Johann Gottfried Herder
Journal meiner Reise im Jahr 1769
Johann Gottfried Herder

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O gebet mir eine unverdorbne, mit Abstraktionen und Worten unerstickte Jugendseele her so lebendig, als sie ist; und setzet mich denn in eine Welt, wo ich ihr alle Eindrücke geben kann, die ich will, wie soll sie leben! Ein Buch über die Erziehung sollte bestimmen, welche und in welcher Ordnung und Macht diese Eindrücke sollten gegeben werden! daß ein Mann von Genie daraus würde, und dieses sich weckte! Durch Repräsentation der Sachen fürs Gesicht, noch mehr aber Gefühl: durch Körperliche Uebungen und Erfahrungen allerlei Art, durch Bedürfniße und Ersättigungen, wie sie nur seyn können. Alles versteht sich pro positu, in welcher Art von Welt man lebt, und sehen kann. Jeder Mensch wird finden, daß seine später verarbeiteten Gedanken immer von solchen Eindrücken, Visionen, Gefühlen, Sensationen, Phänomenen herrühren, die aber oft schwer zu suchen sind. Die Kindheit in ihrem langen tiefen Traum der Morgenröthe verarbeitet solche Eindrücke und modificirt sie nach allen Arten, dazu sie Methoden bekommt. Dies führt auf ein drittes:

Man gebrauche seine Sinne, um von allem Begriffe der Wahrheit zu bekommen, und nicht gleich mit dem ersten Eindruck dem Häßlichen und Falschen eigen zu werden. Ich weiß nicht, wie viel vortrefliche Folgen nicht entstehen müßten, wenn alle erste Eindrücke, die man uns liefert, die besten wären. Unsre Gothische Fratzen und Altweibermärchen sind sehr schlechte erste Formen: die ersten Eindrücke von Tempeln, und Religion sind Gothisch, dunkel und oft ins Abentheuerliche und Leere: die ersten Bilder und Gemälde sind Nürnbergsche Kupferstiche: die ersten Romane Magellonen und Olympien[;] wer denkt wohl dran, in der Musik, die ersten Töne schön, sanft, Harmonisch, Melodisch seyn zu laßen? Daher kommts auch, daß unsre Seelen in dieser Gothischen Form veralten, statt daß sie in den Begriffen der Schönheit erzogen, ihre erste Jugend wie im Paradiese der Schönheit gemessen würden. Hier sind aus meinem Beispiel die Folgen klar. Nach den ersten Eindrücken meiner Erziehung hat sich viel von meiner Denkart, von der Bestimmung zu einem Stande, vielleicht auch von meinem Studieren, meinem Ausdruck u. s. w. gerichtet. Was kann aus einer in Geschichte, Kunst, Wißenschaft und Religion Gothisch verdorbnen Jugendseele werden? Und was würde aus einer werden können, die mit den schönsten Begriffen des Schönen genährt würde? Hier starke Menschliche Anreden! Proben z. E. von einem richtig gewöhnten Auge, Ohr, von einem Sinn des Schönen! Und denn Vorschläge und Vorbilder!

Wenn ich hier von Vorbildern der Schönheit u. s. w. rede: so sage ich nicht, daß unsre Seele in der Kindheit alle die feine Verbindungen von Begriffen schon habe, die in uns dies Sentiment bilden: die hats noch nicht. Allein eben [dadurch,] daß man der Verwirrung von Begriffen zuvorkommt, bildet man ihn. Wir lernen die feinsten Abstraktionen, die das Resultat langer Betrachtungen sind, die nicht anders als aus einer Menge feiner und seltner Verbindungen und Aßociationen mit andern haben entstehen können, in einem Augenblick durch den Hasard der Sprache, oder durch schlechte Gelegenheiten. Ein schöner Jüngling müste nichts als richtige Sensationen haben, und aller Ideen beraubt werden, die noch nicht für ihn sind. Weil er aber in der Gesellschaft lebt, und leben sollen, so geht diese Beraubung nicht lange an, aber in der Mittheilung auch deßen, was andre für ihn ausgedacht haben, und worinn derselbe eingeweihet wird, muß wenigstens so viel Philosophie wohnen, daß er nichts wider seinen gesunden Verstand annehme, wenn auch schon manches durch die Gesellschaft accelerirt wäre: daß er nichts ohne richtige Sensation annehme, was er ausspricht u. s. w. So muß er zum Begrif feiner Worte, feiner Tugenden und feiner Sentiments der Schönheit kommen.

