Fritz sagte, nicht nur als der Gatte, der fürchtet, das Unglaubliche, Ungeheuerliche wahr werden zu sehen, sondern er horchte zugleich als spitzfindiger Jurist, der den Beweis wünscht und erhofft, der von keiner Dialektik zu berauschen ist, der nur auf den Moment wartet, wo der Gegner sich verstrickt und, ohne es zu ahnen, dem Ankläger eine neue Waffe ausliefert.
Gustavs Gesicht schien während dieser ganzen Unterredung wie aus Stein gemeißelt. Doch ein spöttischer Ausdruck lag in seinen Augen. Und sein Ton hatte etwas Ueberlegenes, wenn er ab und zu durch eine kurze Zwischenfrage oder einen Einwurf den Vetter aus dem Gleichgewicht zu bringen, zu einem unbedachten Wort, einem Widerspruch zu reizen trachtete.
›Material‹ trug ihm nun der erst etwas widerwillig gegebene, dann immer freiere, schließlich von einem gewissen Feuer belebte Bericht des Vetters allerdings nicht zu. Es war eigentlich das klarste Spiegelbild der ganzen Jutta Plaschke, so wie er sie kannte, das ihm aus der Rede des Vetters entgegentrat, der naiven, weichherzigen und doch so leidenschaftlich-trotzigen Jutta.
»Ich sah Dir's ja an, teuerster Vetter,« sagte Fritz endlich, mitleidig lächelnd, »wie der Jurist in Dir Dich mahnt, auch jetzt noch auf der Hut zu sein, damit Du Dich nur ja keinen Trugschlüssen hingibst; und in all Deiner Klugheit und Vorsicht hast Du Dir doch das Beste verscherzt, das Allerbeste, was Dir die Welt bieten konnte. Sieh nicht mich so bitterböse an, sondern grolle Dir, hasse den klugen, argwöhnischen Gerichtsmenschen, den finstern Ankläger in Dir selber, der einen so kindischen, so entwürdigenden Verdacht gegen die Frau hegen konnte!«
Gustav schwieg darauf – aber es zwang ihn etwas in Blick und Ton des Vetters, immer noch zuzuhören, obgleich ihn jedes Wort wie ein Peitschenhieb traf.
»Was hab ich sie von dem Verdacht zu reinigen? Soll ich's überhaupt – selbst wenn ich's könnte? Ist das nicht Deine Strafe, Gustav, für Deinen Kleinmut? Ich sage Dir bloß: ich möchte nicht mit Dir tauschen. Und ich gebe Dir auch das nicht zurück, was Deine Frau meinem Herzen gewesen ist. Was sie in den paar Tagen für mich, für meine Gegenwart und Zukunft, für mein ganzes Leben geworden ist.«
Gustav erstickte fast an der Wut. An der Wut über die stolze, zuversichtliche Miene des Vetters. Und an der Wut über sich selbst, daß er's ihm gestattete, in so bewundernden Worten über Jutta zu reden.
»Was sie Dir – – gewesen ist?!« stieß er drohend, dabei zitternd aus.
»Ja, Gustav. Sie hat mir, dem Vereinsamten, dem Verbitterten, ein neues Ideal gegeben. Sie hat mich wieder an etwas Schönes, Großes, Edles glauben gemacht. An etwas – das ich behalte, ob Dein niedriger Verdacht es auch in den Staub ziehen will.«
Gustav machte Fäuste. ›Das sind ja nur Worte, Worte, Worte!‹ sagte er zu sich. Gaben die ihm Beweise, sachliche, untrügliche Beweise der Nichtschuld? Gab es die überhaupt?
Dabei empfand er doch wieder diese tiefe, unsagbare Beschämung vor dem Vetter. Denn es war doch, als säße der über ihn zu Gericht. Und das Furchtbare war: Fritz konnte und durfte ihn bemitleiden, wenn er wirklich das Opfer einer solchen Täuschung geworden war!
Der Klatsch, die Einflüsterungen Stangenbergs, die niedrige Eintaxierung der Frau, die er während der Fajumfahrt täglich, stündlich in seiner ganzen Umgebung gehört und gesehen hatte, wohl auch etwas von dem aufregenden Fieber, das sich beim Anblick der üppigen Bilder des Orients seinem Blut mitgeteilt hatte – all das hatte ihn irregeführt, hatte ihm die ruhige Besinnung, das logische Urteil geraubt.
