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Es waren wirklich nur ein paar Schritte, aber der Frühlingshimmel war von so lichtem Blau, die einstöckigen hellgestrichenen Häuschen hoben sich so lachend davon ab, und die Reihen junger Kastanienbäume, an denen die grünen Blätterfingerchen eben aus den klebrigbraunen Knospenkapseln hervorgekrochen waren, lockten durch ihre schüchternen Versuche, schon Schatten zu spenden, so sehr zu behaglichem Schlendern, daß Axel unwillkürlich langsamer ging.
Und da stand die Frage des gestrigen Abends von neuem vor ihm: Wie würde er Liane wiederfinden? Ging er einer großen Enttäuschung entgegen? Er merkte, daß er den ganzen Morgen bei Baron Holst und in der Kanzlei eigentlich nichts anderes gedacht hatte, als wie die Gegenwart wohl vor der Kindheitserinnerung bestehen würde.
Er klingelte an dem großen Hoftor, und der Diener, der öffnete, sagte, noch ehe sich Axel genannt hatte: »Die gnädige Frau ist im Garten und hat befohlen, den Herrn Grafen gleich hinzuführen.«
Axel folgte dem Diener durch den Hof und trat von da in den Garten.
Gegen einen Hintergrund dunkler Tannen breitete sich eine Rasenfläche vor ihm aus, die über und über besät war mit Hyazinthen, Narzissen und Tulpen. Nicht in geraden Linien und abgezirkelten Beeten standen die Blumen, sondern sie waren wie zufällig über den Rasen verstreut; zu zweien und dreien, zu fünfen und sechsen vereint, bildeten sie rote und gelbe, weiße und rosa Farbenflecken auf dem grünen Grunde. Sie glichen Menschen, die sich in einer großen Gesellschaft zu Gruppen vereinigt haben, gegenseitiger Neigung und Anziehungskraft folgend. Und Freude des Wiedersehens lag in den stillen Blumengesichtern; den ganzen Winter hatten sie unter der Erde geschlummert, nun waren sie wieder aus den schützenden Hüllen herausgeschlüpft und nickten sich im Sonnenschein zu: Da sind wir, da sind wir! Ganz dieselben wie in all den früheren Jahren, ganz dieselben!
In der Mitte des Rasens aber, wie die Blumen gleichsam aus ihm herauswachsend, stand eine Frau in einem weichen, weißen Gewand. Vor ihr ein gebückter, grauhaariger Gärtner. Und obschon der Alte sie sicher sehr oft gesehen haben mußte, merkte man ihm doch gleich an, daß er sie mit noch größerem Entzücken betrachtete als all die eben erblühten Blumen zu ihren Füßen. Und Axel begriff den Alten. Unwillkürlich hielt er einen Augenblick inne, um auch das Bild zu genießen. Nein, das Milieu, das er am vorigen Abend kennengelernt, hatte Liane offenbar nichts geschadet! Aber wie froh war er doch, daß er sie nicht dort in dem rauchigen Spielzimmer zuerst wiedergesehen, sondern sie hier zwischen den Frühlingsblumen mit dem Hintergrund hoher Tannen und blühender Büsche fand. Dies war ihr Milieu! Aber war es Zufall, daß er sie hier traf, oder hatte sie das überlegt und wohl vorbereitet? schoß es ihm fragend durch den Sinn. Ja, dann mußte sie wohl in den Jahren, die er sie nicht gesehen, eine Lebenskünstlerin, eine Beherrscherin des Effektes geworden sein. Nun, er würde ihr das nicht vorwerfen! Jede Lebenslage so gestalten, daß sie den größtmöglichen ästhetischen Reiz gewährt, erschien ihm noch lange nicht die törichtste Philosophie.
Die Frau in dem weißen Kleide mußte seinen Schritt gehört haben, denn sie schaute plötzlich auf, und ihn erblickend kam sie über den blumendurchwirkten Teppich mit ausgestreckten Händen auf ihn zu.
»O Axel, bist du wirklich da? Du glaubst nicht, wie ich mich gefreut habe, seitdem ich hörte, daß du hierher versetzt seist.«
Also so war sie geworden! dachte er, sie anschauend. Wenig mehr war an ihr zu finden von dem Bilde, das seine Erinnerung von ihr bewahrt hatte, – und wie er so dastand und sie anschaute, fühlte er, wie er plötzlich dies frühere Bild verlor und sich an seine Stelle die jetzige Wirklichkeit schob, die ihm viel reizvoll lockender dünkte, weil da vieles war, das er nicht kannte und das ihr einen geheimnisvollen Zauber verlieh.
