Luise Hensel
Gedichte
Luise Hensel

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An meinen frommen einzigen Bruder

Maimond

        Ich denke dein, wenn mir Aurora strahlet
Und wenn die goldne Mittagssonne glüht,
Wenn Spätrot mir die Wange höher malet,
Wenn Hesper nur die stillen Tränen sieht.

Ich denke dein, wenn Nacht das Tal umdüstert
Und Luna blickt aus hoher Lüfte Raum,
Selbst wenn der Mohnkranz mir die Stirn umflüstert
Dann seh' ich dich im leisen Taumeltraum.

Ich denke dein, wo hohe Eichen schatten,
Wo dämmernd nur das grüne Dunkel tagt,
Im Fichtenwald, auf buntgeschmückten Matten,
Am Wasserfall, wo Philomele klagt.

Ich denke dein, wo Trauermelodien
Mir widertönt der leise Widerhall,
Wo Veilchen sanft auf grünem Rasen blühen,
Ich denke dein, o Bruder, überall.

Ich denke dein, wie junge Bräute pflegen,
Wenn man den Liebling grausam ihnen nahm,
Mit Tränen, Flehn und süßem Schwestersegen,
Im treuen Busen banger Sehnsucht Gram.

Ich denke dein mit heiligem Entzücken,
Mit hohem Stolz, daß ich dir Schwester bin,
Mit Sehnsucht dich an meine Brust zu drücken,
Ich denke dein mit liebevollem Sinn.

So denk'ich dein! ? Auf allen meinen Wegen
Glänzt mir dein Bild, gehüllt in Dämmerschein.
Und immer wallt mein Herz nur dir entgegen
Und immer denk' ich nur mit Liebe dein!

Berlin (1813.)

 


 


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