Vielleicht! – Denn schwören, auf ihre Unschuld schwören konnte er doch nicht!
Wieder zerrte ihn die zynische Auffassung Stangenbergs in neue Zweifel: ein verdammtes Wort von ihm über die Leichtgläubigkeit der Männer. Der Rittmeister hatte den grausamen Satz ausgesprochen: ›Selbst in der sogenannten glücklichsten Ehe ist doch nur die Frau imstande, dem Kind seinen Vater zu bezeichnen; der Mann hofft nur, es zu können, – Beweise besitzt er nicht!‹
Das fraß nun wieder an ihm, das trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn.
»Mehr hab ich Dir nicht zu gestehen, Gustav. Das waren die Beziehungen zwischen Deiner Frau und mir. Verbrecherisch also nur insofern, als sie's beinah dazu gebracht hätten, daß Fritz von Succo sich seiner alten Dame in Königsberg wieder genähert hätte – und damit wieder vielleicht Eurem Kreise. Nun, das Verbrechen hast Du verhindert. Es war keine Heldentat, Gustav. Aber ich zürne Dir deshalb nicht. Im Gegenteil, ich bin Dir Dank schuldig. Du hast mir bewiesen: daß eher Feuer und Wasser zusammenkommen können als wir beide – als ich und irgendeiner von Euch Succos da droben!« Er setzte den Hut wieder auf, den er im Eifer abgenommen und auf den Gartentisch geworfen hatte, und fragte kurz: »Steht Dir sonst noch etwas zu Diensten, Gustav?«
Der nagte an seinen Lippen, war unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Er fühlte die grausame Niederlage – und er gönnte doch dem andern den Sieg nicht.
»Nicht? Gut. Dann warte ich's also in Ruhe ab, bis Du mich vor den Kadi zitieren wirst, lieber Gustav. Und nun lebe wohl. Grüße mir die Heimat. Grüße mir die Vetternschaft in Preußen am grünen Tisch. Und sag' ihr: Vetter Fritz, das mauvais sujet des Hauses Succo, ist da unten in Afrika völlig verwildert. Denn es lebt in seinem Herzen auch nicht die leiseste Trauer darüber, daß man ihn daheim aus der Liste der Lebenden gestrichen hat. So tief ist er gesunken.«
Damit ging er.
Gustav stand noch lange finster brütend da und starrte hinter ihm drein.
Und was nun? Sollte er glauben? Konnte das alles nicht ein Versuch sein, diplomatisch die Schuld zu vertuschen? Vielleicht lachte Vetter Fritz schon insgeheim über ihn.
Wieder überfiel ihn die Erinnerung an Stangenbergs Auffassung vom Weibe, von der Treue.
Und da zitterte auch schon wieder die ganze krankhafte Eifersucht in ihm. Er fühlte den kalten Schweiß auf seiner Stirn. Ein Frösteln ging über ihn hin.
Aufstampfend verließ er den Platz.
In dem einen fand er seinen Verdacht ja doch bestätigt – jedes Wort des Vetters bestätigte ihn … Er liebte Jutta, er verehrte sie, nein, er verhimmelte sie geradezu!
Und er, der Gatte, hatte ihm Gelegenheit gegeben, es freimütig vor ihm auszusprechen!
Ja, er hatte sich von dem fremden Liebhaber belehren lassen müssen, was für ein großes, edles Geschöpf diese Frau wäre – und daß er, der Gatte, sie gar nicht zu würdigen verstünde!
Die Unruhe, die Angst ließ ihn nun nicht mehr los: mit jeder Stunde, die er ungenutzt verstreichen ließ, vergrößerte sich die Kluft zwischen Jutta und ihm. Und im gleichen Maße näherte sich seiner Frau – wenn auch nur geistig – der ihm verhaßte Eindringling.
Mit welchem Recht mengte der sich ein? War denn das, was im ersten Schreck, in der ersten Verzweiflung gesagt war, nicht mehr gutzumachen?
Am Abend des nächsten Tages trat er die Fahrt über Luksor nach Assuan an.
