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Es war Liane eine Erlösung, als sie sich endlich wieder in ihrem Zimmer befand. Da war es kühl und still, und alles schien unverändert so, wie sie es vor ein paar Stunden verlassen. Aber sie selbst kehrte ja verändert zurück. Immer wieder klangen ihr Axels Worte in den Ohren, und immer wieder begann sie von neuem zu zittern, als sei sie nach schwerer Krankheit zum ersten Mal aufgestanden. Ganz erschöpft warf sie sich auf das Sofa. Sie hatte noch gar nicht seelische Umschau halten können, stand noch ganz unter dem physischen Eindruck des Staunens, der Verwirrung. – Mit Anstrengung erhob sie sich nach einiger Zeit und zog sich an, um zum Abendessen mit Linteloe fertig zu sein. Als sie aber in den Speisesaal trat, war da nur ein Gedeck gelegt, und der Diener sagte, er habe geglaubt, sie wisse, daß Herr von Linteloe in den Klub gegangen sei und gar nicht zum Diner heimkehre. Oft hatte sie ähnliches verletzt, heute empfand sie es befreiend und angenehm. Was bestand überhaupt zwischen ihnen beiden? Nicht einmal gemeinschaftliche Mahlzeiten.

Sie trat einen Augenblick in den dunkelnden Garten. Rosenduft strömte ihr entgegen, und sie streifte mit der Hand über eine der weißen Rosen, die am Hause blühten. An der Kühle der Blumenblätter bemerkte sie, wie glühend ihre Hand war, und des blinden Sängers Lied fiel ihr wieder ein: »Ihr Schmerz so heiß, so brennend ihr Weh, daß die grünen Pinien verdorrten.« Dann aber vernahm sie ganz deutlich Axels Stimme: »Wir könnten so glücklich sein, so glücklich.« Dabei hatte sie wieder das seltsame Gefühl, als seien seine Worte Perlen, die sich von einer Schnur gelöst und ihr vom Nacken herab am Rücken entlang rieselten. Sie schauerte zusammen. Nach dem heißen Tag war die Nacht kalt geworden. Sie gewahrte es erst jetzt. Es schüttelte sie wie im Fieber.

In ihr Zimmer zurückgekehrt, setzte sie sich mechanisch an den Schreibtisch. Vor ihr stand die Meißner Figur der schlafenden Frau, mit der Axel sie selbst einst verglichen hatte. Sie wunderte sich, daß die Augen der kleinen Schläferin noch geschlossen waren, und halblaut sagte sie vor sich hin: »Du bist ja erwacht, erwacht.« Und nach einer langen Zeit, während der sie ganz unbeweglich dagesessen hatte, stöhnte sie plötzlich laut auf: »Oh, besser schlafen, schlafen, als zu spät erwachen – viel zu spät!«

Draußen hatte sich der Wind erhoben, sie hörte ihn in den Wipfeln rauschen. Nun begann irgendwo ein loser Fensterladen zu knarren. Da mußte sie an eine Meerfahrt denken, die sie einst daheim als ganz junges Mädchen gemacht; ein Sturm hatte sich damals erhoben, sie erinnerte sich ihres Grausens vor den schwarzen Wasserabgründen, und wie sie immerwährend gedacht hatte: wir dürfen nicht darin versinken, wir dürfen nicht untergehen, denn ich weiß ja noch gar nichts vom Leben, vom wunderschönen Leben!

Das wunderschöne Leben! wie bitter das doch heute klang. Nichts hatte es gebracht, und nun, wo es zu spät war, da hielt es ihr alles hin. Wie zum Hohne!

