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Sechstes Kapitel
Die Verschwörung im Keller

Der Winter hatte auf den Flügeln des Nordwindes eine weiße Decke über das Land gebreitet und dem alten Stadtturm eine wunderliche Schlafhaube aufgestülpt.

Viele ihrer Geschöpfe ließ die allgütige Mutter Natur die bittere Zeit der Kälte und der Not in langem Schlafe verträumen.

Im Schutze des alten Tores aber regte sich viel warmes Leben. In seinem Turmzimmer dicht am glühenden Ofen saß der alte Jörg und schlitzte und klebte allerlei seltsame Geheimnisse fürs nahende Fest der Weihnachtsfreude.

Auf seinem Schoß streckte sich Peter, der Kater. Als Freund der kleinen Annemarie besaß er auch unbeschränktes Hausrecht im alten Tor. Schnurrend drängte er seinen Kopf durch die arbeitenden Hände Jörgs und verfolgte mit lebhafter Teilnahme dessen Werk.

»Schnurr nur zu, Peter! Versteh dich schon! Bist also einverstanden mit dem, was ich da für unser Kind zusammenbastle? Daß du mir aber nichts verrätst! Hörst du, Alter?«

Die letzten Worte waren etwas lauter gesprochen. Peter knurrte zornig:

»Bin ich denn so dumm? Kennst mich schlecht! Kann ich auf die Maus vor ihrem Loch stundenlang warten, werde ich's doch auch bei Eurem Weihnachtszauber können. Und, alter Jörg, bin ich nicht schlau und listig und selbst ein Freund der Heimlichkeit? Hm?«

Das Einvernehmen der beiden war rasch wieder hergestellt. Jörg schnitt aus und formte sonderbare Gestalten aus Holz und Pappe, die hilflos auf dem Tische lagen, bis sie durch des Alten kunstfertige Geschicklichkeit und einen riesigen Leimtopf Hand und Fuß bekamen.

Peters Neugier steigerte sich mit dem Fortgang der Arbeit, so daß er sich auf die Tischplatte schwang und sich dort behaglich niederließ. Da hörte man auf der Wendeltreppe das Klappern von kleinen Schuhen. Dieser harmlose Lärm brachte die friedliche Gesellschaft in der Stube in eine ungeheure Aufregung.

Mit einem Satz sprang Peter vom Tisch herab, während Jörg mit einem einzigen Handgriff die bunte Gesellschaft in das dunkle Verlies der Schublade sperrte. Nur im Leimtopf brodelte die braune Flüssigkeit weiter und sang ein heimliches Lied vom Weihnachtsbaum.

Annemarie holte ihren Peter. Der schmiegte sich zärtlich ans blühende Gesicht seiner kleinen Herrin, und nach kurzem Abschied von Jörg zogen sie beide ab.

Auf der Wendeltreppe aber, beim ersten Absatz, hatte ein junges Geschöpf einige Augenblicke in furchtbarster Todesangst verlebt. Es war Fips, der älteste Sohn der Mäusefamilie, die im alten Stadttor seit langem schon ihr gemütliches Heim aufgeschlagen hatte.

Fips wollte heute seine erste, größere Rundreise vom Keller bis zur Turmzinne unternehmen. Die Begier, die Welt kennen zu lernen, hatte ihn in dies erste Abenteuer gebracht, das seine nicht allzu kühne Heldenseele mit bangem Zittern erfüllte.

War es feig, daß er sich rasch in den kleinen Mauerspalt zurückzog, als das blonde Menschenkind mit dem Erbfeind seiner Familie auf den Armen daherkam? Nein, gewiß nicht? Denn nicht umsonst hatte ihn seine Mutter die Vorsicht als die größte Mäusetugend schon in der Kinderstube gelehrt.

Jetzt aber war der erste Schreck überwunden. Die Entdeckungsfahrt konnte fortgesetzt werden. Also zuerst ins unterste Stockwerk, in den Keller! Frau Langschwanz, seine Mutter, die in einem gut bürgerlichen Hause das Licht der Welt erblickt hatte, wußte nicht genug aus ihrer Jugendzeit den Keller als die Vorratskammer aller möglichen Leckereien zu rühmen. So trippelte denn Fips vorsichtig die Treppe hinunter. Zwischen der Kellertüre und dem Steinboden war ein breiter Spalt, eine bequeme Haustüre für Aurelia, für den schlanken Fips also ein Kinderspiel, das ersehnte Paradies zu betreten.