Er schreckte mehrmals mitten in der Nacht im Schlafwagen auf. In dem unruhigen Halbschlaf führte er eine erbitterte Fehde mit dem Vetter. Dann wieder war es ihm, als handelte sich's um eine Art Wettlauf: je rascher er Jutta erreichte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, die schreckliche Szene von neulich vergessen zu machen. Grausame Stunden verbrachte er. Zwischen Zweifel und Sehnsucht, zwischen Furcht und Hoffen riß es ihn hin und her. Aber schließlich war doch die niedrigste Form der Eifersucht, die immer wieder seine Phantasie hatte beschmutzen wollen, von ihm abgefallen. Dafür hatte eine andere Art von Eifersucht, eine vielleicht höhere, aber nicht minder quälende, in ihm Gestalt gewonnen. Er empfand, daß Vetter Fritz nach seiner ganzen Anlage, nach Lebensauffassung, Gesinnung und Gemütsart Jutta viel näher stand als er. Auch wenn die beiden vollkommen frei von der Schuld waren, die sein irregeleiteter Verdacht ihnen hatte zuschieben wollen: es gab ein Band zwischen ihnen, das er nicht zerreißen konnte!
Lähmend teilte sich ihm diese Erkenntnis mit. Und in seiner Ohnmacht fühlte er Reue, tiefe, aufrichtige Reue.
Er mußte Jutta noch einmal sprechen. Er wollte ihr eingestehen, daß er glaubte – nein, daß er nun überzeugt war – ihr bitter unrecht getan zu haben.
Die Absicht, die Scheidungsklage einzureichen, hatte er ja nicht wirklich gehabt. Sie mußte verstehen, daß er, durch die äußeren Umstände verblendet, nur in der ersten zornigen Aufwallung so weit übers Ziel hinausgeschossen hatte. Von den Gerichten sollte gar nicht mehr die Rede zwischen ihnen sein. Ihr Vater hatte ja ganz recht: es war unsinnig, es war kindisch, sich gleich so hinreißen zu lassen.
Schließlich kam's in jeder Ehe, auch der besten, einmal zu einem Zerwürfnis. Aber wenn der Teil, der sich im Unrecht fühlte, offen und ehrlich seinen Mißgriff eingestand und die Hand zur Versöhnung hinhielt, dann mußte es zwischen zwei Eheleuten, die schon jahrelang miteinander in guter Harmonie durchs Leben geschritten waren, wieder zum vollen Frieden kommen können.
Da Jutta mit ihrem Vater die Reise auf einer Cookschen Dampfdahabije ausführte, die zur Fahrt nilaufwärts immerhin die dreifache Zeit der Eisenbahn brauchte, so konnte er bestimmt darauf rechnen, am gleichen Tage mit ihnen in Assuan einzutreffen.
Es ward Morgen. Blutrot ging die Sonne jenseits des heiligen Stromes über der arabischen Wüste auf. Lehmgelbe Berge, weiße Städte, Tempelruinen, Scheichgräber und Fellachendörfer flogen an den Wagenfenstern vorüber. Gustav von Succo hatte weder Blick noch Sinn für die Schönheiten der ewig lenzlichen Nillandschaft mit ihren Palmenwäldern und grünen Zuckerrohrplantagen. An ihm riß und zerrte nur immer und ewig die bange Frage: wo und wann würde er Jutta sehen?
Daß ein Weltreisender wie Plaschke soviel Reisetechnik besaß, um jetzt in der ägyptischen Hochsaison die Hotelzimmer vorauszubestellen, das erschien Gustav ziemlich sicher. Als ihm daher in Assuan auf eine Anfrage im Katarakthotel der Bescheid wurde, man hätte noch keine Depesche von den beiden Reisenden, ließ er sich sofort nach der palmenumsäumten Insel Elephantine übersetzen.
Und hier – im Savoyhotel, das wie ein Zauberschloß auf einer Märcheninsel lag – hier zeigte ihm der beflissene Manager sofort das Telegramm, das bereits tags zuvor in Luksor von Plaschke aufgegeben war.
Gustav atmete erleichtert auf.
*
Die Cooksche Dampfdahabije »Nitokris«, auf der nur eine kleine Gesellschaft die Reise nilaufwärts ausgeführt hatte, legte in Assuan nicht wie die überfüllten Touristendampfer im lärmenden Tagesgewühl an der Station an, wo Händler mit nubischen Glasperlen, Dolchmessern, Palmblattrippen, Sennesblättern, Lederfläschchen und Straußenfedern die Landenden sofort in dichten Haufen umschwärmten.
