Luise Hensel
Gedichte
Luise Hensel

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Nächtliches Wiegenlied

            Lieb Knäblein, schlaf'! Ich wache gern,
O schlaf, mein armes Kind!
Am Himmel steht der Abendstern,
Der sieht recht lieb und lind.
Es sehn ja alle Sterne
Mein bleiches Kindlein gerne.
Schlaf ein, mein frommes Kind!

Ja, schlaf in Gottes Namen ein,
Die Äuglein schließe zu;
Dann sehn die lichten Engelein
Herab auf deine Ruh'.
Da draußen wehn die Bäume,
Sie rauschen bunte Träume.
Ach, tu' die Äuglein zu!

Lang ist's schon, daß mein armes Herz
Der süße Schlummer flieht
Und daß auf meinen stillen Schmerz
Der Mond herniedersieht.
Mein Waislein, bleib doch liegen,
Will dich als Mutter wiegen;
Horch auf mein neues Lied!

Aus teurem Grabe wuchs ein Reis,
Das war so zart und fein;
Ich pflanzt' es in mein Beet mit Fleiß
Und sah es schön gedeihn;
Nun nagt an seinem Herzen
Ein böser Wurm mit Schmerzen,
Nun welkt es mir zur Pein.

Wohl träumt ich manchen schönen Traum
Von meinem lieben Reis':
Ich hofft', es wer' ein hoher Baum
Zu Gottes Ehr' und Preis'.
Der, dacht' ich, wird in Stürmen
Viel schwache Bäumlein schirmen
Umher in weitem Kreis'. –

Mein Hoffen sah ich nun vergehn:
Es welkt mein Zweigelein,
Und seh' doch andre Reislein stehn,
Die nicht so lieb und fein. –
O, schlaf. mein armer Knabe!
Die Mutter schläft im Grabe
Und denkt im Himmel dein.

Berlin, Winter 1817

 


 


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