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Erstes Kapitel
Der alte Turm und seine Bewohner

In vergangenen Zeiten hatte die alte Mauer die kleine Stadt liebevoll in ihre Arme geschlossen. Nun stand von ihr in der ursprünglichen, trutzigen Form nur noch ein mächtiger Torbau.

Auf der einen Seite schmiegte sich an ihn ein halbverfallener Mauerrest, der sich als kümmerlicher Zeuge einer längst versunkenen Pracht seines Daseins zu schämen schien und mehr und mehr in sich zusammenbrach. Drüben aber stieg wie ein echter Emporkömmling der stattliche Neubau des städtischen Krankenhauses in die Höhe und blickte aus seinen langen Fensterreihen hochmütig auf den alten Turmnachbar, der nur mit einem einzigen Auge, dicht unter der Zinne, die Welt draußen vor dem Städtlein anschaute.

Und welche Fülle von Luft und Licht und Sonne war dort zu holen! Verließ man durch das alte Tor die kleine Stadt, so konnte sich das steinmüde Auge kaum satt trinken an dem weichen Grün, das Wiese und Wald verschwenderisch gaben. Ganz stolz auf ihren Wetteifer spiegelten sich beide in dem klaren Weiher, der ihnen wieder an hellen Sonnentagen als Gegengruß das blaue Himmelsauge strahlen ließ.

Doch nur selten durchschritt ein Mensch das alte Stadttor mit seinem merkwürdig verschnörkelten Turmbau, auf dessen Zinne ein zerbrochenes Rad den Hochsitz eines Ritters Langbein kündete, der just seinen Flug nach dem Lande des Nil beendet haben mochte.

Die Bewohner der Stadt wählten die freien Ausgänge zu Wiese und Wald, und nur selten kam ein Wanderer seines Weges, der ihn durchs alte Tor am frühen Morgen zum Städtlein führte. Dann konnte er das einzige Fenster des Turmes im Gruß der aufgehenden Sonne leuchten sehen. Wie ein Brennglas sammelte es die Strahlen, und es erschien wie ein geheimnisvoll glühender Rubin in grauer, unscheinbarer Fassung. War aber einer aus der Stadt des Abends noch draußen und wollte geradewegs heimkehren, so sputete er sich, damit er der Nacht mit ihren dunklen Schatten zuvorkäme. Denn diese huschten in dem Torgang gleich unheimlichen Geistern hin und her.

War es doch stadtbekannt, daß es in dem alten Turm spuke! Gab es in dem ganzen Ort ein Männlein oder Weiblein, das nicht die schauderhaftesten Geschichten davon zu erzählen wußte? In Einzelheiten gingen sie zwar oft auseinander, je nachdem sie von dem Großvater stammten, der schon seit einem halben Jahrhundert im kleinen Friedhof schlummerte, oder von einer alten Muhme, die sie von ihrem Vater wußte und mit allerlei krausem Zierat verschnörkelt hatte! Der Kern, um den die Schauermären ihren Tanz schlangen, war jedenfalls der gleiche, feste, unverrückbare.

Im Turm lag ein unermeßlich reicher Schatz vergraben. Zur Zeit der Schwedenkriege hatte es einer getan, dem es bange werden mochte um seine schweren Geldsäcke. Weil er aber niemand auf Erden traute als sich selbst, so wußte keines Menschen Seele von seinem Geheimnis. Und eines Nachts holte ihn einer urplötzlich von seinem Lager und führte ihn in ein Land, in dem nicht nach Geld und Gut gefragt wird und von wannen es auch keine Heimkehr mehr gibt. So lag der Schatz seit uralten Zeiten im Turm, und wie oft man auch Versuche machte, ihn zu heben – er ließ sich nicht finden. Wenn darüber auch die Bewohner des Städtleins sich schon lange beruhigt hatten, einem ließ er keine Ruhe noch Rast, und das war eben der, der ihn vergraben hatte. In mondhellen Nächten und zu bestimmten Stunden kam er in den verschiedensten Gestalten zu dem alten Tor und schaute nach, ob der Schatz noch unversehrt an seinem Platze wäre. Viele hatten den unheimlichen Gesellen schon gesehen, aber mochte sie die Angst und das Grausen verwirrt haben, ihre Schilderungen wichen himmelweit von einander ab. Die einen glaubten, feurige Augen zu sehen, die denen einer Eule ähnlich waren, die anderen meinten eine kleine Gestalt erblickt zu haben, die gleich einer Fledermaus einen schwarzen Mantel um sich schlang. Wieder einer wollte ein schreckliches Geschrei gehört haben, das an den unheimlichen Ruf eines Kauzes erinnerte, während ein anderer ganz leise, heimliche Geigentöne vernahm, als würde der Geist seinem Schatze ein seltsam Schlummerlied spielen.