Nein, der englische Schiffskapitän war durch eine vom Kalender, von der Tradition und den poetischen Bedürfnissen der meisten Nilreisenden fahrplanmäßig geregelte Romantik dazu angehalten, eine der unvergleichlich schönen Mondscheinnächte wahrzunehmen, um das schmucke, kleine Fahrzeug mit den koketten Speisesalons und Puppenschlafzimmern in ganz langsamer Fahrt vom Tempel von Kom Ombo durch das schmale Nilbett an den schwarzglänzenden, die Nähe des Katarakts verratenden Klippen vorbei zu dem seeartig erweiterten Becken von Assuan zu führen.
Beim Einbrechen der Nacht, die mit dem leisen Nordwind sanfte Kühlung brachte, hatte sich wie stets die arabische Besatzung der ›Nitokris‹ auf dem Deck im Kreis zusammengekauert. Die Fahrgäste saßen und lagen auf den bequemen Schiffsstühlen und blickten verträumt zu dem wunderbaren Sternenhimmel empor. Der Vorsänger der Matrosen begann in näselndem Ton seine Koransuren, Tamburin und Topftrommel begleiteten den melancholischen Vortrag – und ab und zu, beim Schluß einer Strophe, mischte sich ein langgezogenes ›Allah!‹ der Schiffsmannschaft in den fremdartigen Gesang.
Jutta saß neben ihrem Vater, der seine kurze Burenpfeife schmauchte. Sie hatten einander die Hand gegeben wie ein Brautpaar.
Von fernher mischte sich in die eintönige Gebetsübung zuweilen das Seufzen und Knarren einer Sakije, das Bellen eines Schakals, das Flüstern des Schilfs, das Flattern der vom leisen Wellenschlag aufgescheuchten Taubenscharen.
Immer dunkler waren die Umrisse der Granitberge geworden, die die Landschaft nach Süden abschlossen. Die Ruinen arabischer Forts hoben sich auf den Kuppen des Gebirges vom sternklaren Nachthimmel ab – links tauchten unter Sykomoren- und Palmenwäldern die weißglänzenden Häuser von Assuan auf – langsamer und langsamer ward die Fahrt – dann schlief das Zittern des Schiffskörpers ganz ein – noch ein Klirren und Rasseln der Ankerkette – und die ›Nitokris‹ hielt der geheimnisvollen Palmensilhouette von Elephantine gegenüber, hinter der man ein seltsames, festliches Blitzen sah: das Mondlicht spiegelte sich in den Fenstern des terrassenreichen Hotels.
»Es ist fast eine Sünde, jetzt schlafen zu gehen,« sagte Plaschke. Jutta stimmte ihm bei, flüsternd, wie alle an Bord.
So saßen sie noch lange und lauschten, schwiegen und träumten. Und nach kurzer Ruhe in den Kabinen fand sie das majestätische Schauspiel des Sonnenaufgangs dann alle wieder an Deck vereint.
Aber nun schwamm neben der ›Nitokris‹ noch ein halbes Dutzend kleiner Nilbarken, in denen von den barfüßigen Matrosen das Gepäck der Reisenden verstaut wurde. Auch vom rechten Ufer her näherten sich Boote. An Hilfskräften für den Transport fehlte es nicht. Mit den Männern kam allerlei junges Volk: Knaben splitternackt, Mädchen mit nichts weiter als einem ledernen Gürtel angetan, der mit Fransen besetzt war.
Die kleine Gesellschaft, die von Kairo ab an Bord und hernach in Luksor stets gute Reisekameradschaft gehalten hatte, trennte sich mit kurzem › Good-bye‹ und verteilte sich in die verschiedenen Hotels.
Zu früher, berückend schöner Morgenstunde also, während an der ganzen Fassade des Savoyhotels die zugezogenen Vorhänge verrieten, daß die Gäste noch in tiefem Schlafe lagen, saß Plaschke bereits mit seiner Tochter unter den Palmen der Terrasse beim Frühstück.
Jutta hatte das Allerschlimmste überwunden. Der ewige Frühling, dessen Zauber sie auf der wunderreichen Fahrt genossen, die Märchenbauten vergangener Jahrtausende, die im ›hunderttorigen Theben‹ zu ihrem empfänglichen Gemüt gesprochen hatten, vor allem aber die zärtliche, sinnige Art und Weise, mit der ihr Vater sie verwöhnte, in Liebe einhüllte – all das hatte geholfen, die Schatten zu überwinden.
Es war noch etwas Wundes in ihr – aber sie fühlte sich doch schon wie in der Genesung nach einer schweren Krankheit.
