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Tausend und eine Nacht. Band XV
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Die Spinne und der Wind.

»Wisse, o König, eine Spinne hatte sich einst an einem hohen Thor aufgehängt und spann dort ihr Netz, worauf sie in Frieden in ihm wohnte und Gott, dem Erhabenen, dafür dankte, der ihr zu diesem Ort verholfen hatte und sie sicher und ohne Furcht vor den Reptilen wohnen ließ. Nachdem sie in dieser Weise unter Danksagung gegen Gott für ihre Ruhe und ihren beständigen Unterhalt lange Zeit gelebt hatte, stellte sie Gott auf die Probe, um ihre Dankbarkeit und Ergebenheit zu schauen, indem er einen starken Sturm aus Norden wehen ließ, der sie mit ihrem Haus forttrug und ins Meer warf. Die Wogen trugen sie jedoch wieder an den Strand, worauf sie Gott, dem Erhabenen, für ihre Rettung dankte und den Wind schalt, indem sie sprach: »O Wind, warum hast du mir dies angethan, und was für Gutes hat es dir eingebracht, daß du mich von meiner Stätte hierher trugst, wo ich in Sicherheit und Frieden in meinem Haus hoch oben im Thor wohnte?« Da antwortete ihr der Wind:Einschaltung nach der Macnaghtenschen Ausgabe. »O Spinne, hast du nicht gelernt, daß die Welt ein Haus der Unglücksfälle ist? Und sag' mir, wer kann sich 138 dauernden Glückes rühmen, daß dies ebenfalls dein Los sein sollte? Weißt du nicht, daß Gott seine Geschöpfe versucht, um die Stärke ihrer Geduld zu erfahren? Wie denn schickt es sich für dich mich zu schelten, du, die du durch mich aus der gewaltigen Tiefe errettet bist?« Die Spinne versetzte: »Deine Worte sind wohl wahr, jedoch wünsche ich nichtsdestoweniger aus diesem fremden Land, in welches mich deine Heftigkeit geworfen hat, errettet zu werden.« Der Wind erwiderte: »Laß dieses Schelten, ich werde dich wieder an deine frühere Stätte zurücktragen.« Da wartete die Spinne geduldig, bis der Nordwind zu wehen aufhörte und der Westwind sich erhob und, an ihr vorüberstreichend, sie aufhob und nach ihrer alten Wohnung zurücktrug; und als sie an ihr vorüberkam und sie erkannte, hängte sie sich wieder daran. –

So beten auch wir zu Gott, der den König wegen seiner Einzigartigkeit und Standhaftigkeit belohnt hat und ihm diesen Knaben in seinem hohen Alter, als er bereits die Hoffnung verloren hatte, geschenkt hat und ihn nicht aus dieser Welt genommen hat, ehe er ihm einen Augentrost verlieh und ihm Königtum und Sultanschaft schenkte und Mitleid empfand mit seinen Unterthanen und sie mit seiner Huld begnadete.«