»Nun soll es hier aber schön werden, wo du da bist!« sagte sie und schaute ihn an, als sei er die zurückkehrende Jugend selbst.
Und er fand nichts anderes zu antworten, als ihre Worte zu wiederholen: »Ja, Liane, nun soll es schön werden«, weil er gar nicht an das dachte, was er sagte, sondern sie nur immer anschaute.
Und teilnahmvoll blickten die Blumen zu den beiden Menschen auf, die nach langer Wintertrennung auch wieder zusammenkamen, in deren Augen aber die suchende Frage war, von der die Blumen nichts wissen: Was ist aus uns in den Zeiten geworden? Sind wir noch dieselben wie dazumal?
Doch nun wurden sich die beiden bewußt, daß sie sich noch immer bei den Händen hielten, und sie ließen sich plötzlich los. In Lianes Gesicht stieg es wie Frühlingsröte, und sie sagte hastig: »Wie lang ist es denn her, daß wir uns nicht sahen? Zehn Jahre? oder mehr?«
»Ja,« antwortete er, »zehn Jahre müssen es mindestens sein. Es war an deinem Hochzeitstag, daß ich dich zuletzt sah.«
»Eine lange Zeit,« sagte sie, und es klang wie ein Seufzer. »Aber«, setzte sie hinzu, als eile sie über eine Strecke schlimmen Weges, »laß uns nicht von Zeit reden, das Wort klingt mir immer so kalt und lang und leer.«
»Es gibt doch auch glückliche Zeiten,« warf er hin, »und du, Liane, schienst damals solchen entgegenzugehen.«
»Ja, das nimmt man nun einmal bei Hochzeiten immer so an,« antwortete sie etwas verlegen lächelnd und fuhr dann fort: »Wenn ich aber jetzt Leute von glücklichen Zeiten sprechen höre, frage ich mich immer: Irren sie sich nicht? Glückliche Zeiten? Es waren wohl stets nur flüchtige, kaum zu erhaschende Sekunden.«
Armes Cousinchen, dachte er im stillen, den Schnurrbart drehend, du mußt mit argen Lebenspfuschern zu tun gehabt haben! Laut aber sagte er: »Vielleicht besteht die Kunst darin, einmal so glücklich gewesen zu sein, daß ein Schimmer davon über das ganze Leben fällt.«
Ihre Augen begegneten sich, und die seinen schienen zu fragen: Weißt du etwas von solchem Glück? Die ihrigen aber senkten sich beschämt zu Boden, und da stieg etwas in ihm auf wie die Ahnung einer großen Armut.
Aber wo waren sie in den paar Minuten mit Gedanken und Worten denn schon hingeraten, frug sich Liane erschrocken. Das ging ja garnicht. Sie schritt nun innerlich den Weg wieder zurück und frug in gleichgültigem Tone: »Nun, und wie war denn deine Reise?«
Das Lachen, das bei ihm mehr als in den Mundwinkeln in den Augen wohnte, blitzte darin auf. Er schaute sie belustigt an, denkend: Was liegt dir an meiner Reise? das willst du ja gar nicht hören. Aber er antwortete sehr ernsthaft: »Meine Reise, liebe Liane, verlief sehr gut. Ich habe die ganze Zeit zum Coupéfenster hinausgeschaut und doch gar nichts von dem behalten, was an mir vorüberzog. Ich habe es nämlich überhaupt nicht gesehen, weil ich immer nur an ein kleines Mädchen dachte, mit dem ich vor Jahren gespielt, und weil ich nachsann, wie ich sie wohl wiederfinden würde.«
»Nun,« frug Liane, einem plötzlichen Mutwillen folgend, »und wie findest du sie?«
»Beunruhigend,« antwortete er lakonisch.
Zwischen den vielen Blumen waren sie weitergeschritten. Von allen Seiten stieg aus geöffneten Blütenkelchen Wohlgeruch zu ihnen empor. Keine einzelne Blume war besonders zu unterscheiden, es war ein allgemeiner Frühlingsduft, bei dem der Menschen Atem beklommen geht und sie an lauter süße Dinge denken.