Vor vielen Jahren war Plaschke einmal hier in Assuan gewesen. Von dieser Reise erzählte er nun seiner Tochter. Damals hatte es noch als eine gewisse Tat gegolten, bis zum zweiten Katarakt vorzudringen. Jetzt lebte man hier bequemer als am Rhein und an der Riviera. Behaglich entwickelte er seine verschiedenen ›Schlachtpläne‹, die er unterwegs ausgeheckt hatte, um mit Jutta die sehenswürdigen Stätten ohne jede Ueberstürzung zu besuchen, überhaupt diese Ferientage so recht con amore mit ihr zu verbringen. Er schalt sich dabei einen Egoisten. Denn es war ihm, als hätte ihm das Schicksal sein Kind jetzt zum zweitenmal geschenkt.
Auch Jutta empfand das Zusammensein mit ihrem Vater wie ein Geschenk. Sie hatte jetzt erst, da er der Reisemarschall war, mit Genuß reisen gelernt. Denn er übte stets eine weitgehende Geduld, er war in allem großzügig, er kannte die Kleinlichkeit in den tausend Alltagsdingen nicht, womit Gustav sich und ihr gerade auf Reisen immer das Leben versauert, sie beide um die Freude gebracht hatte.
»Zunächst bummeln wir drüben in Assuan natürlich durch den Basar, dann besteigen wir ein Paar herrlicher Reitesel und traben zu dem berühmten Zeltlager der nubischen Wüstenbewohner, lassen uns ihre ›Fantasia‹ vorführen, und nach Tisch geht's zur Insel Philae. Aber wenn Dir's lieber ist, dann räkele ich mich auch ebenso gern den ganzen Tag hier unter den Palmen mit herum, oder wir mieten ein Boot und lassen uns ganz programmlos auf dem Nil treiben. He, was meinst Du?«
»Ach, Vatting, es ist mir alles recht. Es ist alles gleich schön. Weil Du bei mir bist.«
Er saß auf der Bank neben ihr, hatte seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt, und mit der Linken pätschelte er ihre Hand.
»Eine Courschneiderei ist das – unglaublich!« neckte er sie. »Ich hab nicht gedacht, daß ich auf meine alten Tage noch mal Flitterwochen erleben würde.«
Sie war in so weicher Stimmung, daß ihre Augen feucht schimmerten. Dennoch lachten sie beide miteinander so oft und so herzlich an diesem Morgen, wie lange nicht mehr.
Aber mitten in das Idyll fiel die Begegnung mit Gustav.
Ein lähmender Schreck bemächtigte sich Juttas, als sie ihren Mann plötzlich aus dem Hotel heraustreten sah.
Natürlich fürchtete sie eine neue häßliche Szene mit scharfen Worten, mit Aufregung und Vorwürfen.
Plaschkes Ahnungen bewegten sich in anderer Richtung. Ihm war es sofort klar, daß sein Schwiegersohn inzwischen sein Unrecht eingesehen hatte und ihnen nachgereist war, um sich die Verzeihung seiner Frau zu erbitten.
Er war aufgestanden – gab Juttas Hand aber nicht frei.
»Hab keine Sorge, mein Mädel. Nur Ruhe, Ruhe. Er wird Dir nichts tun. Bist doch mein tapferer kleiner Bursch, he? Und wenn Du ihn durchaus nicht anhören willst, so gehst Du auf Dein Zimmer. Ganz einfach.«
Inzwischen hatte sich Gustav dem Tisch genähert. Er war blaß und kleinlaut, so unsicher, wie seine Frau ihn überhaupt noch nicht kannte.
»Du siehst, Jutta, ich tue den ersten Schritt.«
Aus ihren Zügen war alles Sonnige und Weiche entschwunden. Gequält fragte sie: »Was willst Du noch, Gustav?«
»Ich will Dir die Hand zur Versöhnung geben, Jutta.«
Sie schüttelte den Kopf, schluckte, dann sagte sie tonlos: »Ich – nehme sie nicht mehr.«
Er wandte sich nun bittend und vorstellend an Plaschke. »Papa, Du kannst Dir denken, daß ich viel Schweres durchgekämpft habe. Nicht wahr? Ich meine, Nachsicht müssen wir jetzt alle gegeneinander üben. Bitte, sprich Jutta doch ein wenig zu.«
»Lieber Gustav, Du weißt, Jutta ist kein Kind, das sich zusprechen läßt. Ich respektiere ihre Entschlüsse. Denn ich habe in der kurzen Spanne Zeit auf dieser Reise erkannt, was Dir in der dreijährigen ehelichen Gemeinschaft nicht aufgegangen war: daß sie ein ganzer, fertiger Mensch ist, ein in sich gefestigter Charakter.«
»Ich sehe meinen Fehlgriff – meinen unbegründeten Verdacht – mein ganzes großes Unrecht sehe ich ja ein. Mehr kann ich doch wahrhaftig nicht sagen. – Ich denke: wenigstens anhören müßtest Du mich doch, Jutta.«
Nach einem inneren Kampf gab sie die Hand ihres Vaters endlich mit einem entschlossenen Druck frei und nickte ihm zu. Plaschke verstand seine Tochter sofort, nickte wieder und ging.