Die Schönheit z. E. von wie vielen Ideen ist sie das Compositum? von wie vielen Ideen aus ganz verschiednen Sachen gezogen? wie fein verflochten sind alle diese Ideen von denen sie das Resultat ist? was setzen sie vor feine Begriffe schon wieder voraus von Ordn[ung,] Maas, Proportion? Und diese Begriffe was für eine Reihe Bemerkungen, Sitten, Convenanzen wieder? wie ändern sie sich also nach diesen Convenenzen nach Ort, Zeit, Völkern, Nationen, Jahrhunderten, Geschmacksarten? wie viel Weisheit gehört also dazu einer Jugendseele die ersten Eindrücke des Schönen in Formen, Gestalten, Körpern, Tönen richtig zu machen! ihn noch nichts von Schönheit überhaupt reden, sondern nur das Einzelne, jedes beste Schöne in seiner Art begreifen lassen! ihn allmälich von einem simpeln Gegenstande zu einem mehr verflochtnen führen! von Bildhauerkunst zur Malerei, von einfach schöner Musik zu einfach schönen Tänzen! lebendige Gestalt wird er sieh selbst suchen, nur laßt uns seine Seele so zur Richtigkeit der Begriffe und sein Herz zur Richtigkeit der Tugend gewöhnen daß er auch in dieser so complicirten Wahl noch richtig geht.

Was für einen Unterschied in der ganzen Doktrin gäbe dies! Die ganze Moral ist ein Register feiner Abstrakter Begriffe: alle Tugenden und Laster das Resultat vieler feiner Bemerkungen[,] feiner Situationen, feiner Fälle! Jahrhunderte, Gesellschaften, Convenanzen, Religionen haben dazu beigetragen! Welche kindische Seele kann sie alle indem sie das Wort hört und lernt, entziefern! Welcher Philosoph hat sie entziefert! Welcher lebendige Philosoph wenn jener sie auch entziefert hätte, hätte sie so lebendig, um sie anwenden zu können! um dem Strom von Sprache, Gesellschaft, feinen Unterricht wiederstehen zu können, der auf eine Seele losstürmt! Hier ein grosses Geschäfte: der Verf. des Gouverneurs ou Essai sur l'education (Lond. Nourse) hat einige angefangen, Schönheit, Herrschaft! simpler, und Philosophischer als er, will ich ihm nachfolgen Das Alter der Einbildungskraft ist leicht. Sie nimmt keine neue Bilder mehr an: sie wiederholt nur die vorigen. Noch ein andres höheres Alter: sie wiederholt sie auf einerl[ei] Art. Das höchste endl[ich:] sie wiederholt sie, ohne sie einmal völlig und ganz auszudrücken. Sie spricht wie mit schwacher Zunge, wie im Traum.

Alle Bilder, die wir sehen, malen sich in unser Auge, in unser Gehirn: da bleiben welche vielleicht materielle Spuren, das macht das Gedächtniß. Diese Spuren können aufgefrischt und zur idealen Gegenwart gebracht werden: das ist Imagination. Wie sie sich ins Gehirn malen? Physisch ist dies Problem noch nicht gnug aufgelöset: die Bemerkungen, die Maupertuis vorschlägt mit dem Gehirn der Maleficanten würden dazu helfen, und denn würde gleichsam die Welt Materieller Ideen lebendig. Wie sie sich im Gehirn erhalten, und nicht von andern ausgelöscht werden? Huart hat darüber Spitzfündigkeiten gegeben, die bei seinem Scharfsinn es wenigstens zeigen, daß eine beßere Auflösung unmöglich sei, wenn man zuviel grübeln will. Wie sie sich im Gehirn wieder aufwecken laßen? Das ist eine von den 3en Unbegreiflichkeiten, die Scaliger nicht auflösen konnte – laßet uns die Metaphysik laßen und Praktisch reden.

So lange das Gehirn, oder die Tafel der Seele weich und zart ist, alle neue Bilder, mit aller Stärke, in allen Farben und Nuancen, mit aller Wahrheit, Neuigkeit und Biegsamkeit einzunehmen: da ist die weiche und wächserne Jugend der Seele! da fühlt ein Klopstock in seiner Kindheit alle die Bilder, die er nachher singt, modellirt und so mannichfalt verarbeitet! da steht die Einbildungskraft offen, und o wenn nur die guten, die besten Bilder jedesmal hineingebracht würden! – – Allmälich schließt sich die Seele d. i. sie verarbeitet die vorigen Ideen: sie wendet sie an, so oft sie Gelegenheit hat: dadurch werden jene zurückgerufen und gleichsam stärker eingeprägt: immer zurückgeruffen und immer stärker: das Gehirn also härter und vester: endlich werden sie eben durch die starke Erneurung die einzigen und ewig. Sie kommen immer wieder, und die Seele kann nichts denken, ohne daß sie wiederkommen. So kommen dem Klopstock seine eiserne Wunden, und seine letzten Stunden immer zurück, daß er fast nichts ohne sie etc. Natürlich daß sie endlich andern Ideen den Eingang wehren, und an unrechtem Ort zurückkommen: die Seele, die gleichsam in einer neuen Gesellschaft mehr Neuigkeit, aber auch mehr Zwang hätte, stützt sich auf die alte, schon bekandte: die besucht sie: da gefällt sie sich: diese Furchtsamkeit neue Ideen zu besuchen, diese Anhänglichkeit an die Alten Freunde ist ein Zeichen des Alters.