So kamen die beiden an eine Stelle, wo der alte Gärtner jetzt arbeitete. Er hatte eben zwei Löcher gegraben und zwei silbrig weiße Ahornbüsche hineingesetzt und wartete nun mit dem Zuschaufeln. »Wird's so recht sein, gnädige Frau?« frug er, das Käppchen von den weißen Haaren lüpfend, als Liane und Axel vorbeikamen.
Liane blieb stehen, betrachtete die Pflanzen und ließ den einen Busch ein bißchen rücken. »So ist's gut,« sagte sie, nachdem sie noch einmal prüfend hingeschaut. »So haben sie genug Platz. Ihr weißes Laub wird sich später schön von der Blutbuche dahinter abheben, so werden sie gern stehen. Glaubst du nicht auch?« wandte sie sich an Axel.
»Ja, sie werden sich sicher gut machen,« antwortete er, »aber was meinst du damit, daß sie gern dastehen werden?«
»Es soll doch ihnen selbst ihr Platz gefallen,« antwortete Liane, »wie könnten sie sonst schön gedeihen? Hast du nie darüber nachgedacht, wie furchtbar alt Bäume werden, und wie schrecklich es sein muß, wenn sie während all der langen Zeit denken, daß sie an einem falschen Platz stehen und gern wo anders hin möchten und doch nie fort können?«
»Nein,« antwortete er lachend, »ich habe so viel Menschen getroffen, die an falschen Plätzen zu stehen schienen, daß ich darüber ganz vergessen habe, an die seelischen Leiden der Bäume zu denken.«
»Du lachst mich aus,« sagte sie, »aber ich kenne manche Pflanzen, die aussehen, als wollten sie uns sagen: ihr habt uns so schlecht placiert, daß wir euch keine einzige Blume schenken können, und sie lassen müd die Blätter hängen. Ihnen möchte ich zuflüstern: Es geht euch wie den Menschen, aber tröstet euch; wer an des Lebens Tafel falsch gesetzt ward, den trifft keine Schuld.«
»Und in deinem Garten suchst du nun lauter zufriedene, richtig placierte Pflanzen zu haben?«
»Ja, sie sollen da stehen, wo sie sich am besten entwickeln können und neben denen, die sie lieb haben, damit sie sich nicht, wie wir Menschen, mit dem Glauben der Betrogenen zu trösten brauchen, daß sie vielleicht mal in einen jenseitigen Garten kommen werden, wo alles, was ihnen hier an unerklärlichem Unrecht geschah, ebenso unerklärlich wieder gut gemacht werden wird.«
Sie waren jetzt an das Ende des Gartens gelangt. Hohe, dunkle Tannen verbargen die Grenzmauer, nur ein schmaler Weg war freigelassen, der zu einer kleinen Tür führte. Während sie noch dastanden, ward diese Tür von der anderen Seite geöffnet, und Baron Holst trat eilend in den Garten. Er sah noch nervöser und hastiger aus als sonst.
»Guten Tag, meine gnädigste Frau,« sagte er. » Velis et remis bin ich gekommen und habe mir erlaubt, den kurzen Gartenweg zu benutzen, denn ich fürchtete schon, zu spät zu sein.«
»Also das ist die Verbindungstür, von der mir unser Hofrat vorhin gesprochen hat?« frug Axel.
»Ja,« antwortete Holst, »und auf unserer Seite liegt unmittelbar neben diesem Eingang das kleine Häuschen, das für den jeweiligen Legationssekretär bestimmt ist – das also jetzt Ihr Tustulum werden wird, lieber Graf. Bei der heutigen Überfülle an Geschäften hatte ich nur noch nicht Zeit, es Ihnen zu zeigen.«
»Vielleicht können wir es uns nach dem Lunch alle zusammen ansehen,« meinte Liane.
Der dröhnende Ton eines Gongs erschallte nun vom Hause her, und beinahe ebenso laut klang Herrn von Linteloes Stimme, der von einer offenen Veranda aus zum Essen rief.
»Wir kommen,« antwortete Holst, »wir kommen mit dem Wahlspruch: ciborum ambitiosa fames et lautae gloria mensae.«
Als sie in dem Speisezimmer saßen, von dessen Wänden alte Schlachtenbilder auf die Speisenden herabschauten, sagte sich Axel, daß das Schicksal, das Liane Herrn von Linteloe zugesellt hatte, offenbar weniger freundlich mit ihr verfahren war als sie selbst mit ihren Pflanzen, deren Natur und Neigungen sie sich zum Studium machte. Diese beiden Menschen brachten sich nicht wie Silberahorn und Blutbuche gegenseitig zur Geltung, sondern des einen polternd burschikose Art ward nur noch fühlbarer durch des anderen sensitive Überfeinerung.