War es da ein Wunder, wenn niemand das prächtige, weite Turmgemach bewohnen mochte, das sich in dem alten Bau erstaunlich gut erhalten hatte? Nicht bewohnen wollte, trotz der gemütlichen, warmen Holzverkleidung bis zur halben Wandhöhe, trotz der reichverzierten Täfelung der Decke, trotz des mächtigen Kachelofens mit seinen zwei großen, offenen Durchsichten.

Einmal – es war vor ungefähr 60 Jahren gewesen – hatte der Turm für kurze Zeit einen Bewohner gehabt. Ein wunderlicher, alter Kauz, als Sonderling im Städtchen bekannt und gemieden. Denn, obgleich er schwer reich war, seine Hand blieb stets verschlossen. Man wußte von ihm gar viel zu erzählen, daß sein Geiz sein Weib in den Tod getrieben, und daß der einzige Sohn sich vom Vater gekehrt hätte, nach Amerika ausgewandert und dort verdorben oder gestorben sei. Wenn man den Leuten glauben wollte, so war der Alte nur in den Turm gezogen, um dort mit seinem Gelde ungestört zu sein.

Eines Tages aber durchlief das Städtlein die Kunde, daß der wunderliche Kauz unter Zurücklassung seiner Zimmereinrichtung verschwunden sei. Die einen meinten, er sei übers große Wasser gefahren, um nach seinem Sohn zu suchen, weil ihm das Gewissen keine Ruhe lasse, die Gründlicheren – und das war die Mehrzahl – wußten mit Bestimmtheit zu sagen, daß der Leibhaftige selbst ihn geholt habe.

Sei dem, wie es wolle, genug, der alte Joachim Kroner kam nicht mehr zurück ins Städtlein. Seine Mobiliarschaft wurde versteigert und der Erlös den Stadtarmen überwiesen. Nur ein alter riesiger Kleiderschrank, der auf dem Speicher stand und den wegen seines Umfanges niemand wollte, blieb als einzige Erinnerung an den Turmbewohner stehen. Seit der alte Kroner den Stadtturm verlassen hatte, war es trotz der eifrigsten Bemühungen nicht mehr gelungen, einen neuen Mieter zu finden.

Die würdigen Stadtväter ärgerten sich weidlich über den schier unglaublichen Widerstand der Einwohner, wenn sie in öffentlicher Sitzung Jahr für Jahr den Ausfall der Mietsumme buchen mußten. Daheim aber im stillen Kämmerlein gestanden sie es sich ehrlich ein, daß ihr eigenes Heldentum auch nicht auf stärkeren Beinen daherschritt.

So wurde es denn mit einem einzigen Freudenschrei begrüßt, als vor mehr als zwei Jahren wie ein Lauffeuer die Nachricht durchs Städtlein flog, daß der alte Turm einen Bewohner gefunden habe, noch dazu einen, der mit großem Behagen übergesiedelt sei.

Und alle kannten ihn, obwohl er selbst den Leuten aus dem Weg zu gehen pflegte. Es war der alte Jörg, ein weißhaariger Invalide aus dem Krieg 1870/71, von dem er zwar viele Ehrenzeichen, aber leider nur ein einziges Bein mit heimgebracht hatte. Seit dieser Zeit hauste er in dem kleinen Häuslein gegenüber dem Krankenhaus und lebte zuerst mit seiner Tochter und nach deren Tode mit dem einzigen Tochterkind zusammen. Vor zehn Jahren hatte das junge Ding geheiratet und da schien das Haus für die drei Menschen zu eng zu werden, besonders als sich bald auch Raum für eine Wiege finden mußte.