Da sprach der König: »Gott sei das Lob über alles Lob und der Dank über allen Dank! Es giebt keinen Gott außer ihm, dem Schöpfer aller Dinge, dessen herrliche Majestät wir an dem Licht seiner Spuren erkennen, und der da Königtum und Sultanschaft in seinem Lande dem seiner Diener verleiht, welchem er will. Er erwählt aus ihnen, wen er will, daß er ihn zu seinem ChalifenStellvertreter. und Statthalter über seine Geschöpfe macht, und befiehlt ihm, sie in Gerechtigkeit und Billigkeit zu regieren und die Vorschriften des göttlichen Gesetzes und der Sunna aufrecht zu halten, das Rechte zu thun und ihre Angelegenheiten so zu verwalten, wie es Ihm und 139 ihnen lieb ist. Wer von ihnen Gottes Befehl thut, der erreicht seinen Wunsch und gehorcht dem Befehl seines Herrn; und er schützt ihn vor den Schrecken dieser Welt und giebt ihm schönen Lohn in der nächsten; denn den Lohn der Rechtschaffenen läßt er nicht außer acht. Wer von ihnen aber nicht nach Gottes Geheiß verfährt, der begeht eine große Sünde und rebelliert gegen seinen Herrn, indem er sein Irdisches seinem Jenseits vorzieht. Er hinterläßt auf dieser Welt keine Spuren und an der nächsten hat er keinen Anteil; denn Gott giebt den Tyrannen und Missethätern nur eine Frist und vergißt keinen seiner Diener. Diese unsere Wesire haben hervorgehoben, daß wegen unserer Gerechtigkeit und unsers schönen Wandels unter ihnen Gott uns und ihnen seine Huld gespendet hat, weshalb wir ihm um seiner ausnehmenden Huld willen den schuldigen Dank zu sagen haben. Ferner hat jeder von ihnen gesprochen, was der Allmächtige ihm in dieser Sache eingab, und sie haben einander überboten in Danksagung zu Gott, dem Erhabenen, und seiner Lobpreisung wegen seiner Huld und Güte. Und ich sage Gott ebenfalls Dank, da ich nur ein Knecht unter Befehl bin; mein Herz ist in seiner Hand, und meine Zunge folgt ihm, zufrieden mit dem, was er mir und ihnen verhängt, mag kommen was da will. Jeder von ihnen hat gesprochen, was ihm in betreff dieses Knaben in den Sinn kam, und hat geredet von der erneuerten Gnade Gottes zu uns, wo ich bereits an Alter die Grenze erreichte, wo der Glauben dem Verzagen unterliegt. Gelobt sei daher Gott, der uns bewahrt hat vor Enttäuschung und einer Nachfolge von Regenten gleich der Folge der Nacht auf den Tag! Wahrlich, dies war eine hohe Gnade für sie und für uns, und loben wollen wir Gott, den Erhabenen, der uns diesen Knaben bescherte in sofortiger Erhörung und ihn gesetzt hat an einen hohen Platz als Erben des Chalifats. Und so bitten wir ihn in seiner Güte und Milde ihn glücklich in seinen Unternehmungen zu machen und bereit zum Guten, daß er ein König 140 und Sultan wird, der seine Unterthanen in Gerechtigkeit und Billigkeit regiert und sie in seiner Gnade, Güte und Hochsinnigkeit vor dem Verderben des Abirrens vom Rechten bewahrt!«