»Trinken Sie von diesem Liebfrauenmilch, lieber Holst,« nötigte Herr von Linteloe am Frühstückstisch, denn er stammte noch aus einer Schule, wo man die schweren Weine liebte, »'s ist ein gutes Tröpfchen.«
»Liebfrauenmilch,« wiederholte Holst gedankenvoll, » memorabile nomen.« Und nachdem er den goldgelben Nebensaft geschlürft, sagte er, sich befriedigt zurücklehnend: »Ein wahres solamen curarum.«
»So wie diesen Wein«, sagte Herr von Linteloe, sein Glas gegen das Licht emporhebend, »denk' ich mir das Tränkchen, nach dem man Helena in jedem Weibe sah, und das tut hier not, denn die Helenas sind rar. Ein trister Ort! Besonders junge Leute, wie du, Kronar, und unser Stramm, der nächstens vom Urlaub zurückkehrt, haben mein volles Mitgefühl. – Nichts los, gar nichts, und die Straßen abends wie ausgestorben – na, du wirst es ja sicher schon gestern bei deiner Ankunft bemerkt haben.«
Axel fiel es ein, daß er dies gestern wirklich bemerkt hatte, und vor sich selbst war es ihm heute peinlich, je dieselbe Art von Betrachtung wie Herr von Linteloe angestellt zu haben, denn dieser Tag hatte all solche Gedanken verwischt. Was lag ihm noch daran, ob diese Stadt Vergnügungen bot? Liane lebte ja hier.
Bei Herrn von Linteloes Worten hatte sich eine feine Falte zwischen Lianes hochgezogenen Brauen gezeichnet, und ihrem Mann, der offenbar in ähnlicher Tonart weiterreden wollte, ins Wort fallend hob sie die Tafel auf. Man begab sich nun in einen anstoßenden Saal, vor dessen geöffneten Türen sich der Garten im Mittagssonnenglanze ausbreitete. Kühl, beinahe dämmerig war es in dieser Halle, in deren Mitte ein großer Flügel stand. Auf Tischen lagen Bücher und Zeitschriften, daneben erhoben sich blütenschwere Fliederzweige in hohen Vasen. Sessel und breite Divans standen umher. Es war so recht ein Raum, darin einen Nachmittag zu verträumen, sich zu versenken in Erinnerungen vergangener Tage und dann, hinausschauend in den lichtdurchflimmerten Garten, zu gewahren, daß die Zeit noch immer schreitet und die Schatten länger werden.
Baron Holst aber waren die fliehenden Stunden stets ein Ansporn zu neuer Tätigkeit.
»Ich muß leider zurück an die Arbeit,« sagte er, » cito pede praeterit aetas. Wollen wir vorher noch Graf Kronars künftiges Tuskulum besehen?«
»Ja gern,« antwortete Liane und wandte sich an ihren Mann: »Begleitest du uns?«
»Nee, Kinderchen,« erwiderte er, »ich empfehle mich jetzt und gehe in den Junggesellenklub.«
Während Liane sich einen Hut holte, waren Holst und Axel in den Garten hinausgetreten. »Was ist das für ein Klub?« frug Axel erstaunt.
»O, was höchst Harmloses, Gymnastik, schwere Hanteln, glaube ich,« antwortete Holst. »Linteloe geht alle Nachmittage hin, um nicht zu dick für die Uniform zu werden. Außer ihm sind es lauter unverheiratete Mitglieder, daher der Name. Na, und das schadet ja nichts, denn Linteloe ist zwar verheiratet – aber – so wenig!«
Nun kam ihnen Liane nach, und sie schritten wieder durch den Garten, in dem es jetzt heißer geworden war und die Blumen stärker dufteten. Durch die schmale Verbindungstür traten sie in den Garten der anderen Gesandtschaft. Ein paar Schritte brachten sie zu Axels künftigem Hause.
