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Ferner erzählt man, daß in alten Zeiten, und längst entschwundenen Tagen ein mächtiger König im Lande Indien lebte, von hoher Statur, schönem Gesicht und Charakter und von edler Natur, ein Wohlthäter der Armen, der seine Unterthanen und das ganze Volk seines Königreiches liebte. Sein Name war König Dschalīâd, und unter seiner Hand standen in seinem Königreiche zweiundsiebzig Könige, in seinen Städten waren dreihundertundfünfzig Kadis, und er hatte siebzig Wesire, über deren je zehn er einen Oberwesir gesetzt hatte. Sein Großwesir aber war ein Mann, Namens Schimâs, dessen Leben zweiundzwanzig Jahre zählte, ein Mann von schönem Wesen und guten Anlagen, von gefälliger Rede und verständig in der Antwort; erfahren in allen Geschäften, weise, überlegt und ein Häuptling bei seinen jungen Jahren und kundig in allen Wissenschaften und Bildungsgegenständen. Und der König liebte ihn sehr und war ihm wegen seiner Beredsamkeit und Tüchtigkeit in der Regierungskunst sowie wegen der ihm von Gott verliehenen Barmherzigkeit und Herablassung zu den Unterthanen zugethan. Denn der König 110 war ein gerechter Herrscher und ein Schirmherr seiner Unterthanen, der Groß und Klein mir beständiger Huld umfaßte, sie in geziemender Weise regierte, ihnen Geschenke erteilte, für ihre Ruhe und Sicherheit sorgte und allen Unterthanen die Abgaben leicht machte. Er liebte Groß und Klein, waltete über ihnen in Güte und Fürsorge und regierte sie so trefflich wie keiner zuvor. Bei alle dem aber hatte ihm Gott, der Erhabene, kein Kind geschenkt, und dies bedrückte ihn und das Volk seines Königreiches. Da traf es sich, daß der König eines Nachts zu Bett lag, von Gedanken gequält über den Ausgang der Sachen seines Königreiches, bis er vom Schlaf überwältigt ward und nun träumte, daß er auf die Wurzel eines Baumes Wasser goß. –
Neunhundertste Nacht.
Um diesen Baum standen viele andere Bäume, und mit einem Male stieg ein Feuer aus jenem Baum auf und verbrannte alle Bäume, die rings um ihn standen. Da erwachte der König in Furcht und Schrecken aus seinem Traum und rief einen seiner Pagen, zu dem er sagte: »Geh' schnell fort und hole mir den Wesir Schimâs her.« Infolgedessen eilte der Page zu Schimâs und sprach zu ihm: »Der König ruft dich zu dieser Stunde, da er erschreckt aus seinem Schlaf erwacht ist, weshalb er mich zu dir sendet, daß du sofort bei ihm erscheinst.« Als Schimâs des Pagen Wort vernahm, erhob er sich unverzüglich und machte sich zum König auf; als er bei ihm eintrat und ihn auf seinem Bett sitzen sah, warf er sich vor ihm nieder, indem er ihm Ruhm und Glück in ewiger Dauer wünschte, und sprach zu ihm: »Gott betrübe dich nicht. o König! Was hat dich heute Nacht beunruhigt, und weshalb entbietest du mich so eilig zu dir?« Da gestattete ihm der König sich zu setzen und erzählte ihm, nachdem er sich gesetzt hatte, seinen Traum, indem er zu ihm sprach: »Ich träumte heute Nacht einen Traum, der mich mit Schrecken erfüllte; es war mir nämlich, als ob ich Wasser 111 auf die Wurzel eines Baumes goß, um den viele andere Bäume standen; mit einem Male aber stieg aus der Wurzel jenes Baumes ein Feuer empor, das alle Bäume, die rings umher standen, verbrannte. Da entsetzte ich mich davor und erwachte, von Schrecken erfaßt, worauf ich dich wegen deiner großen Kenntnisse, deiner ausgebreiteten Gelehrsamkeit und reichen Einsicht zu mir rufen ließ.«
Da ließ der Wesir Schimâs sein Haupt für eine Weile zu Boden hängen; alsdann lächelte er, so daß der König ihn fragte: »Was ist deine Meinung, Schimâs? Sprich die Wahrheit und verheimliche mir nichts.« Da antwortete ihm Schimâs und sprach zu ihm: »O König, siehe, Gott der Erhabene, erfüllt dir deinen Wunsch und kühlt dein Auge; denn die Sache dieses Traumes verheißt alles Gute, und zwar wird dir Gott, der Erhabene, einen Sohn schenken, der das Reich von dir nach einem langen Leben erben wird. Jedoch wird noch etwas anderes eintreten, das ich dir jetzt nicht deuten möchte, wo die Zeit zu einer Deutung dieser Sache nicht günstig ist.« Der König freute sich hierüber mächtig, seine Fröhlichkeit wuchs, während seine Furcht schwand, und guter Dinge sprach er: »Wenn die Sache nach der trefflichen Auslegung dieses Traumes sich so verhält, so gieb mir die ganze Deutung, wenn die passende Zeit hierfür gekommen ist; denn das, dessen Deutung heute nicht ansteht, mag mir gedeutet werden, wenn seine Zeit gekommen ist, damit meine Freude vollkommen wird, da ich hierin nichts anderes suche als Gottes Wohlgefallen, – Preis Ihm, dem Erhabenen!«
Als Schimâs sah, daß der König nach der ganzen Deutung des Traumes verlangte, wies er ihn unter einem Vorwand ab; der König aber rief nun die Sterndeuter und alle Traumausleger seines Reiches und erzählte ihnen seinen Traum, indem er zu ihnen sprach: »Ich wünsche, daß ihr mir seine wahre Deutung gebt.« Da trat einer von ihnen vor und bat den König um Erlaubnis zu reden; und als der König es ihm gestattet hatte, sprach er: »Wisse, o König, 112 dein Wesir Schimâs ist nicht etwa unvermögend dir diesen Traum zu deuten; vielmehr scheute er sich davor dein Herz zu beunruhigen, weshalb er dir nicht die ganze Deutung des Traumes gab; so du mir jedoch zu sprechen erlaubst, so spreche ich.« Und der König versetzte: »Sprich, o Deuter, ohne Scheu und rede die Wahrheit.« Da sprach der Deuter: »Wisse, o König, es wird von dir ein Knabe ausgehen, der nach einem langen Leben von dir das Königreich erben wird; doch wird er nicht in deinem Wandel gegen die Unterthanen wandeln, sondern wird deine Vorschriften übertreten und deine Unterthanen vergewaltigen; und es wird ihm ergehen, wie es der Maus mit der Katze erging; und ich nehme meine Zuflucht zu Gott, dem Erhabenen!« Nun fragte der König: »Wie ist die Geschichte der Katze mit der Maus?« Und der Deuter sprach: »Gott verleihe dem König langes Leben!