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Mit Sonnengruß und Lerchensang hatte sich ein wunderbarer Maientag eingestellt. Die Wetterfahne auf dem alten Stadttor schien ihr braunes Rostkleid abgelegt zu haben, so glitzerte und funkelte sie im Glanz der Morgensonne.
Die Knospen an Baum und Strauch hatten just den ersten Maitag abgewartet, um die Hüllen zu sprengen. Noch unentschlossen, ob sie den Sprung ins Leben wagen sollten, falteten sich die äußeren Blätter auseinander, während die inneren sich eng und vorsichtig zusammenschmiegten.
Auf den holprigen Straßen und Gassen des Städtleins sah man junge Menschenkinder dahintrippeln, den Baumknospen gleich, keck und doch im Innersten zag, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen. War doch heute ihr erster Schulgang!
Das alte Stadttor entließ eben auch solch kleine Menschenblüte, die in seinem Licht und Schatten sich entfaltet hatte. Den mächtigen Bücherranzen stolz auf dem Rücken tragend, die Rechte aber zaghaft in die Hand des Großvaters gelegt, schritt Annemarie dem unbekannten Neuland entgegen. Ebenso tapfer überstand sie den Abschied von ihrem Beschützer, der langsam und sinnend ins Stadttor zurückkehrte.
Sonderbar verwaist und leer kam es ihm heute vor.
Eine seltsame Unruhe trieb ihn vom Keller bis hinauf in den Speicher und zur Turmzinne. Da wunderte er sich, daß Familie Adebar den herrlichen Maientag nicht zu einem Spaziergang über die Wiese benutzte. Aber freilich, die hatte ihre Sorge um die Kinderstube, die sich bald füllen würde, und blieb lieber sinnend und brütend über dem Neste.
Als Jörg durch den Speicherraum schritt, schien es ihm, als ob der alte Kasten unter seinen Tritten schwanke. Das war doch nicht möglich!
Fingen die Motten, die gestern abend um seine Lampe getanzt, nun an, in seinem Hirn zu schwirren? Aber nach den Motten mußte geschaut werden, heute noch! Die fraßen ihm am Ende noch sein Sterbekleid zusammen.
Für Annemarie war ein Besuch im Speicher ein Fest. Sie sollte ihn nachmittags begleiten.
So schlich der Vormittag träge dahin, und heiß lag die Sonne über dem Tor.
Jörg war in seinem Stuhle eingenickt.
Isidora, die Kreuzspinne, saß in der Mitte ihres Hauses und hörte von oben dem leisen Klopfen Hans Jakobs zu.
»Alles ist fertig! Es muß zum guten Ende kommen«, sagte sie leise zu sich selbst. »Hat sich doch der arme Kanker gestern noch 3½ Beine abgelaufen! Bis dieser Leibesschaden wieder geheilt ist, mag's lange dauern. Aber Ambros Grille sollte nochmal das Bundeslied aufgeigen.«
Mit raschem Entschluß verließ Isidora ihr Haus und eilte zum offenen Dielenspalt, wo Grilles wohnten.
Kreszenz hatte gerade die Kinderstube aufgeräumt. Den Kleinen waren die Kleider zu eng geworden, und nun half sie ihnen beim Anlegen der neuen, was nie ohne Schmerzen und Klagen abging. Als Isidora an der Haustüre klopfte, lief Kreszenz dem Besuch entgegen.
»Ich will Sie nicht lang stören, liebe Frau Kreszenz«, sagte Isidora, »ich weiß, man hat als Mutter ungeheuer viel im Frühling zu tun. Ich würde auch die unpassende Besuchszeit nicht gewählt haben, wenn's anders ginge. Aber unser Turmherr sitzt behaglich in seinem Lehnstuhl und ist, wie mir scheint, gerade in der rechten Stimmung, unserem Bundeslied zu lauschen. Da wollte ich den verehrten Künstler bitten, nochmal das Lied aufzugeigen.«
»Gewiß, verehrte Isidora«, entgegnete Kreszenz. »Ambros stimmte eben seine Geige, um den Kleinen über die Unbehaglichkeit des Kleiderwechsels hinüberzuhelfen. Ob er jetzt seine Wiegenlieder spielt oder unser Bundeslied, ist ja schließlich gleichgültig. Unseren Kindern ist der Text einerlei, die horchen nur auf die Melodie.«
»Nun, dann will ich nicht länger stören«, sprach Isidora, »ich habe ohnehin noch ein Telephongespräch mit Hans Jakob zu erledigen. Nur nicht gar zu fleißig, liebe Kreszenz, denken Sie doch auch an das heutige Fest.«
Damit machte Isidora kehrt und war bald wieder in ihrem Haus.