In dem stillen Hof, um den sich das einstöckige Gebäude erhob, lag die Nachmittagshitze wie gefangen. Eines alten Nußbaums junge Blätter breiteten ein Netz bläulicher Schatten auf den Boden. An den tief herabhängenden Dächern rankten Schlingpflanzen empor, und dazwischen saßen graue Tauben und gurrten leise, wie im Traume. Auf den Treppenstufen, die zur Haustür führten, lag ein schwarzer Kater, auf dessen seidiges Fell der Sonnenschein bläuliche Lichtertupfen setzte. Sein Schnurren ließ die Stille nur noch tiefer erscheinen.
»Wie weltentrückt!« sagte Liane leise. »Ist es nicht wie der Anfang eines Märchens?«
Baron Holst schritt durch die leere Wohnung voran, erzählend, wie Axels Vorgänger sie eingerichtet hatte, und Liane sagte lachend: »Sie und ich, Baron Holst, wir werden Axel etwas beistehen müssen, denn wenn ich mich seiner als kleinen hilflosen Jungen erinnere, der die Türe nicht allein aufmachen konnte, so erscheint es mir ganz merkwürdig, daß er jetzt ein großer Mensch geworden sein will, der sich selbständig Wohnungen einrichtet.«
Bei ihren Worten reckte sich Axel lachend zu seiner ganzen Höhe auf und fühlte sich als erfahrenen jungen Weltmann, der inzwischen das Leben und besonders die Frauen kennen gelernt hatte. Er versuchte, zu ihr mit der ihm sonst eigenen Überlegenheit herabzuschauen, aber es wollte nicht recht gelingen: war er ihr gegenüber vielleicht doch noch ein hilfloser kleiner Junge?
Baron Holst öffnete eine Tür und sagte: »Dies ist das hübscheste Zimmer.«
Ja, das war wirklich schön. Die eine Wand war von einem einzigen großen Fenster eingenommen, und die Aussicht von da wirkte wie eine Überraschung. Gartenabhänge führten hinab; über Absätze von Flieder, Goldregen und Schneeballengebüsch flog der Blick bis in die Tiefe, wo des Flusses schlängelndes Band sich im Dunst der endlosen Ebene verlor. Und kein Laut drang herauf, es war, als schlafe die Ferne unter duftigen Schleiern, als schlafe der Fluß und die Gärten in der tiefen Mittagsstille. Tausende von Keimen in der Erde, Tausende von Knospen an den Pflanzen schlummerten noch, aber die Frühlingssonne streichelte sie mit zärtlicher Wärme, daß sie alle sich dehnten und sehnten, träumend von kommendem Sommer.
Während Baron Holst noch mit gewohnter Gründlichkeit Axel auf all die Vorzüge der Wohnung aufmerksam machte, blieb Liane an dem Fenster stehen und konnte sich nicht trennen von dem Blick in die flimmernde Weite. Es war, als hielte sie ein Zauber gefangen, und wie sie so hinausstarrte, überschlich sie ein seltsames Gefühl; sie wußte nicht mehr: hatte sie das alles schon einmal in nebelgrauen Zeiten erlebt, oder war es ein Ahnen künftigen Erlebens, das durch ihre Seele zog? – Die grauen Tauben waren vom Dach im Hof aufgeflattert und kamen nun an dem Fenster vorbeigezogen, gerade in den goldenen Himmel hinein. Niemand kann in den Lüften eure Pfade voraussehen, dachte Liane, indem sie den still dahingleitenden Vögeln nachschaute; aber ihr findet doch die Straßen, die euch bestimmt sind, und könnt nur dorthin fliegen, wohin ihr fliegen müßt.
Nachdem dann Liane die Herren verlassen hatte, sagte Holst: »Es wird bald Zeit, uns zum Minister zu begeben. Wir wollen zu Fuß gehen, und ich werde den Wagen nachkommen lassen, um von da zum Despoten zu fahren; aber vorher muß ich noch einige Berichte durchsehen, die mundiert werden sollten.«
Während der Gesandte in seinem Arbeitszimmer einen stattlichen Stoß von Schriftstücken durchlas und unterzeichnete, wartete Axel mit Troll in einem angrenzenden Raum. Der Hofrat schaute noch grämlicher drein als am Morgen.