So waren sie denn allein.
Gustav atmete tief auf und sah sich zunächst scheu und erregt nach den andern Tischen um, an denen sich Hotelgäste niedergelassen hatten. Juttas Blick folgte dem seinen. Ein mattes, spöttisches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Es war für Gustav so bezeichnend, daß er selbst in diesem entscheidenden Augenblick zuallererst an das Vorhandensein ihm lästiger Zeugen dachte.
»Müssen wir gerade hier bleiben, Jutta?« fragte er gedämpft, nachdem Plaschkes Gestalt im Hoteleingang verschwunden war.
»Sind wir hier auf der Insel Elephantine – mitten im Nil – noch immer nicht weit genug von all den Leuten entfernt, deren Meinung Du fürchtest?«
»Du spottest gleich wieder. Wie gräßlich, wie verhängnisvoll der Klatsch ist – auch der müßige Hotelklatsch von x-beliebigen Fremden – das haben wir doch erst ganz kürzlich erlebt, denk ich. Und haben darunter schwer genug gelitten.«
»Es ist Dein größtes Unglück, Gustav, daß Du so veranlagt bist, darunter leiden zu müssen.«
»Mußt Du mich damit wieder kränken, Jutta? Du weißt ja nicht, was für eine Folter ich durchgemacht habe. – Also laß mich noch einmal auf die unselige Sache zurückkommen. Es hilft doch nicht … Siehst Du, der Schein war nun einmal da. Du bist auch selbst von einer gewissen Schuld nicht freizusprechen. Das mußt Du zugeben, wenn Du ehrlich bist. Ja, mein Gott, hundert Dinge trafen da zusammen … Ich sagte ja auch gleich zu Papa: ich war mehr der öffentlichen Meinung, der Welt wegen gezwungen, Stellung zu nehmen … Ich selbst hab es ja nicht im Ernst … Wenigstens in der ganzen Tragweite –«
»Belüge Dich doch nicht, Gustav.«
»Nun ja,« fuhr er auf, »ich war eifersüchtig. Den Teufel auch, welcher Mann an meiner Stelle wäre es nicht gewesen? Wenn man so etwas hört. So etwas. Du mußt Dich nur in meine Lage versetzen. – Inzwischen bin ich zur Vernunft gekommen. Gottlob übersehe ich jetzt alles. Hörst Du, Jutta?«
Sie blieb stumm.
»Uebrigens hab ich vorgestern auch den – den Vetter Fritz – den hab ich also gesprochen. Es ergab sich durch einen Zufall. Ja, und da …«
Wiederum brach er ab. Aufmerksam hatte er sie bei diesen letzten, zögernd, gewissermaßen tastend vorgebrachten Worten beobachtet. Aber keine Muskel in ihrem Gesicht zuckte. Nur ihre Pupillen weiteten sich, ihr Blick ward größer – und noch starrer, kälter.