Sie zog ein Blatt Papier an sich, nahm die Feder zur Hand, und zögernd, suchend begann sie zu schreiben:

»Lang sind wir uns fern gewesen. Aber dann bist Du mir gesandt worden. Ich habe Dich wiedergefunden. Denn ein Wiederfinden war es. Und zugleich doch etwas so völlig Neues. Seltsam beklommen war mir an dem Morgen, da Du nach all den Jahren zu mir in meinen Garten kamst. Wie würdest Du es bei mir finden? Was brachtest Du selbst? – Und wie in meinem Garten sahst Du Dich alsobald in meinem Leben um. Ich konnte Dir nichts verbergen. Da sagten mir Deine Augen: manches magst Du haben, aber Notbehelf ist es alles, das Köstlichste, die Blume, die allein erst die Wüste zu Garten wandelt, besitzest Du nicht. – Ich aber wußte, daß Du recht gesehen. Jene Blume hat mir nicht geblüht. Und weiter sprachen Deine Blicke, daß Du mir brächtest, was ich nie gekannt. Sie sagten, daß Du mich liebtest – und heute, da flüsterten es auch Deine Lippen.

»Da ist eine große Sehnsucht in mir erwacht. Wie mit Zauber zieht es mich zu Dir hin. Was der Quell dem Wüstenwanderer, das scheinst Du mir. Aber zugleich erfüllt mich eine große Angst. Mir ist, als hörte ich, wie im Märchen, eine Stimme, die warnend raunt: trink nicht von mir! – Es ist, als wolle mich die Stimme vor mir selbst retten. Ahnend fühle ich, daß das Unbekannte, das Du mir bringst, mich, wie des Märchens verzauberte Quelle, ganz verwandeln würde, und daß ich an der Verwandlung zugrunde gehen müßte.

»Denn es ist zu spät, Axel, es ist zu spät! – Das ist das Wort, das mir die warnende Stimme zurufen will, das traurigste Wort der Welt. Und ich muß es Dir sagen. Denn ob Du gleich bist wie ein König aus sagenhaftem Lande, der mir mit geheimnisvollen Gaben naht, und ob ich sie gleich begehre wie nichts je auf Erden, so bebe ich doch zurück, wie vor dräuendem Verhängnis, und ich fühle: erblüht die Wunderblume zu spät, so ist auch sie nur Notbehelf, vermag nicht mehr die Wüste zu Garten zu wandeln.

»Nein, was Deine Blicke gesagt, was Deine Lippen geflüstert haben, das kann nicht sein. Wir müssen es vergessen. Ach und Dir, Axel, wird das rasch gelingen, denn viele Morgen liegen ja vor Dir. Und wenn Du auch heute mein Bild im Spiegel jeder gleitenden Welle und im Kelch jeder Blume zu sehen glaubst, so wird es in Deinem Gedächtnis doch bald verblassen, und Du wirst Dich auf den Klang meiner Stimme nicht mehr besinnen können, wenn Du ihn auch jetzt im Schweigen der Nacht und im Brausen der Tage einzig und allein zu hören wähnst. Denn Du bist jung. Und was Du für Liebe zu mir hältst, ist es nicht viel mehr Liebe zu Deiner eigenen Jugend? – Jugend, die erleben und immer mehr erleben möchte, die alles willkommen heißt, weil sie sich selbst eine ewige Allüberwinderin deucht und noch nicht grauenerfüllten Auges eigenes Schwinden geschaut hat.– Ach, wie oft ward für Liebe gehalten, was nur überschäumende Jugend war!

»So ist es mein traurig Los, für uns beide weise zu sein. Auf daß nichts sei, was die wehmütige Schönheit dieses Wiederfindens einst in unserer Erinnerung trüben könne. Wir müssen uns dabei gegenseitig helfen, Axel. Ganz aufrichtig. Da ja keiner von uns beiden fliehen kann. Ich bitte Dich darum. Und ich weiß, wenn Du dereinst zurückdenkst an diese Zeit, so wirst Du mir danken für diesen Brief – den zu schreiben mich so bitter schmerzt.

»Du aber, liebe noch lange die eigene Jugend!« – Liane hatte oftmals im Schreiben innegehalten und vor sich hin gestarrt, ohne doch etwas zu sehen, und hatte dann weiter geschrieben, und war wieder aufgestanden und im Zimmer auf und ab gegangen. Es war mehr ein Selbstgespräch als ein Brief.