»Heute«, sagte Axel, »soll ich also als ersten hiesigen Eingeborenen den Minister des Auswärtigen kennen lernen.«
»Der ist der Schlechteste bei weitem nicht,« sagte der Hofrat. »Aber Schicksale hat er gehabt! – wie sie eben nur in diesen Ländern möglich sind. Einmal hoch oben, ein andermal tief unten, je nach den wechselnden Parteien und Regenten. Unter einem Herrscher einer der früheren eingeborenen Dynastien war er sogar schon zum Tode verurteilt und saß lange Zeit droben auf der Festung gefangen. Alle Tage ließ ihm sein Fürst sagen: ›Morgen wirst du bestimmt erschossen.‹ Und am nächsten Tage hieß es dann: ›Deine Exekution ist um vierundzwanzig Stunden verschoben.‹«
»Muß recht nervenaufregend gewesen sein,« bemerkte Axel.
»Der Fürst dehnte dies leutselige Spiel aber etwas zu lange aus,« fuhr der Hofrat fort. »Des Ministers Freunde waren inzwischen am Werke, und durch den Druck ihrer Partei in der Omladina zwangen sie den Fürsten, das Todesurteil aufzuheben. Als der Minister dann nach Haus zurückkehrte, sollen seine Kinder ihn umtanzt und umjubelt haben: Papa wird nicht mehr erschossen!«
»Auf alle Fälle kein banales Familienleben,« sagte Axel, und dann setzte er hinzu: »Der Gesandte erwähnte vorhin, daß er, abgesehen von meiner Vorstellung, heute sowieso zum Minister müsse. Liegt etwas Besonderes vor?«
Mürrisch antwortete der Hofrat: »Ach, nur die leidige Holzhäuserangelegenheit.« Und auf Axels fragenden Blick erklärte er: »Der Despot hat da aus allerhand sozialen Humanitätsideen eine Bewegung in Gang gebracht, um für die Arbeiter auf den Staatsdomänen bessere Behausungen als ihre bisherigen Erdhütten zu schaffen, und die Omladina wird die nötigen Kredite auch sicher bewilligen. Daraufhin hat sich eine unserer allerersten Firmen um die Lieferung von zerlegbaren Holzhäusern beworben, und bei dem Weltruf dieser Firma mußte sie eigentlich mit Sicherheit darauf rechnen, den Auftrag zu erhalten, – aber jetzt sind sowohl die Schweizer wie die Amerikaner plötzlich mit gleichen Bewerbungen hervorgetreten.«
Aus seinem Arbeitszimmer, hastig wie immer, zurückkommend hatte Holst die letzten Worte des Hofrats noch gehört, und er wandte sich nun an Axel: »Mit den Schweizern würden wir ja fertig,« sagte er, »und ich habe dem Minister auch bereits gesagt, wenn er etwa Baseler Leckerlihäuschen haben wolle, die beim ersten Regen zerschmelzen, möge er sie immerhin bei denen bestellen. Ganz anders gefährlich sind aber die Amerikaner mit ihrer Bewerbung! Ein neuer Schrecken in der Diplomatie, diese überseeische Konkurrenz! Gab es früher ja gar nicht! – Na, überhaupt, welch sorglos ruhige Zeiten hatten doch die Metternichs und Talleyrands im Vergleich zu uns! Ich fange nämlich wirklich an zu fürchten, daß uns die Amerikaner trotz all meiner Anstrengungen zuvorkommen. Crux est si metuas quod vincere nequeas.«
»Handelt es sich bei dieser Lieferung eigentlich um eine hohe Summe?« frug Axel.
»Ach nein,« antwortete Troll gelassen, »höchstens um ein paar Millionen Franken.«
Aber Holst fuhr auf und rief: »Darauf kommt es in diesem Fall doch wahrhaftig nicht an! Ganz andere hohe ideale Güter stehen auf dem Spiel! Unser politisches Prestige selbst hängt an diesen Holzhäusern, und es wäre eine Bresche in eine feste Position geschlagen, wenn es je hieße, daß man anderswo als bei uns Holzhäuser bestellen kann.«
Nachdem er hierauf in nervös hastiger Art dem Hofrat noch einmal schleunige Expedition der Berichte anempfohlen hatte, verließ er mit Axel die Gesandtschaft.
Die beiden Herren schritten durch die schlechtgepflasterten Straßen, vorbei an den Reihen hellgetünchter einstöckiger Häuser. Es gab da keine eilenden Equipagen oder Automobile noch hastende Menschen, nur elektrische Straßenbahnwagen glitten klingelnd und surrend vorüber. Auf die Trottoirs vor den zahllosen Kaffeehäusern aber waren an diesem warmen Frühlingstage schon Tische und Stühle gestellt worden; zwischen ihnen standen große Kübel, in denen verkümmerte Oleanderbüsche wehmütig die Blätter hängen ließen. Alle Plätze waren besetzt von Leuten, die Zigaretten rauchten, Kaffee tranken und in den ausgebreiteten Zeitungen Stoff zu angeregten Debatten zu finden schienen. Es gab da Herren in städtischer Kleidung, manche in Gehrock und Zylinder, und neben ihnen Männer in dicken braunen Filzjacken, buntbestickten Wollstrümpfen und schwarzen Pelzmützen.