»Warum siehst Du mich so seltsam an, Jutta?«
»Ja. So, als wolltest Du mir jetzt aus allem einen Vorwurf machen. Auch daraus. Und es ergab sich eigentlich so ganz von selber … Als müßte es so sein … Du glaubst mir nicht?«
»O gewiß, Gustav. Ich glaube Dir. Aber ich fasse es nicht. Daß Du Dich nicht geschämt hast.«
»Geschämt. So. Wie Du doch alles gleich verzerrst. Statt daß es Dir eine Befriedigung ist: ich bin Dir daraufhin nachgereist, um Dir zu erklären …«
»Daraufhin?«
»Nun ja – auch daraufhin, natürlich. Denn wie er von Dir sprach, mir alles schilderte, erklärte – das trieb mich eben, Dir zu sagen: die Sache tut mir leid, furchtbar leid, ich glaube nichts, nichts, nichts von der ganzen verdammten Klatscherei. Und ich meine: das könnte Dir doch genügen, Dich alles vergessen machen, Dich sogar mit einem gewissen Stolz erfüllen.«
»Nein, Gustav. Meinen Frauenstolz hatte das ja gar nicht berührt. Denn was Du neulich zu mir gesagt hast, das hat nur meinen Stolz auf Dich getötet. Und das trennt uns.«
»Jutta! – – Aber liebste Jutta!« Er sah sich wieder unwillkürlich nach den andern Tischen um. Dann kam er ihr einen Schritt näher und hielt ihr bittend die Hand hin. »Trennt uns. Wieso denn?«
»Für immer, Gustav.«
»So. So. Das ist also wirklich Dein fester Entschluß?«
»Es war Dein Wille. Es hat mich zuerst auch tief getroffen. Aber inzwischen hab ich mich darein gefunden.«
»Aber ich sage Dir doch: ich war damals von einer ganz falschen, unseligen Voraussetzung ausgegangen. Siehst Du, an dem Mißverständnis war doch hauptsächlich bloß Deine Geheimtuerei schuld. All das könnte ich Dir ebenso gut nachtragen: daß Du Dich da in der alten, halbvergessenen Geschichte mit Vetter Fritz gleich auf seine Seite gestellt hast – bloß aus Trotz gegen uns – ohne jeden tieferen Anlaß.«
»Ohne jeden tieferen Anlaß. – Bist Du dessen denn so völlig sicher?«
Verdutzt sah er auf. »Ich denke doch. Denn wie Fritz von Dir gesprochen hat – so voller Respekt, voller Verehrung … Das kann doch nicht bloß Maske gewesen sein. Jutta, ich verstehe nicht …«
Sie hatte sinnend zwischen den Palmen hindurch auf den weiten, stillen Strom geblickt, auf dem vereinzelte Dahabijen schwammen.
Schweigen herrschte.
In Gustav regte sich bald wieder die zitternde Eifersucht.
»So sprich doch, Jutta,« sagte er endlich schluckend.
»Ich kann Dir nicht angeben, Gustav, wann es gekommen ist – und wie es gekommen ist. Gewiß schlummerte es zunächst unbewußt in mir und trieb mich dazu, mich seiner anzunehmen. Aber jetzt ist es erwacht – ich sehe es ganz klar – und ich bin unsagbar glücklich darüber, daß ich dieser ersten Regung gefolgt bin. Siehst Du, das ist der Grund, weshalb ich Fritz durchaus helfen wollte: ich war ihm eben von ganzer Seele gut, weil sein Schicksal mich rührte, weil er mir als Mensch, als Mann Achtung, ja Bewunderung abrang. Und von Tag zu Tag ist es in mir gewachsen, hat fester und stärker und tiefer Wurzel in meinem Herzen geschlagen: und heute weiß ich, daß ich ihn höher stelle als Dich.«
»Höre – das ist ja so ungeheuerlich … Das sagst Du mir, wo ich herkomme, ganz vertrauensvoll, ganz versöhnlich … Das stellt ja alles auf den Kopf. Das ist ja unmöglich. Jutta – dann hätten diese Menschen ja doch recht gehabt?! Ich will es immer noch nicht glauben …«
»Wolltest Du denn nicht die volle Wahrheit?«
»Du willst mich strafen, nicht wahr, das ist es? Ich gebe zu, ich habe unverantwortlich gehandelt. Aber denk' an die drei Jahre, die hinter uns liegen. Es war doch so vieles schön – und festlich – und ich denke doch, wir waren glücklich, Jutta. Sag, waren wir nicht glücklich?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich hab's immer wieder versucht, Gustav, glücklich zu sein. Hab mir's oft auch einreden wollen, daß ich's wäre. Aber gelungen ist mir's nicht.«
»So. So. Nun, das ist mir ja ganz neu.« Ein Schreck durchzuckte ihn. »Und Du meinst etwa: mit ihm wärst Du's geworden?«
»Vielleicht, Gustav.«
»Also so verhält sich's? Du denkst auch vielleicht gar: mit ihm würdest Du's jetzt noch? – Ja, ist es so?«
Sie schloß die Augen, und ein trauriges Lächeln erschien auf ihren Lippen. Sie gab ihm keine Antwort.
