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Herodot war ein universaler Mensch. Er hat zwar sein Werk deutlich auf die Darstellung seines religiösen Glaubens angelegt, daß Gott die Großen klein und die Kleinen groß zu machen liebt; aber innerhalb dieses ja sehr weiten Rahmens hat er das ganze lebendige Wissen vom Menschen eines weitsichtigen, vorurteilslosen und im höchsten Sinn kritischen Mannes ausgebreitet. Er ist Geschichtschreiber; aber er faßt die Aufgabe der Geschichtschreibung im höchsten Sinn auf: nicht als ein Erzählen geschehener Dinge, sondern als eine umfassende Schilderung der ihm bekannten Menschheit, welche denn die Menschheit überhaupt vertritt. Er steht bei diesem Schildern auf dem Standpunkt seiner Zeit; aber seine Zeit war der wundervolle Frühling unserer Welt, in dessen Blühen schon alle spätere Frucht geahnt wird. So ist es möglich gewesen, daß die Verehrung für ihn in der modernen Zeit von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer gestiegen ist: je besser wir ihn nämlich verstehen lernten, weil wir selber uns höher gebildet hatten; so ist es auch möglich, daß er zu den wenigen Schriftstellern gehört, welche das Kind mit der gleichen Freude lesen kann wie der reife Mensch, und welche denn vielleicht erst ganz der erfahrene Greis versteht.
Zu den liebenswürdigsten und am leichtesten zugänglichen Teilen seines Werkes gehören die mythischen, märchenhaften und novellistischen Stücke, welche auf Grund von alten, ihm mündlich überlieferten Erzählungen in poetischer Weise Vorgänge der Vergangenheit konzentriert darstellen. Er berichtet sie nicht als wirkliche Geschehnisse; aber er weiß wohl, daß sie Höheres sind, als gewöhnliche Wirklichkeit, daß in ihnen die dichtende Kraft von Generationen und Völkern das Wesentliche, das Menschliche, der Vergangenheit abgebildet hat, welches denn, weil alles Menschliche ewig gleich ist, immer neu sein muß.
Die orientalischen Völker waren von jeher in solchen Geschichten ausgezeichnet, und sie sind es noch heute. Wer einen älteren Historiker liest, der asiatische Geschichten schreibt, der wird solche Erzählungen, wie Herodot sie hat, aus allen Zeiten finden; nur freilich wird er immer den Zauber von Herodots Darstellungskunst vermissen. Etwa von Akbar dem Großen, einem Nachkommen des Tamerlan, der um 1800 in Indien ein mächtiges Reich hatte, wird erzählt, daß er eine Festung belagerte, die von einem König Mustapha hartnäckig verteidigt wurde. »Ermüdet durch die Anstrengungen einer langen Belagerung und die Hitze, welche in diesen Gegenden im Mai fast unerträglich ist, war Akbar im Begriff abzuziehen, als er durch Überläufer erfuhr, daß das Wasser in der Festung zu mangeln begann. Mustapha verzweifelte daran, seine Zisternen wieder zu füllen, da die Regenzeit noch sehr entfernt war, und beschloß, heimlich allein aus der Festung zu entweichen und nach Brampur zu flüchten, um von dort aus den Rest seiner Lande zu verteidigen. Er wurde von den Wachen Akbars gefangen und vor diesen geführt. Akbar fragte ihn: ›Wer bist du und was erwartest du von mir?‹ Der Gefangene antwortete: ›Ich bin der König Mustapha und bin aus meiner Festung gekommen, um meinen Feind selber um Rat zu fragen. Ein großer Fürst wie du darf mir ihn nicht verweigern. Das Wasser wird mir knapp; was muß ich tun, um der Knechtschaft zu entgehen, die mich bedroht?‹ Akbar antwortete ihm: ›Gehe in diese Festung zurück, die du mit so viel Mut verteidigt hast, und wenn Gott will, so wirst du Wasser bekommen.‹ Obwohl in dieser Gegend die Regenzeit erst Mitte Juni beginnt, kam doch schon in der folgenden Nacht ein so heftiger Regen, daß alle Zisternen in der Festung angefüllt wurden. Akbar hob die Belagerung auf und Mustapha verglich sich später mit ihm.«
Der Orient kann seine Edelsteine nicht fassen; unendlich viel Schönes muß verlorengegangen sein, das in diesen weiten Ländern ausgedacht war; was Herodot hörte, das hat er so geformt, daß es heute Gemeingut der Menschheit geworden ist, wie es sonst nur die Geschichten der Bibel sind. Wer erinnerte sich nicht aus seiner Kindheit der Erzählungen von Krösus und Solon, Krösus und Cyrus, Cyrus bei den Massageten, und so vieler anderer. Griechische Kunst und orientalische Weisheit sind hier vereinigt.