»Das sind wohl Bauern, die zum Markte in die Stadt gekommen sind?« frug Axel.
»O nein!« antwortete Holst lachend, »das sind sicher zum größten Teil Mitglieder der Omladina – Volksvertreter aus ländlichen Bezirken. Die tragen auch in den Sitzungen noch das Nationalkostüm. Hier in den Cafés setzen sie, wie Sie sehen, die Kammerdebatten fort und kritisieren vermutlich die Regierung – denn es ist ein Volk, das in hohem Maße die gefährliche Gabe leichter Oratorik besitzt. Doch«, sagte der Gesandte stehenbleibend, »wir sind am Ziel.«
Das Gebäude, in dem die auswärtige Politik des Staates gemacht wurde, zeichnete sich nur wenig von den übrigen banalen Häusern ab. Nur ein am oberen Stockwerk vorspringender Balkon ließ den Gedanken entstehen, daß von hier aus in Zeiten politischer Erregung vielleicht Ansprachen an das Volk gehalten werden könnten. Holst und Axel schritten die wenigen Stufen der äußeren Treppe hinan und betraten eine ziemlich geräumige, auffallend schlecht beleuchtete Vorhalle, in die aus dem rückwärts gelegenen Teil des Baues schmale Gänge mündeten. Sie hatten etwas düster Geheimnisvolles, als ob durch diese Wege die Beziehungen des jungen Staates zu allerhand dunklen Faktoren geleitet würden. Axel mußte unwillkürlich an des Hofrats eisernen Schrank sekretester Akten denken.
In der Halle standen und saßen auf schmutzigen Divans mehrere Individuen, deren Gestalten und Ausstaffierung in dem Vorzimmer eines europäischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten befremdlich wirkten. Kräftige, breitschultrige Männer waren es mit finsteren Gesichtern, lauernden Blicken und verschlagenem Ausdruck; flache, an Studentenmützen erinnernde Kappen trugen sie auf dem struppigen schwarzen Haar, kurze Lammfelljacken und verschnürte Ledersandalen; die sehnigen Beine waren über den Leinwandhosen mit Riemen umwickelt.
»Ich habe vorhin zwar Parlamentsmitglieder für Marktbauern gehalten,« sagte Axel, »aber diese Herrschaften müssen doch sicher Briganten sein?«
»Da haben Sie schon richtiger geraten,« antwortete Holst im Weiterschreiten. »Das sind einige der viel besprochenen Bandenführer, von denen uns die hiesige Regierung allwöchentlich versichert, daß sie überhaupt nicht existieren, und die doch hier im Ministerium selbst mit Instruktionen und finanziellen Mitteln für ihre Wühlarbeit jenseits der Grenze versehen werden. Und dort, wo diese seltsamen Emissäre ihre Arbeit betreiben, gehen sie auch nicht so waffenlos einher, wie sie es hier müssen – hier in der Residenz, sozusagen unter den Augen Europas.«
Auf einer finsteren Treppe stiegen die beiden zum ersten Stockwerk empor. Hier oben war ein Brüsseler Teppich über die Diele gebreitet, gleichsam als Symbol, daß dieser Raum den Beziehungen zu europäischen Staaten gewidmet sei. – Ein dienstbeflissener Kanzleibeamter, der seine brennende Zigarette hinter dem Rücken verbarg, sagte dem Gesandten, daß er die Herren gleich dem Minister melden werde, und führte sie in den eigentlichen Vorsaal.
Es war dies ein mit roter Plüscheleganz ausgestatteter Raum. Auf dem Mitteltisch lag ein Buch, das Axel mechanisch aufschlug. Erstaunt las er den Titel: Von den Ehebündnissen zwischen den savoyischen und bayrischen Fürstenhäusern. »Wie mag das wohl hierhergekommen sein?« sagte er.