War es auf der Treppe noch ziemlich hell, so umfing ihn plötzlich im Keller eine solche Dunkelheit, daß das grauschwarze Röcklein mit der Nacht im Raume in eins verschmolz. Scheu und ängstlich drückte sich Fips an die Wand und wagte vorerst nicht, weiter in das unbekannte Land einzudringen. Und das war sein Glück!

Denn urplötzlich tauchten zwei unheimliche Gestalten auf. Wie richtige Strauchdiebe und Wegelagerer mußten sie im Hinterhalt gelegen sein, und Fips sah ihre Einbrecherwerkzeuge durch die Nacht funkeln. Und doch kamen sie ihm schier bekannt vor. Sie ähnelten seiner eigenen Familie, nur größer, viel größer erschienen sie ihm. Vielleicht ein Urgroßvater und eine steinalte Muhme? Fips war zu unerfahren, aber seine angeborene Furcht gebot ihm das Klügste, was er tun konnte, unbeweglich und schweigend das Weitere zu erwarten. Er sollte bald Aufklärung erhalten. Die beiden unheimlichen Gesellen hießen Kaspar und Nickel, zwei Wanderratten, die eben aus dem Kanal gekommen und durch ein Loch von der Straße aus in den Torkeller eingebrochen waren. Sie trugen ein bräunlichgraues, unten gelbweißes Gewand.

»Wie unser Bäschen Feldmaus sind sie gekleidet«, dachte Fips und spitzte seine Öhrlein, um das Gespräch der beiden zu erlauschen.

Die Wanderratten schienen sich erst hier zusammengefunden zu haben. Der größere von den beiden Gesellen, Kaspar, drängte sich an Nickel und sagte:

»Kamerad! Eine Frage! Hat Euch auch geheimnisvolle Botschaft hierhergeführt? Seid Ihr gleich mir zu einer Verschwörung gedungen?«

»Ha, ha!« lachte Nickel boshaft auf, »mit Speck fängt man die dummen Mäuse. Erst das Losungswort, dann können wir weiterreden.«

»Alter Jörg« flüsterte Kaspar.

»Der vergrabene Schatz«, antwortete Nickel, »es stimmt. Wir sind also zur gleichen Arbeit gerufen. Das Mäusevolk wird mit dem alten Kasten nicht fertig. Ja, ja, in früheren Zeiten hat man nicht an Stein und Holz gespart. Da braucht man unsereins, wenn ein zünftiger Einbruch gemacht werden soll.«

»Aber schnell und gründlich!« stimmte Kaspar zu, »denn allzulange mag ich in dem alten Tor nicht bleiben; hab's dem Weberknecht, der mir übers Ohr lief und die Botschaft brachte, auch gesagt.«

»Wir machen's von unten«, sagte Nickel, »Frau Isidora, die Kreuzspinne, hat mich's so wissen lassen. Fürs Innere sorgt Hans Jakob, der Trotzkopf, mit seiner ganzen Sippe. Bis zum Lenz will er mit dem Unterminieren fertig werden.«

»Schade, daß ich den köstlichen Einfall nicht miterleben kann. Ein paar tüchtige Einfallstore von unten her will ich schaffen, dann fahr wohl, du alte Welt!« sprach in leichtsinnigem Übermut Kaspar.

»Euch steckt die Wanderlust aber tüchtig im Geblüt!« antwortete Nickel, »die Luft hier ist dumpf und feucht, so behaglich, wie nur möglich. Im Kanal war's natürlich noch schöner.«

»Ach, das ist doch überall die gleiche langweilige, alle Welt, ob Kanal oder Torkeller! Da lobe ich mir die neue Welt! Dort muß es eine Lust zu leben für unsereins sein! Mit einem Schiffe kamen neulich Verwandte zu uns von drüben. Was wußten die zu erzählen! Kamerad, über dem großen Wasser liegt unser Paradies!«

»Dann wollt Ihr wohl auch die Seereise nach drüben machen?« fragte Nickel, den auch die Wanderlust packte.