Nachdem der König seine Rede beendet hatte, erhoben sich die Weisen und Gelehrten und warfen sich vor Gott nieder, worauf sie dem König danksagten, und ein jeder, nachdem er ihm die Hände geküßt hatte, nach Hause ging. Alsdann begab sich der König in seinen Palast und besah sich seinen Sohn, worauf er für ihn betete und ihn Wird Chân nannte. Als der Knabe sein zwölftes Jahr erreicht hatte, wollte ihn der König in den Wissenschaften unterrichten lassen und baute ihm deshalb mitten in der Stadt ein Schloß mit dreihundertundsechzig Gemächern, worauf er ihn dort unterbrachte. Dann stellte er dreißig der Weisen und Gelehrten über ihn und befahl ihnen, weder Tag noch Nacht in seiner Unterweisung lässig zu sein und jeden Tag mir ihm in einem andern Gemach zu sitzen und darauf acht zu geben, ihn in jedem einzigen Wissenszweig zu unterrichten, bis er sich alle Wissensgebiete angeeignet hätte. An die Thür jedes Gemaches aber sollten sie schreiben, welche Kenntnisse sie ihm in demselben beigebracht hätten, und sollten ihm selber nach Ablauf jeder Woche berichten, was an Wissen sie ihn gelehrt hätten. Hierauf begaben sich die Gelehrten zu dem Knaben und ließen nicht ab ihn Nacht und Tag zu unterrichten noch ihm irgend etwas von ihren Kenntnissen vorzuenthalten; der Knabe aber zeigte scharfen Verstand und gutes Begriffsvermögen und Aufnahmefähigkeit wie keiner vor ihm. In jeder Woche rapportierten sie dann dem König, was der Knabe gelernt hatte, wobei der König selber an Wissenschaft und feiner Bildung profitierte; und die Gelehrten sprachen zu ihm: »Nie zuvor sahen wir einen so reich mit Verstand begabt wie diesen Knaben; Gott segne dich in ihm und gebe dir Freude an seinem Leben!« Als der Knabe sein zwölftes Jahr beendet hatte, wußte er das beste von jeglicher Wissenschaft und 141 übertraf alle Gelehrten und Weisen seiner Zeit, weshalb ihn die Gelehrten vor den König führten und zu ihm sprachen: »Gott tröste deine Augen mir diesem glückseligen Sohn, o König! Wir bringen ihn dir, nachdem er sich alles Wissen angeeignet hat, so daß es unter den Gelehrten und Weisen der Zeit keinen giebt, der gleiche Kenntnisse wie er erreicht hat.« Der König freute sich hierüber mächtig und dankte Gott, dem Mächtigen und Herrlichen, in überschwänglicher Weise, indem er sich vor ihm niederwarf und sprach: »Das Lob sei Gott für seine zahllosen Hulderweisungen!« Hierauf rief er den Wesir Schimâs und sprach zu ihm: »Wisse, Schimâs, die Gelehrten haben mir meinen Sohn hergebracht und mitgeteilt, daß er sich alles Wissen angeeignet hat, und daß es kein Wissensgebiet gäbe, das sie ihn nicht gelehrt hätten, so daß er hierin alle Früheren überträfe. Was sagst du dazu, Schimâs?« Da warf sich der Wesir vor Gott, dem Mächtigen und Herrlichen nieder und sprach, dem König die Hand küssend: »Der Hyazinth, auch wenn er in dem festesten Fels steckt, will leuchten wie eine Lampe, und dieser dein Sohn ist solch ein Edelstein. Seine Jugend hat ihn nicht gehindert ein Weiser zu werden, und gelobt sei Gott für das, was er ihm beschert hat! Morgen will ich so Gott will, der Erhabene, die vornehmsten Gelehrten und Emire versammeln und ihn in ihrer Gegenwart über sein Wissen ausfragen und examinieren.«

Neunhundertundneunte Nacht.