Endlich komt man gar so weit, so lange zu erzälen, bis man im Erzälen sich vergißt, und nur schwache und träge Abdrücke in Worten gibt von dem, was man denkt und sich einbildet. So wie ein langer Lügner endlich selbst seine Lügen vorträgt, ohne daß ers inne wird: so auch ein langer Erzäler, ohne daß er erzälet. Er verliert die Aufmerksamkeit auf das, was er sagt: ob es auch für einen, der so etwas nicht gesehen, nicht gehört, oder nicht so oft erzälen gehört hat, als dieser es selbst erzält hat, so ganz, so eindrücklich, so vollständig sei, daß es ganzen Eindruck geben könne. Daher z. E. bei Klopstock in s[einen] Liedern die schwachen Wiederholungen aus seinem Meßias: ihm sind diese und jene einzelne Züge im Ganzen eindrücklich gewesen: er glaubt, daß s[ie] andern, so einzeln, als sie ihm einkleiben, auch so mächtig seyn müßen: er vergißt also das Eindrückl[iche] Ganze zu geben, und wird schwach, matt, todt. O Jugend der Seele, die so stark spricht, als sie siehet und fühlet! Mit jeder Wiederholung schwindet ein Zug der Aufmerksamkeit: mit jeder Wiederholung schwächt sich [das] Bild, es wird nur Nachbild, Nachabdruck, und endlich ists die geschwächste Gestalt der Seele!

O ihr grossen Meister aller Zeit, ihr Moses und Homere! ihr sangt durch Eingebung! pflanztet was ihr sanget, in ein ewiges Sylbenmaas, wo es sich nicht regen konnte: und so konnte es so lange wiedergesungen werden, als man wollte. Wir in unsrer matten, unbestimmten, uns selbst und jedem Augenblick überlaßnen Prose wiederholen und prosaisiren so lange, bis wir endlich nichts mehr sagen. So gehts einem alten Profeßor, der gar zu oft einerlei gelesen: einem alten Prediger, der gar zu oft einerlei gelehrt, gesagt, verrichtet hat, einem alten Witzlinge; er wird endlich schwach, was Stachel seyn sollte, ists nicht mehr, was Delikatesse seyn sollte, wird Finesse: kurz Fontenelle, in seinem Alter, wie ihn auch Clement charakterisiret: einem alten Anakreontisten, wie es Gleim zeigt: einem alten Spötter, wie es Voltaire beweiset u. s. w.

Welche grosse Regel, mache deine Bilder der Einbildungskraft so ewig, daß du sie nicht verlierest, wiederhole sie aber auch nicht zur Unzeit! eine Regel zur ewigen Jugend der Seele. Wem seine ersten Bilder so schwach sind, daß er sie nicht stark und in eben der Stärke von sich geben kann, da er sie empfangen, der ist schwach und alt. So gehts allen Vielbelesnen und Zuviellesenden, die nicht Gelegenheit haben, das was sie gelesen, Einmal stark und lebendig zu wiederholen: oder die nicht Lebhaftigkeit gnug haben, zu lesen, als ob man sähe, fühlte, selbst empfände, oder anwendete: oder endlich, die durch zu Ueberhäuftes, schwächliches, Zerstreutes Lesen sich selbst aufopfern! So gehts mir. Indem ich mich zu sehr aus meiner Sphäre wage: indem ich nie mit ganzer zusammengenommner, natürlich vollkommnen Seele lese, so wird kein Eindruck ganz! Nie so ganz, als ihn der Autor empfand, oft nicht einmal so ganz, daß ich ihn sagen, oder mir nur stark und vollendet denken kann. O Greise, schwache Beschaffenheit der Seele! Der Magen ist verdorben: die Natur geschwächt: die Seele [hat] keinen wahren Hunger, also auch keinen wahren Appetit zur Speise: also auch keine starke völlige Verdauung: also auch keine gesunde Nahrung.

Wie ist ihm zu helfen? Wenig eßen, viel Bewegung und Arbeit: d. i. ohne Allegorie wenig Lesen, viel Ueberdenken mit einer gewißen Stärke und Bündigkeit, und denn Ueben, Anwenden. Wie wenn dazu meine Reisen dienten! Da komme ich in die Nothwendigkeit, nicht immer lesen oder vielmehr lesend schlendern zu können: da muß ich Tagelang ohne Buch bleiben. Da will ichs mir also zum Gesetz machen, nie zu lesen, wenn ich nicht mit ganzer Seele, mit vollem Eifer, mit unzertheilter Aufmerksamkeit lesen kann. Hingegen will ich alsdenn an das, was vor mir liegt, denken, mich von der greulichen Unordnung meiner Natur heilen, entweder zu sehr voraus, oder zu spät zu denken; sondern immer die Gegenwart zu gemessen. Alsdenn wenn ich das Buch ergreife – nicht anders, als mit voller Lust und Begierde, und so daß ich endlich so weit komme, ein Buch auf einmal so lesen zu können, daß ichs ganz und auf ewig weiß; für mich und wo ich gefragt werde, wo ichs anwenden soll, und auf welche Art auch die Anwendung seyn möge. Ein solches Lesen muß Gespräch, halbe Begeisterung werden, oder es wird nichts!


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