»Erraten, Gefährte!« lachte Kaspar, »man ist noch jung und möchte auch Abenteuer erleben! Habt Ihr Lust, mit mir über den großen Teich zu schwimmen?«

»Wann soll die Fahrt losgehen?« fragte Nickel vorsichtig.

»Sobald ich mein Gelübde erfüllt habe«, antwortete in geheimnisvollem Tone Kaspar, während seine Augen boshaft funkelten.

»Ein Gelübde?« wiederholte neugierig Nickel, »ich verstehe Euch nicht, Kamerad!«

»Ihr könnt mittun, Freund! Ist Ehrensache unseres Geschlechtes. Also hört! Es gilt, den Rest unserer Erbfeinde zu vernichten, die uns das bequeme Leben bei den Menschen streitig machen.«

»Ah«, sagte Nickel verstehend, »Ihr redet von unserer Verwandtschaft, von der Familie der Hausratten?«

»Ja! Diese verfluchte Sippschaft!« antwortete in grausamem Tone Kaspar, »diese schwarzen Heimtücker müssen mit Stumpf und Stiel, mit Haut und Haar ausgerottet werden, wenn wir selbst in die Höhe kommen wollen. Es wird ein Kampf ums Dasein. hart, bitter und schwer, aber notwendig. Der Starke muß Recht behalten.«

»Die Keller haben sie uns doch schon geräumt«, warf Nickel, der Gutmütigere, ein.

»Damit seid Ihr wohl zufrieden, Kamerad?« höhnte Kaspar, »sehr bescheiden! Aber ich begnüge mich nicht. Wir wollen das ganze Haus und werden die feige Bande solange verfolgen, bis sie uns auch die obersten Stockwerke, ja sogar den Speicher überläßt. Wo wir sind, ist kein Raum für diese Schleicher!«

»Aber mit ihrem schwarzgrauen Mantel können sie sich sehr gut verstecken«, meinte Nickel.

»Kinderspaß«, lachte Kaspar, »die besten Waffen entscheiden, und die besitzen wir! Wenn nicht jetzt, so doch später gehört uns der Sieg. Unser Geschlecht sorgt gründlich dafür. In unseren Kinderstuben wimmelt es von Sprößlingen, die alle zu Verteidigern unserer gerechten Sache heranwachsen.«

»Und wie ist es bei den Hausratten?« wagte Nickel schüchtern einzuwerfen.

»Da muß ich lachen, wenn ich daran denke!« sagte Kaspar, »an den Fingern kann dort die Mutter ihre Kinder zählen. Die Übermacht ist für alle Fälle bei unserem Geschlecht.«

»Also gibt es noch große Schlachten, bevor wir uns in die neue Welt einschiffen. Mir auch recht!« sprach Nickel, der nun schon ganz auf die Gedanken seines Kameraden einzugehen schien.

»Ein Mann, ein Wort!« rief fröhlich Kaspar, »das wird eine gute Übung für die neue Welt. Dort braucht man kühnen Geist und große Unternehmungslust, wenn man es zu was Tüchtigem bringen will.«

»Zuerst müssen wir aber unseren Auftrag erledigen. Unsere Werkzeuge werden doch scharf genug sein?« meinte fragend Nickel.

»Kunststück für unsereins!« sprach in höhnischem Tone der andere, »das Mäusevolk hat schon verschiedenemal den Einbruch versucht, aber Pfuscherarbeit natürlich! Wir werden es rasch haben! Und wenn der alte Kasten auf den Füßen zu wackeln beginnt, sind wir frei. Keine einzige Feile setze ich mehr an, als vereinbart ist. Der alte Trotzkopf, der Hans Jakob, hat noch Zeit bis zum Frühjahr. Bis dorthin wird die ganze Turmgesellschaft die Sache schon fertig bringen.«

»Sagt einmal, Kamerad!« fuhr Nickel dazwischen, dem es im Magen zu knurren anfing, »ist die Kost da drüben über dem großen Wasser für unsereins auch bekömmlich?«

»Wie alles dort, wunderbar, großartig!« antwortete Kaspar prahlerisch, als hätte er sämtliche Güter der neuen Welt zu verteilen, »Bambuspflanzen, deren Samen, so köstlich schmecken, daß meinen Leuten das Wasser im Munde zusammenlief, als sie der Onkel aus Amerika schilderte. Da ziehen sie in großen Scharen hin und bleiben, bis der letzte Kern verzehrt ist.«

»Drüben wird's aber auch nicht anders sein als bei uns, einmal reich der Tisch, ein andermal leer! Was dann?« fragte der vorsichtige Nickel.