Jörg schlief und träumte, was er gestern im Wachen gedacht und gesonnen hatte, weit, weit zurück in die Vergangenheit, und einen kurzen Pfad hinaus in die ungewisse Zukunft.
Auf einmal mußten die Träume haltmachen, denn ein wunderbares Singen und Klingen einer fernen Geige tönte in sein Ohr, und immer waren es die gleichen seltsamen Worte. Ein lautes »Miau-miau!« fuhr dazwischen und Peter stand auf der Schwelle der offenen Türe, und hinter ihm drein kam die blonde Annemarie und mahnte den Peter zum Schweigen, denn nun müsse sie doch dem Großvater alles haarklein erzählen.
Hei, was für eine neue Welt hatte sich mit dem Tor des Schulhauses aufgetan! Der kleine Mund wußte schier kein Ende mehr zu finden und immer neue Fäden schwangen von einem Ereignis hinüber zum andern. Ein Netz von Eindrücken, in dem die Fäden kreuz und quer liefen.
Isidora lauschte und wußte vor Erregung sich nicht mehr zu meistern.
Ging das so weiter, dann hatte Ambros Grille umsonst sein Bundeslied gegeigt! Zum ersten Male fühlte Isidora einen gelinden Zorn gegen das blonde Kind in ihrer Spinnenseele emporsteigen.
Da plauderte Annemarie weiter:
»Und Großvater, nur sehen hättest sollen, wie die Schule aus war! Wie wir alle hinausgesprungen sind! Der Herr Lehrer hat gelacht: ›Wie die Motten ans Licht!‹ Ja so, da fällt mir wieder ein, was die Mutter gesagt hat. Gestern abend sind die Motten ganz wild geflogen, und du sollst im Kasten oben nachschauen. Die fressen sonst alles zusammen, ja, und, gelt? ich darf mit hinauf?«
Im Nu war das Neuland der Schule versunken vor dem geheimnisvollen Zauber des halbdunklen Speicherraums.
Jörg war bereit und stand rasch auf. Beide verließen die Stube, gefolgt von Peter, und stiegen die Wendeltreppe empor.
Isidora klopfte leise an die Decke. Hans Jakob gab ein Zeichen, daß er die Meldung verstanden habe. Eine mächtige Erregung durchzitterte alle Glieder des Geheimbundes, denn das wunderbare Ereignis stand vor seiner Erfüllung.
Vor dem Fenster der Turmstube waren Xaver und Sabine schon ein paarmal hastig vorübergeflogen. Als Jörg mit Annemarie verschwand, sausten sie durch den kreisrunden Ausschnitt in den Speicherraum und riefen: »Wid-widewitt! Hans Jakob, laß nun den Zauber beginnen!« und schmiegten sich dann zu oberst auf einem Dachbalken zusammen und warteten der Dinge, die kommen sollten.
Auf einmal klang ein leises, fast unhörbares Klopfen, und dann tat es einen großen, furchtbaren Krach. Ein Gepolter war's von übereinanderstürzenden Holzscheiten, ein Rieseln von Schutt und Erde, kurz ein Höllenlärm, daß man glaubte, nicht nur der Speicher, sondern der ganze Turm falle in sich zusammen.
Dazwischen ein eigentümlich helles Klirren, ein seltsam metallisch Lachen, eine wunderbare Mischung feiner Glockentöne!
Als Jörg und Annemarie eintraten, hüllte sie zunächst eine dicke Staubwolke ein. Bis diese langsam zu Boden sank, war der erste Schrecken überwunden. Jörg ließ Annemarie, die er schützend in die Arme geschlossen hatte, los, rieb sich die Augen vom Staube rein und sagte: »Da haben wir eine schöne Bescherung, Kind! Der alte Kasten ist wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. Respekt vor den Ratten und Mäusen und, nicht zu vergessen, dem Holzkäfer! Hätte nimmer gedacht, daß er diese Leistung noch zu meinen Lebzeiten fertig brächte!«
Dabei schritt er zu den Trümmern, die in einem wirren Haufen durcheinanderlagen, räumte die schmutz- und staubbedeckten Kleidungsstücke auf die Seite und schichtete auf der anderen die zerfressenen, morschen Holzteile auf. Annemarie half bei diesem Aufräumungswerk nach besten Kräften.