Aber je kleiner das Häuslein für seine Bewohner wurde, um so schwerer vermochte sich der alte Jörg von seinem kleinen Urenkel zu trennen. So erschien es als ein Glück, daß das Torzimmer wieder einmal versuchsweise in all seinen wirklichen und eingebildeten Reizen in dem einzigen Stadtblättlein geschildert und zur Vermietung ausgeschrieben wurde. Der Alte war rasch entschlossen. Dort drüben stand er niemand im Wege und konnte doch, so oft er wollte, seine kleine Annemarie um sich haben, die mit ihrem jungen, erst aufgeschlossenen Leben die stärksten Fäden um das zu Ende gehende des Urgroßvaters schlug. Der alte Jörg aber wurde ob seines Mutes sogar von der Stadtjugend bewundert, die sonst nicht mit der Tugend der Ehrfurcht sonderlich beschwert war. Sein Gesicht, das einem frisch gepflügten Acker glich, auf dem Rauhreif lag, überflog ein Lächeln, wenn er die Kappen sah, die flugs vom Kopfe fuhren, sobald ein Junge ihm über den Weg lief. In die Stadt selbst ging der Alte nur selten, meist nur dann, wenn er sich im Lebzeltergäßlein seinen Tabak holte. Denn neben seinem Enkelkind war die Pfeife seine beste und treueste Freundin, die ihn Lag und Nacht nicht verließ, die bereits in seine Mundwinkel so tiefe Furchen gegraben hatte, daß sie da sicher und fest lag, auch wenn sie schon lange kalt geworden war.

Die alte Hollerfrau vom Armenhaus, die das Turmzimmer allwöchentlich mit viel Wasser und wenig Liebe reinigte, erzählte, daß Jörg in seinem Testament ausgeschrieben habe, daß seine Pfeife einmal mit in seinen Sarg kommen müsse. Sonst stiege er mitsamt dem alten Turmgeist wieder aus dem Grabe. Wenn der aber den Schwedenschatz in all den langen Jahren noch nicht entdeckt habe, er würde seine Pfeife bald gefunden haben.

Um all das, was man im Städtlein über das alte Stadttor und seinen einzigen Bewohner plauderte, kümmerte sich dieser nicht im geringsten. Sommers saß er an dem Fenster, das Wiese, Wald und Weiher umschloß, und kehrte der Stadt den Rücken. Winters aber rückte er seinen Lehnstuhl an den Ofen. Wenn dann die Glut in diesem zu fingen begann, paffte er mächtige Wolken aus seiner Pfeife, bis die ganze Stube in ein undurchdringliches Nebelmeer gehüllt war. Dies waren die Stunden der wachen Träume. Sie flogen zurück in längst vergangene Tage, da er noch jung war, und trugen ihn hinüber in das Land der unbekannten Zukunft. Da spannen seine Gedanken und halbwachen Sinne prächtige Luftschlösser, in denen seine kleine Annemarie als holde Königin herrschte und die samt und sonders aus Gold und Edelsteinen erbaut waren. Das Geld dazu? Doch eine Kleinigkeit! Wozu war er der Hüter des unermeßlich großen Schwedenschatzes? Der mußte gehoben werden, und der Anteil des ehrlichen Finders reichte wohl aus, seine Baupläne in die Wirklichkeit zu setzen; konnte man doch von dem Schatze die ganze Stadt kaufen! Und warum sollte es nicht gelingen? War er nicht ein Sonntagskind und hatte bis zur Stunde auf das große Glück gewartet? Verstand er nicht die Sprache der Tiere und allerlei Zeichen zu deuten?

Warte nur, kleine Annemarie! Dein junges Leben und das Geheimnis des alten Stadttores klingen wunderlich zusammen in den Träumen deines alten Großvaters!


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