Als der König Dschalīâd die Worte seines Wesirs Schimâs vernommen hatte, befahl er den scharfsinnigsten Denkern und den intelligentesten Gelehrten und meisterhaftesten Weisen am nächsten Tage in das Schloß des Königs zu kommen, worauf sie sich alle am andern Tage am Thor versammelten. Nachdem ihnen der König die Erlaubnis zum Eintritt erteilt hatte, erschien der Wesir Schimâs und küßte dem Prinzen die Hände, worauf sich der Prinz erhob und vor Schimâs 142 niederwarf. Da sagte Schimâs zu ihm: »Es geziemt sich nicht dem jungen Löwen sich vor einem der wilden Tiere niederzuwerfen, ebenso wie es sich nicht für das Licht schickt sich mit der Finsternis zu verbinden.« Der Prinz versetzte: »Wenn der junge Löwe den Wesir des Königs erblickt, wirft er sich vor ihm nieder.« Hierauf sprach Schimâs: »Sag' mir, was ist das Ewige, das Absolute? Welches sind seine zwei Existenzformen, und welches ist von den beiden die dauernde?« Der Prinz erwiderte: »Das Ewige, das Absolute, das ist Gott, der Mächtige und Herrliche, dieweil er der erste ist ohne Anfang und der letzte ohne Ende. Seine beiden Existenzformen aber sind die Welt und das Jenseits, und die ewige dieser beiden Existenzformen, das ist die kommende Seligkeit.« Schimâs erwiderte: »Du hast recht geantwortet und ich nehme deine Worte an; jedoch wünschte ich auch noch von dir zu hören, woher du weißt, daß eine der beiden Existenzformen Gottes die Welt und die andere das Jenseits ist.« Der Knabe entgegnete: »Weil die Welt erschaffen ward und nicht aus einem andern existierenden Ding entstand; ihr Ursprung ist deshalb auf das erste Sein zurückzuführen, nur daß es eine schneller Vergänglichkeit unterworfene Erscheinung ist, deren Werke Vergeltung erfordern; und dies wiederum verlangt die Wiederkehr des Vergänglichen im Jenseits, der zweiten Existenzform.« Schimâs erwiderte: »Du hast recht geantwortet, und ich nehme es von dir an; jedoch möchte ich von dir hören, woher du weißt, daß die kommende Seligkeit die dauernde der beiden Existenzformen ist.« Der Knabe versetzte: »Ich weiß dies daher, weil es die Stärke der Belohnung ist für die Werke, die der ohne Anbeginn Ewige eingesetzt hat.« – »Nun sag' mir, welche Leute auf Erden sind wegen ihrer Handlungen am meisten zu rühmen?« – »Die, welche ihr jenseitiges Wohlergehen ihrem irdischen vorziehen.« – »Und wer ist's, der sein jenseitiges Wohlergehen seinem irdischen vorzieht?« – »Der, welcher weiß, daß er in einem vergänglichen Haus 143 wohnt, und daß er nur zur Vergänglichkeit erschaffen ist und hernach zur Rechenschaft gezogen wird. Lebte einer nämlich einig auf Erden, so würde er die Welt nicht dem Jenseits vorziehen.« – »Nun sag' mir, kann ein Jenseits ohne Diesseits existieren?« – »Wer kein Diesseits gehabt hat, kann auch kein Jenseits haben; und ich vergleiche die Welt, ihre Bewohner und den Ort, zu dem sie ziehen, mit Hörigen, denen ein Emir ein enges Haus erbaut, und denen er, nachdem er sie darin untergebracht hat, befohlen hat eine bestimmte Arbeit zu verrichten, indem er jedem von ihnen eine bestimmte Frist festsetzte und ihnen einen Aufseher gab. Wer nun sein Werk verrichtet hat, den führt der Aufseher aus dem engen Haus heraus, wer aber seine Arbeit in der ihm festgesetzten Frist nicht verrichtet hat, der wird bestraft. Während sie nun ihre Arbeit verrichten, sickert für sie Honig aus den Ritzen des Hauses und, sobald sie von dem Honig gegessen und seine Süße geschmeckt haben, beginnen sie das ihnen gebotene Werk zu vernachlässigen und werfen es hinter ihren Rücken, indem sie die Enge und Kümmernis, in der sie sich befinden, geduldig ertragen, trotzdem sie die Strafe kennen, zu der sie ziehen, und sich mit der armseligen Süßigkeit begnügen; der Aufseher aber führt jeden, sobald sein Termin abgelaufen ist, aus dem Haus. So wissen wir, daß die Welt eine Stätte ist, in der die Blicke geblendet werden, und daß jeder ihrer Bewohner einen festgesetzten Termin hat; wer nun die geringe Süßigkeit der Welt findet und sich mit ihr abgiebt, der gehört zu den Verlorenen, dieweil er sein irdisches Wohlergehen dem jenseitigen vorzieht; wer aber sein jenseitiges Glück seinem irdischen voranstellt und sich nicht an diese winzige irdische Süßigkeit kehrt, der gehört zu den Seligen.« – »Ich habe deine Worte über das Diesseits und Jenseits vernommen und nehme sie an; jedoch sehe ich, daß über den Menschen zwei Herren gesetzt sind; beide soll er zufrieden stellen, wo doch beide entgegengesetzter Art sind. Macht sich der Mensch daran, seinen Bedürfnissen nachzugehen, so 144 schadet das seiner Seele im Jenseits; und so er dem Jenseits nachstrebt, schadet es seinem Leib; und so vermag er nicht beiden einander widersprechenden Herren zu gleicher Zeit zu dienen.« – »Wer seinen irdischen Bedürfnissen nachgeht, der stärkt sich für das Jenseits; Diesseits und Jenseits kommen mir in dieser Hinsicht vor wie ein gerechter und ein ungerechter König.«

 


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