»Jutta, aber dann will ich Dir das eine sagen: es würde niemand mehr daran zweifeln, daß es zwischen Euch … Herr meines Lebens! Jutta! Ueberlege Dir doch! Es könnte Dir dann ja gar niemand mehr glauben, daß es nur eine Freundschaft war. Alle Welt – alle Welt, sag' ich Dir – müßte das Schlimmste annehmen!«
Nun schlug sie den Blick groß auf.
»Auch – Du, Gustav?«
»Du quälst mich. Du bist grausam.«
»Auch Du, Gustav?«
»Darauf antworte ich nicht. Ich halte es für so unmöglich … Und meinst Du denn, ich würde das einfach hinnehmen? … Das hieße ja der guten Meinung geradezu ins Gesicht schlagen … Weißt Du, dann – solltet Ihr mich kennen lernen! Das ließe ich mir nicht bieten … Aber ich glaube es noch nicht.«
Jutta hatte nun die volle Selbstbeherrschung wiedererlangt. Sie sah ihm klar und fest ins Auge. »Was in mir lebt für ihn, das können keine Worte töten. Auch Deine Drohungen nicht.«
»Und trotzdem bestreitest Du – trotzdem willst Du mich glauben machen … Jutta, das sagst Du doch alles bloß, um mir wehe zu tun …«
»Tut es Dir wirklich weh, Gustav?«
»Du willst meine Eifersucht anstacheln. Ja. Und das ist schändlich.«
»Ach, Deine Eifersucht, Gustav. Auf ein Gefühl wie das kann man nicht eifersüchtig sein. Du, Gustav, verstehst es ja gar nicht, dieses Gefühl.«
»Aber als Mann empfinde ich, daß Du ein Verbrechen begehst. An mir – an meinem Namen.«
»Ich bin bereit, ihn abzulegen, Gustav.«
»Wie sprichst Du nur? – Jutta, ich will zunächst nur annehmen, daß Du Dich an mir rächen willst … Denn wenn ich überlege: Du drückst damit einfach aus, daß ich Dir überhaupt gleichgültig war … Dann hast Du mich getäuscht, jawohl, jahrelang hintergangen!«
»Ich habe mich getäuscht, Gustav.«
»Was sagt denn Dein Vater dazu? Der setzt Dir nicht den Kopf zurecht?
»Er hat mir zunächst wieder das Herz an die rechte Stelle gerückt, Gustav. Er hat mir den Mut und die Kraft gegeben, wieder als freier Mensch zu empfinden.«
»Ich sehe – es ist also alles vergebens. Selbst der beste, ehrlichste Wille wird schnöde verkannt.«
»Nein, Gustav. Verkannt nicht. Daß Dein Wille gut und ehrlich ist, das glaube ich Dir. Und ich danke Dir herzlich dafür.«
»Nun – also –?«
»Aber der Wille genügt ja nicht. Wir sind zwei zu verschiedene Menschen. Das hab ich endlich eingesehen. Und noch nie so klar wie in dieser Stunde.«
»Ich gehe also. Gut. Lebe wohl.«
Er blieb aber noch immer stehen.
Da hob sie endlich die Hand und hielt sie ihm hin. »Lebe wohl, Gustav.«
»Jutta – es ist ja unmöglich –! Und denk doch bloß an den Skandal!«
Nun ließ sie die Hand wieder sinken und schüttelte matt lächelnd den Kopf. »Ach – lieber Gustl!«
»Und Dein Vater? Du denkst, ihm ist das alles ebenso gleichgültig wie Dir?«
»Ich hoffe, daß er mich verstehen wird.«
»Ich lasse Dir Bedenkzeit, Jutta. Das ist viel mehr, als ich eigentlich kann und darf.«
»Ich brauche sie nicht, Gustav. Du hast Deine Frau von Dir gejagt. Einmal. Sie kommt nicht mehr zu Dir zurück.«
»Dann will ich Dir sagen – dann muß ich jetzt wirklich glauben – so schrecklich es ist: Dir ist recht geschehen!«
»Ich fragte Dich ja, Gustav, ob Du das auch heute noch glaubst.«
»Ich muß es jetzt glauben.«
»Also – lebe wohl, Gustav.«
Ein langer, drohender, furchtbarer Blick traf sie. »Wie schlecht Du bist, Jutta.«
Und er wandte sich schroff von ihr ab und ging.