Aus zwei Quellen strömen Herodot die Geschichten zu. Die Religion beherrscht im Orient das Denken und Fühlen in ganz anderer Weise als bei uns. Zu allen Zeiten haben die Orientalen die Geschehnisse des irdischen Lebens eng mit dem Göttlichen verknüpft; so haben sie nicht nur von vornherein eine ganz andere Stellung zum Wirklichen: daß es ihnen nämlich leichter wird als uns, es symbolisch zu fassen für das Geistige, daß sie es nicht so ernst nehmen wie wir, daß sie also das Unglück leichter ertragen; auch ihr Dichten sucht immer gleich das Geistige, betrachtet von vornherein das Irdische nur als ein Gewand. Es wird uns schwer, eine solche Gemütsstimmung zu verstehen. Wenn wir etwa Hafis lesen, so glauben wir uns über einen Anakreontiker zu freuen; die Perser aber belehren uns, daß der Wein die mystische Erkenntnis Gottes bedeutet und daß Hafis ein frommer Dichter ist. Die unzähligen kleinen Geschichten des Orients sind aus dieser Gemütsstimmung entstanden, die denn, je nach der Persönlichkeit, schwankt von mystischer Frömmigkeit bis zu reiner menschlicher Ethik. Die Weisheit Solons in der Geschichte von Krösus und Solon ist nicht griechisch, sondern orientalisch. Man vergleiche folgende Geschichte aus Saadis »Rosengarten«: Es brachte einer Nuschirwan dem Gerechten die frohe Nachricht, daß Gott, der Ruhm- und Preiswürdige, den und den seiner Feinde hinweggenommen. Nuschirwan versetzte demselben: »Hast du etwa auch gehört, daß Gott mich will lassen?« Die merkwürdige Frömmigkeit Herodots selber scheint durchaus orientalischen Ursprungs; und es ist gewiß kein Zufall, daß sie am schönsten sich in diesen Geschichten zeigt.
Eine andere Quelle dieser Geschichten sind alte Stammessagen, die vielleicht bis zu einer balladenartigen Vorstufe der epischen Dichtung gediehen war. Die Jugendgeschichte des Cyrus ist von dieser Art; es sind hier die urtümlichsten Vorstellungen in den bekannten mythischen Umformungen erhalten.
Wir wissen ja heute durch die Ausgrabungen unendlich viel mehr über den Orient, als Herodot wußte. Aber wenn wir etwa den ersten Band von Meyers »Geschichte des Altertums« nun mit Herodot vergleichen, so müssen wir uns fragen: bedeutet denn dieses größere Wissen so viel, wie wir gewöhnlich denken? Den Geist des Orients hat Herodot in unübertrefflicher Weise gefaßt; er hat ihn nach seinem Temperament: eines heitern, milden, klugen und weisen Mannes gefaßt; ein anderes Temperament sieht vielleicht Tragödien, wo er Elegien sah, und unsere Zeit hat ja gewiß ein anderes Temperament, wie Herodot hatte. Aber ist unsere Auffassung nun etwa richtiger?
Herodot wurde zehn Jahre nach dem Aufstand der asiatischen Griechen gegen die Perser und sechs Jahre nach der Schlacht bei Marathon, im Jahre 484, aus einem edlen Geschlechte geboren in Halikarnaß, einer dorischen Kolonie in Kleinasien. Angeblich hat er einen Tyrannen Lygdamis in seiner Vaterstadt bekämpft. Die Vorlesung eines Teiles seines Werkes in Olympia und später in Athen ist wohl Legende; sein Buch macht durchaus den Eindruck, daß es von einem alten Mann geschrieben ist. Ungefähr von seinem zwanzigsten bis zu seinem vierzigsten Jahre machte er die großen Reisen, die ihn in alle Teile der damals bekannten Welt führten. Ungefähr 444 gründeten die Athener die Kolonie Thurium in der Nähe des zerstörten Sybaris in Italien, und entweder gleich oder einige Jahre später fand Herodot dort eine neue Heimat. Von dort bereiste er nur noch Süditalien und Sizilien; seine wesentliche Arbeit war nun das Schreiben seines Werkes; es scheint, daß er noch im siebenundsiebenzigsten Jahre seines Lebens an ihm gearbeitet hat.
Die Übersetzung von Goldfaden stammt aus der guten Zeit des achtzehnten Jahrhunderts. Dem Übersetzer ist die Nachbildung des behaglichen, altersmäßigen Tones des Historikers sehr gut gelungen.