Der Staub hatte sich verzogen. Durch die Luke vermochte wieder das Licht des Maientages zu dringen.
Auf einmal schrie Annemarie: »Da, schau, Großvater! Ein Haufen Gold und Silber! Schau nur, schau! Wie es funkelt und glitzert!«
Mit zitternden Händen kam der Alte. Richtig, zwischen den Trümmern der Rückenwand hing in Fetzen ein graues Säcklein, dem der Goldregen entquollen sein mochte. Jörg untersuchte die Trümmer der Rückseite und fand die Reste einer Doppelwand, zwischen der der Schatz verborgen war.
»Großvater, gelt, jetzt bist du reich?« fragte Annemarie und hüpfte auf einem Bein.
»Nein, nein!« antwortete mit den Händen abwehrend der Alte, »deinetwegen wollt' ich, du hättest recht. Aber das Gold gehört nicht mir«.
»Wem dann?« erwiderte verwundert das Kind.
»Der Stadt, Annemarie! das muß sorgsam abgeliefert werden. Kein Stück darf verloren gehen.«
Hans Jakob war vor dem großen Zusammenbruch in einem Dielenspalt verschwunden. Dort lauerte er aus die weitere Entwicklung.
»Eine schöne Geschichte!« brummte er zornig, »der Stadt abliefern! Dafür habe ich mich nicht geplagt! Wo bleiben denn Xaver und Sabine? Haben die ihre Rolle vergessen?«
Aus einem Loch in der anderen Ecke schaute Fips, der Mäusejüngling.
Seine Mutter hatte ihm heute Nacht den Rat gegeben, durch eine Heldentat sich auszuzeichnen und dadurch den Makel der Feigheit, der auf dem ganzen Geschlecht lastete, zu tilgen. Er solle das Testament unter dem Schutt hervorziehen und dem Turmherrn vor die Füße legen. Er brauche sich vor niemand und nichts zu fürchten, da ja unverbrüchlicher Burgfriede geboten sei.
Schon wollte der mutige Fips den Lorbeer holen. Aber o weh! Ganz in der Nähe saß Peter, der Kater Annemaries, und hatte es sich auf dem warmen Schutt ganz behaglich gemacht.
Nein, das war zu viel! Unmögliches kann man auch von einer Heldenseele nicht verlangen. Fips zog sich zurück, legte sich aufs Ohr und träumte von verpaßten Heldenehren.
Nun aber war die Zeit für Xaver und Sabine gekommen. Mit ihren klugen Augen hatten sie sofort das wichtige Papier erkannt, das aus dem Schutt hervorschaute, und teilten sich in gewohnter Weise die Arbeit ein. Xaver scharrte den Staub und die Erde weg, während Sabine behutsam das Schriftstück in den Schnabel nahm und festhielt.
Beiden wurde es über dem Rettungswerk ordentlich heiß, bis aus einmal der Widerstand zu Ende war und Sabine das Papier frei bekam.
Der alte Jörg überlegte gerade, ob er nicht gleich einen Boten zu den Stadträten schicken sollte mit der Meldung des merkwürdigen Fundes. Die mochten dann kommen und die seltsame Geschichte in Augenschein nehmen.
Dicht vor Annemaries kleine Füße hatte das Schwalbenpaar das Schriftstück mit vereinten Kräften gezerrt. Mit einem listigen »wid-widewitt« empfahlen sie sich und flogen glückselig jubelnd in die Maiensonne hinaus.
Annemarie hob das Papier auf und gab es Jörg.
»Schau, Großvater, der große Brief war auch beim Schatz. Die Schwälblein haben ihn herausgezogen.«
»Immer wunderbarer!« murmelte der Alte, »wir wollen nun hinunter in die Stube. Da muß ich meine Brille aufsetzen. Wenn du schon lesen könntest, Annemarie! Das wird einmal fein! Dann braucht der Großvater sich nicht mehr mit dem Augenglas zu plagen, gelt! Jetzt aber springst du schnell zur Mutter und sagst, sie soll gleich herüberkommen. Wir müssen sofort ins Rathaus schicken.«
Drunten in der Turmstube hatte Jörg das große Schreiben entfaltet. Das Papier war gelb und stockig, die Schrift aber bis auf den kleinsten Punkt unversehrt. Wiederholt hatte der Alte die Niederschrift gelesen und immer wieder die Brille geputzt, als ob er dieser nicht trauen dürfe, was doch schwarz auf weiß in großen steilen Buchstaben dastand. Geschahen wirklich noch Zeichen und Wunder in dieser Welt?