»Kinderspaß! Ihr seid ein Angsthuber, Kamerad!« meinte Kaspar, »dann fallen wir in einen Kaffeegarten ein und beißen alle Zweige bis auf den letzten ab. Hochfeine Mahlzeit, von der man dick und fett wird. Auch von Kokuspalmen und ihren Nüssen hat ein junger Vetter erzählt. Mir ist nicht bange! Auswahl nach der Karte!«

Diese Herrlichkeiten versetzten auch den etwas zurückhaltenden Nickel in einen förmlichen Rausch der Begeisterung. Am liebsten wäre er sofort mit seinem Kameraden zu Schiff gegangen. Sie traten ganz nahe zusammen und flüsterten sich geheime Verschwörerpläne ins Ohr.

Dem armen lauschenden Fips ward es schwarz vor den Augen, so zitterte sein Mäuseherz. Auf einmal aber sah er sich allein, Die beiden unheimlichen Burschen waren spurlos verschwunden.

Fips würde das Erlebte für einen wüsten Traum gehalten haben, wenn er nicht Wort für Wort des Gespräches gewußt hätte. Ganz eingeschüchtert verließ er den Ort seines Abenteuers und huschte leise die Treppe hinauf. Er war noch so in dem entsetzlichen Erlebnis gefangen, daß er, ohne es zu merken, schon im obersten Bodenraum angekommen war.

Da! Ein neuer Schrecken! Was war das? In einer Ecke des Speichers, an dem vorspringenden Ende eines Dachbalkens hing ein sonderbares Geschöpf, den Kopf nach unten. Ein graues Samtkleid, ganz und gar im Mauseschnitt gearbeitet, bedeckte den Körper, so daß Fips das kleine Ding für ein unbekanntes Bäslein ansah. Aber die sonderbare Haltung war ihm ein Rätsel. Wenn die graue Gestalt nicht ganz unbeweglich gewesen wäre, so würde sie Fips für einen Turner gehalten haben, der eben am Reck zu einem Kopfschwung ansetzen wollte.

Ganz ratlos war Fips. Mit einigen raschen Sprüngen eilte er hinunter in sein Elternhaus. Mutter wußte sicher Rat.

»O, Fipslein! Dein kleines Einmaleins geht wieder nicht! Kennst nicht einmal die Fledermaus!«

»Warum hängt sie so still und stumm? Ist sie tot?« fragte mitleidsvoll der unerfahrene Fips.

»Nein, mein Sohn!« antwortete in mütterlich belehrendem Tone Frau Langschwanz, »die schläft und träumt, bis sie der Frühling aufweckt. Ich kenne sie. Es ist Amanda. Wenn der Lenz sie anbläst, dann wacht sie wie Prinzessin Dornröschen auf und fliegt aus, um das leichtsinnige Käfervolk einzufangen.«

Fips war ganz Ohr. Eine fliegende Maus! »Durch die Luft, Mutter? Oh, wer das auch könnte!«

»Sei bescheiden, Söhnlein! Jedem das Seine! Eines schickt sich nicht für alle! Brauchst übrigens die Amanda um ihren Flug nicht zu beneiden! Wenn sie ausgeschlafen hat, mache ich mit dir Besuch und stelle dich vor. Im Lenz gibt's ja das große Turmfest, wenn der Schatz gefunden und dem alten Jörg übergeben wird. Dann kannst du sehen, wie sie fliegt. Ich sage dir, unbeholfen, plump, schwerfällig, von Zierlichkeit und Anmut, wie sie in deiner Gestalt liegt, keine Spur!«

Fips schien getröstet, strich sich bei den schmeichelnden Worten der Mutter seinen Schnurrbart und pfiff ein lustiges Liedlein.

In der Nacht aber träumte Fips von fliegenden Mäusen, von wilden Einbrechern und von einem köstlichen Schatz aus Gold und Edelsteinen, mit dem die blonde Annemarie unter dem Weihnachtsbaum spielte.


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