»Dies Buch«, antwortete Holst, »hat schon manchen von uns amüsiert. Es lag nämlich schon hier zu Zeiten der früheren einheimischen Dynastien – gleichsam als Beweisstück sozialer Beziehungen zu alten europäischen Höfen – wissen Sie, so wie Parvenüs in ihren Visitenkartenschalen die Karten betitelter Personen obenauf legen.«
Doch nun öffnete sich am anderen Ende des Raumes eine mit Filz beschlagene Doppeltür, und der Kanzleibeamte erschien und lud die Herren ein, in das Kabinett des Ministers zu treten.
Ein älterer Mann mit langem wallenden Barte, bleicher Hautfarbe und seltsam schwermütigen Augen kam ihnen entgegen. Nachdem ihm Holst Axel vorgestellt hatte, hieß er ihn willkommen, und dabei lag in seiner ganzen Art eine gelassene, natürliche Liebenswürdigkeit, die zugleich völlige Gleichgültigkeit war. Eine gewisse geduldige Beschaulichkeit kennzeichnete diesen Minister des Auswärtigen, als habe er in seinem an überraschenden Wechselfällen so reichen Leben gelernt, daß im Wartenkönnen tiefste Weisheit liegt. Und dabei blickten seine Augen sehnsüchtig in die Ferne, als sähe er da nebelhafte Umrisse von allerhand Dingen, die vielleicht einmal greifbare Wirklichkeit werden würden.
Nach den ersten begrüßenden Redensarten suchte Holst auf die Holzhäuserangelegenheit überzugehen, um womöglich eine bindende Zusage zu erhalten. Aber dieser slawische Minister hatte genügend von seinen orientalischen Nachbarn gelernt, um die Kunst dilatorischer Behandlung zu verstehen. Immer wieder wich er mit einer müden Langmut aus; je hastiger Holsts Worte sprudelten, um so schleppender glitten die seinen, begleitet von weichen, langsamen Bewegungen der Hände. Sein ganzes Wesen schien zu sagen, daß, in dieser Welt des Irrtums, die Hinausschiebung einer Entscheidung meist noch das klügste sei. Als Holst noch dringender wurde, sagte er schließlich mit leisem ironischen Lächeln: »Ich befinde mich wirklich in einem Dilemma durch die vielen gütigen Anerbietungen, die ich erhalte, – beinahe könnte ich wünschen, daß die Holzhäuser immer wieder abbrennen möchten, damit ich sie viermal bei den verschiedenen Bewerbern bestellen könnte.«
Holst horchte auf: »Viermal?« frug er. »Ich weiß doch nur von uns, den Schweizern und den Amerikanern?«
Doch der Minister entgegnete auch schon, sich rasch verbessernd: »Gewiß, gewiß, drei – ich versprach mich nur.«
Holst sah ein, daß an diesem Tage nichts zu erreichen sein würde. Aufstehend sagte er beim Abschied, daß er sich nun mit seinem Sekretär zum Despoten begeben wolle, da dieser den Wunsch ausgesprochen habe, Graf Kronar zu empfangen. Da war es, als erwache auf einmal ein lebhafteres Interesse in dem Minister. Mit ganz veränderten, plötzlich scharf gewordenen Blicken betrachtete er Axel. »Sie sind Seiner Hoheit, wenn ich recht unterrichtet bin, bereits von der Universität her bekannt,« sagte er, und ein beinah ehrfürchtiger Ausdruck lag in seiner Stimme.
»Ja,« antwortete Axel, »und ich habe ihn damals auch mal ein paar Tage bei seiner Mutter auf Schloß Rattenburg besucht.«
Die Abschiedsverbeugung des Ministers hatte etwas Respektvolles.
Nachdem die beiden Herren in den wartenden Wagen gestiegen waren, sagte Holst zu Axel: »Bemerkten Sie, wie aufmerksam, ja beinahe neidisch der Minister Sie vorhin plötzlich ansah?, Als wolle er in Ihnen nicht nur jemanden studieren, der seinem jetzigen Souverän früher nahe gestanden, sondern als hoffe er, durch Sie etwas vom Wesen des Souveräns selbst zu ergründen. Denn diese Leute empfinden ihren importierten Fürsten als etwas Fremdes, und sie erkennen mit einer gewissen Ungeduld, daß er ihnen stets fremd bleiben wird. Zugleich aber imponieren sie sich selbst, daß sie es so weit gebracht haben, sich einen echten Prinzen europäischer Züchtung zum Herrscher geben zu können.«