Er las mit halblauter Stimme:
»Mein letzter Wille.
Alles ist eitel, hat der König Salomo gesagt, und er hat recht gehabt. Mein Herz hängte sich an Gold, und darüber verlor ich Frau und Kind. Die Frau liegt draußen auf dem Gottesacker. Mein Kind hatte die Freiheit lieber als mein Gold und verließ mich. Es zog übers Meer in die neue Welt. Dann kam die große Einsamkeit in mein Leben. Ich haßte das Gold und die Menschen. Damals wurde ich der ›Turmherr‹ im alten Stadttor und gut Freund mit dem Kauz und der Eule, der Fledermaus und der Totenuhr. War ich doch selbst für die anderen ein Kauz und zählte zu den Toten. Aber noch war ich nicht tot. Ich konnte nicht sterben. Der Klopfkäfer in mir ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Nun will ich mich aufmachen und mein Kind suchen. Finde ich den Sohn, dann kehre ich zurück und will gerne einsam im Turm sterben. Für diese Zeit lege ich den Schatz in die Doppelwand des Kastens., Niemand wird das Gold finden, bis Maus und Holzwurm das Geheimnis lösen. Wem sie den Schatz zuerst zeigen, der soll der rechtmäßige Besitzer sein. Das ist mein letzter, klarer Wille. Er lasse sich von einem, der nichts mehr erhofft, als einen ruhigen Tod, gesagt sein: ›Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.‹ Der Finder des Schatzes nehme mein Gold und mein Wort auf, dann ist ihm der Schatz nicht ein Fluch, wie er mir's gewesen, sondern ein Segen. Das walte der ewige Gott!
Altes Stadttor, am 1. Mai 1864.
Hans Joachim Kroner.«
Mählich ging der Maientag zu Ende. Welch seltsam Zusammentreffen! Am gleichen Tage, an dem der Schatz verborgen wurde, kam er ans Licht! Eine große Kommission der Stadtväter prüfte die merkwürdige Geschichte gründlichst nach allen Seiten. Die gesamte Gelehrsamkeit war dazu aufgeboten worden.
Aber es gab da kein Drehen und Deuteln. Die Sache war so licht und klar, wie das Gold und Silber, das sich in dem wurmstichigen Schrank gefunden hatte. Der rechtmäßige Erbe war und blieb der alte Jörg. Den ganzen Tag ging er wie im Traume umher. Was lag ihm an dem Schatze! Für Annemarie und ihre Mutter freute ihn der Fund. Er selbst hatte, was er brauchte. Sogar sein Sterbeanzug war tadellos erhalten, und Annemaries Mutter sang ein Loblied auf die Motten, die solch zarte Rücksicht geübt und sich mit minderwertigem Wollzeug begnügt hatten.
In der Nacht aber, als Jörg schon lange in friedlichem Schlummer lag, schaute der Mond auf ein seltsam Fest im alten Stadttor.
Auf der Zinne waren alle versammelt, die dem Turmherrn zum Schatze verholfen hatten. Nur Kaspar und Nickel, die beiden Wanderratten fehlten. Sie mochten ihre Reise übers große Wasser schon angetreten haben. Auch Suschen und Elschen, die Mottentänzerinnen, waren nicht mehr aus ihrer Ohnmacht aufgewacht.
Ambros Grille geigte ein Festlied zum Preis der Turmverschwörung und hob in einer Schlußstrophe besonders das große Verdienst Hans Jakobs hervor, der seine eigene Stammburg in Grund und Boden zerstört hatte, um das Glück des Turmherrn zu erbauen.
Hans Jakob dankte für die Ehrung und meinte lachend: »Zum Glück kein Grund zu Trennungsschmerz! Ich könnte nicht aus dem Stadttor scheiden, das wäre mein sicherer Tod. Habe mir bereits einen neuen Wohnsitz erkoren. Die getäfelte Decke im Turmzimmer bietet Raum für mich und meine Nachkommen. Gleich nach dem Feste siedeln wir dorthin über.«
Am lustigsten waren Kanker und Xaver, ernst und still Ludmilla, die Eule, und Isidora, die Kreuzspinne.
Als die Mitternacht vom Kirchturm schlug, war mit dem letzten Klang das Fest zu Ende.