Sie hatte nicht beachtet, daß die Tageshelle schon längst siegreich gegen das elektrische Licht kämpfte. Jetzt sah sie, daß der Morgen gekommen war. Es konnte sogar nicht mehr ganz früh sein, denn sie hörte allerhand Geräusche im Hause. Vielleicht war sie vor Erschöpfung am Schreibtisch etwas eingeschlafen, ohne es selbst zu wissen. Nun steckte sie, was sie geschrieben, in ein Kuvert, klingelte und sagte dem eintretenden Diener, der Brief solle sofort zum Grafen Kronar gebracht werden.

Sie hatte es alles hastig getan, als wolle sie sich nicht Zeit lassen, anderen Sinnes zu werden. Als der Diener aber gegangen war und sich der Brief unwiderruflich auf dem Weg zu Axel befand, spürte sie nichts von jener inneren Befriedigung, die der Lohn des Guten sein soll. Nur eine bleierne Müdigkeit überkam sie, so daß sie nicht einmal mehr die Kräfte besah, sehr unglücklich zu sein. Es war, als würde ihr ein Betäubungsmittel gereicht und als wisse sie einschlafend, daß beim Erwachen der große Schmerz unabwendbar dasein würde.


Für Ritte, Gebirgstouren oder Reisen war Axel zu jeder Morgenstunde stets bereit, aber er gehörte nicht zu den prinzipiellen Frühaufstehern. So hatte er auch an diesem Morgen lang geschlafen und war grade im Begriff, allmählich zu erwachen, als Iwan ihm Lianens Brief brachte. Der Anblick ihrer Handschrift ermunterte ihn sofort völlig, und mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie all seine Fähigkeiten nach dem Schlafe neu erfrischt erwachten, so stellte sich auch alsobald sein Verlangen nach ihr wieder ein. – Was konnte sie ihm geschrieben haben? – Das Kuvert fühlte sich dick an. Gespannt riß er es auf. Unabänderliche Abwehr ist gewöhnlich lakonisch, das wußte er; ihr gestriges Schweigen hatte ihn darum auch etwas beängstigt. So sah er es als ein günstiges Zeichen an, daß sie überhaupt schrieb – obgleich er sonst Literatur als Beimischung zur Liebe nicht sonderlich schätzte.

Er war erstaunt über den Brief. Skrupel religiöser oder ethischer Art, auch materielle Bedenken hatte er von Frauen vernommen – einiges Derartige gehörte gewissermaßen dazu. Liane aber sprach nicht, wie er es erwartet, von Pflichten und nicht von Linteloe – der spielte in ihrem Leben offenbar eine noch kleinere Rolle, als Axel gedacht –, sie schien nur eine Art von Grauen zu empfinden, wie vor einem Schicksal, das sie doch unabweislich anzog. Na, solches Grauen würde wohl zu überwinden sein, dachte Axel; denn eigentlich liebte sie ihn ja, das ging aus dem Brief doch klar hervor. – Aber sie schien zu bezweifeln, daß er sie wirklich gern habe. Wie kam sie nur darauf? – Er war sich in diesem Augenblick seiner Gefühle so völlig sicher! – Er las den Brief noch einmal durch. Einiges schmeichelte ihm. König aus sagenhaftem Land, der mit geheimnisvollen Gaben naht, hatte ihn noch niemand genannt. Es klang hübsch. Das war ja auch gerade so reizend an Liane, daß man durch ihre Augen erst so recht gewahrte, was für ein netter Kerl man doch eigentlich war. Sie besaß die Gabe, alles über das Banale empor zu heben. Man selbst fühlte unter ihren Blicken so etwas wie Flügel wachsen. Dabei erinnerte er sich vergleichsweise anderer Frauen, in deren Nähe aller Schwung so leicht erlahmte und wo Dichtung stets Versfüße blieb. – Aber was sollte das eigentlich, daß sie in dem Brief so viel von seiner Jugend sprach, als sei sie selbst alt? Es lagen doch nur ein paar Jahre zwischen ihnen. Zu spät? Warum denn? Damals, früher – ja da war es, für ihn wenigstens, eben zu früh. Bei ihrer Hochzeit hatte er sich zwar seinen ersten Verzweiflungsrausch angetrunken, den in der allgemeinen Festesfreude niemand beachtete, aber unmöglich wäre es darum doch geblieben – er war ja erst Student. – Und nun konnte es doch so nett werden. Aber offenbar wollte sie noch ein bißchen persuadiert werden. – Zu spät? Das reizte ihn zum Widerspruch, darauf wollte er ihr schon antworten. – – Und jetzt sagte er sich zögernd und mit einem gewissen Unbehagen, daß er ihr wohl schreiben müsse. Er würde sie zwar in wenigen Stunden bei dem Frühstück sehen, das sie für die beiden Amerikanerinnen an dem Tage gab, aber durch diese unternehmungslustigen Fremden drohte ja alle gewohnte Ruhe aus dem Leben heraus zu kommen, und man würde gewiß nicht mehr so leicht wie bisher ungestört zusammen sein können. Er war in der Stimmung, wo jede äußere Schwierigkeit zum Sporn wird, und wenn es auch völlig gegen seine Prinzipien verstieß, schriftliche Beweise von Gefühlen längs seines Lebensweges zu streuen und dadurch stumme und doch beredte Zeugen bestimmter Episoden zu schaffen, deren Natur es im Gegenteil gebot, sie in möglichstes Dunkel zu hüllen, so hatte er doch die hohe Warte solch kühler Erwägungen längst verlassen. Auch Prinzipien mußte man gelegentlich untreu werden können! Er sah Lianens Brief nun als eine Art Invite an – na gut, war Korrespondenz Trumpf, so würde er eben zeigen, was er von dieser Farbe hatte. Und Axel, der kein Held der Feder war, begann zu schreiben – nachdem er gebadet und gefrühstückt hatte.

Er fing mehrere Briefe an und zerriß sie wieder. Sprechen wäre so viel leichter gewesen! Da wirkte doch die äußere Persönlichkeit mit – und auf die konnte sich Axel stets verlassen; auch schien ihm, daß das sicherste Argument einer Frau gegenüber schließlich doch immer bleibe, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, daß sie gar nicht anders konnte als wieder zu küssen. – Tinte und Papier! welch schwacher Ersatz!

Unsicher und nicht sonderlich befriedigt las Axel den Brief durch, der schließlich zustande kam und den er von Iwan, nach Einschärfung größter Vorsicht, hinübertragen ließ. Er war kurz und lautete ungefähr:

»Was willst Du Dank in Jahren? Da werde ich nicht danken, da werde ich mich nur erinnern, daß Du uns beide um das Glück gebracht hast. Und warum? Dein Leben ist leer, und mein Herz ist so voll! – Und was redest Du von zu spät? Du bist ja jung – jung wie jeder, der noch gar nicht gelebt hat. In Deinem Brief ist nur eines ganz wahr: daß Deine bisherigen Gärten eigentlich Wüsten waren. Wenn Du aber wirklich an Jahren alt geworden sein wirst und zurückdenkst an diese Zeit, dann wirst Du Dich nicht, wie Du heute wähnst, ›an der Ungetrübtheit ihrer wehmütigen Schönheit freuen‹, sondern Du wirst bereuen, wie nur das Versäumte bereut werden kann. Du wirst weinen, bitterlich, über die selbstgewollten Wüsten, die hinter Dir liegen. Verweise mich nicht auf Dankbarkeit, die ich in Zukunft ob Deiner Weisheit empfinden soll – glaub mir: oft ist die größte Weisheit, nicht weise zu sein. Wach auf, wach auf, Du meine Gegenwart, daß wir den schönen kurzen Tag nicht verlieren! Heut laß mich vor Dir knieen, heut laß mich Dir danken, danken, danken dürfen!«


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