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Der Zug hält an der Grenze. Die Paßrevision ist vorbei, die Zollrevision steht noch bevor. Wie viele Mittel haben sich doch die Menschen ausgedacht, um sich gegenseitig zu quälen! Große solide Hände durchwühlen gründlich Kleider, Hüte und Wäsche, während gutturale Stimmen fragen: »Haben Sie Tabak in den Koffern? Oder Lebensmittel? Oder Gold?« Keine dieser sinnreichen Hypothesen erweist sich als begründet; man gestattet uns, wieder in den Expreß zu steigen. Aber noch eine letzte Formalität ist zu ordnen, bevor wir weiterfahren dürfen. Ein Bediensteter eilt durch die Durchgangswagen; er bleibt bei jedem Coupé stehen, und von jeder Glastüre reißt er sorgfältig den Papierstreifen ab, der Raucher oder Nichtraucher besagt. Anstatt dessen klebt er einen neuen auf, der Kúráci oder Nekúráci lautet. Die Ehre des Babelturmes ist gerettet, und wir dampfen endlich in die Tschechoslowakei hinein. Wenn der Zug in sechs Stunden wieder an die österreichische Grenze kommt, wird ein neuer Bediensteter durch die Korridore der Durchgangswagen gehen, bei jeder Coupétüre stehenbleiben, die Papierstreifen mit Kúráci und Nekúráci sorgsam abreißen und neue mit Raucher und Nichtraucher anbringen.
Es lebe der Turm!
Aber wir rollen also durch die tschechoslowakische Republik, die einstmals Böhmen hieß und auf französisch Bohême. Jetzt sind Frankreich und Böhmen alliiert, aber die folgende Geschichte wird ganz ungeniert in dem letzteren Lande erzählt, ohne das gute Einvernehmen zu erschüttern:
Ein großer französischer Heerführer, dessen Name sich auf Koffer reimt, war eingeladen, die neue Schwesterrepublik zu besuchen und ihre Truppen zu inspizieren. Er reiste ab, passierte Deutschland bei herabgelassenen Gardinen und kam so allmählich an die alliierte Grenze. »Herr Marschall,« sagte sein Adjutant, »jetzt sind wir in Böhmen!« (Ja, er sagte nicht: »Jetzt sind wir in der Tschechoslowakei«, sondern er sagte: Nous voilà en Bohême!«) Der Marschall rollte die Fenstervorhänge hinauf, sah hinaus und konstatierte, daß der Zug durch eine Landschaft fuhr, die Häuser aufwies, zum Teil aus Holz, zum Teil aus Ziegelsteinen. Dieser Anblick erfüllte ihn mit Verwunderung. »Sind wir in Bohême!« rief er aus. »Aber die Leute wohnen ja in Häusern! Ich glaubte, daß les Bohêmiens in Zeltlagern wohnten!
Es war die diskrete Aufgabe des Adjutanten, dem Marschall zu erklären, daß nicht alle Bohêmiens Zigeuner sind.
Aber nun reisen wir also in den Spuren des großen Heerführers und genießen denselben Anblick wie er: Holzhäuser und Steinhäuser, Wohnhäuser und Fabriken, weitgedehnte Äcker und gewaltige Zuckerrübenfelder. Es ist eine üppige Landschaft, eine reiche Landschaft, aber wenn man gerade aus der Sächsischen Schweiz kommt mit den rostbraunen, burgenähnlichen Sandsteinwänden längs des Flußtals der Elbe, kann man dies hier gerade keine inspirierende Gegend nennen. Die Orte, an denen wir vorbeifahren, tragen deutsche Namen an den Mauern. Wie, um dagegen zu protestieren, wandert der Speisewagenkellner unaufhörlich durch die Korridore und ruft: »Kava, Kava!« Hält der Zug an einer Station, geht ein Mann über den Perron und ruft: »Piva, Piva!« Es wird uns klar, daß Kava Kaffee ist, aber was ist Piva? Ein Wort gibt die Lösung: Piva scheint aus Plzen zu kommen; Plzen gleicht Pilsen genügend, damit Piva Bier sein muß. Und es ist Bier.
Nach dreistündiger Reise beginnen die Häuser dichter zu werden, und plötzlich fährt der Zug in einen Bahnhof ein, der, im Gegensatz zu Pilsen, sein i behalten durfte: Den Wilsonbahnhof, oder in der Ursprache Nádrazi Wilsonovo. Hier stieg also vor fünf Jahren der transozeanische Messias aus seinem Salonwagen, die Akten des neuen Bundes unter dem Arm, bereit, die letzte Hand an den Plan der Zeitalter zu legen, umhuldigt auf seinem Wege mit Blumen und ausgebreiteten Tüchern ... Was ist von seiner Herrlichkeit übrig? Ach, zu allen Zeiten ist die Rolle des Messias eine schwere Rolle gewesen, eine dornenvolle Rolle, aus der es schwer war, nicht zu fallen. Dieser Bahnhof ist einer der wenigen in Europa, wo der Ausgesandte des demokratischen Adventismus noch aussteigen und seinen Namen unversehrt finden könnte, sogar die Vokale eingerechnet, die sonst gegen die Nationalinstinkte verstoßen; dieser Bahnhof ist einer der wenigen, wo man noch Blumen für ihn übrig hätte. Auf dem Bahnhof von Rom, von dem er einstmals als ein triumphierender Cäsar dieser Welt zum Kapitol hinaufzog, um mit Lorbeeren gekrönt zu werden – auf dem Bahnhof von Rom würde er jetzt mit Steinen begrüßt werden. Und in Paris? Paris taufte auch eine seiner Straßen mit dem Bade der Wiedergeburt und nannte sie Avenue Wilson. Aber wie nennt das Volk sie jetzt? Avenue Maboule – und Maboule bedeutet einen närrischen Menschen.
Aber wir verlassen den Nádrazi Wilsonovo, wir treten auf einen großen offenen Platz, der von Häusern und Parks eingefaßt ist, und plötzlich sind wir taubstumm. Ringsum uns setzen Menschen mit Hilfe des Kehlkopfs den Äther in Schwingungen; andere Menschen fangen diese Schwingungen mit Hilfe der Ohren auf und scheinen ihnen eine bestimmte Bedeutung beizulegen; aber wir, die wir soeben auf dem Nádrazi Wilsonovo aus dem Zuge ausgestiegen sind, hätten ebensogut aus einer Jules Verneschen Bombe auf dem Mond aussteigen können. Und nicht genug damit, daß wir taub und stumm sind, wir sind auch blind. Als wir versuchen, die Straßentafeln, das Abcbuch der armen Kinder, zu buchstabieren, sind sie als Abcbuch unbrauchbar, wenigstens in rigoristischem Sinne, denn der Vokal a fehlt ebenso wie seine fünf Geschwister. Wohin das Auge blickt, sieht es nur Konsonanten. Sollte sich in ganz Prag kein Vokal auftreiben lassen? Doch, zu unserem Trost sehen wir plötzlich eine Tafel, auf der steht: Aaron Wokal, Bureau de Change. Dahin begeben wir uns.
Eine Sache ist uns von wahrheitsliebenden Forschungsreisenden, die vor uns in diesen Gefilden weilten, genau eingeschärft worden: »Reden Sie nicht Deutsch! Was Sie auch tun, reden Sie nicht Deutsch! Die Leute werden Ihnen im günstigsten Fall keine Antwort geben, im schlimmsten zu Handgreiflichkeiten übergehen!« Folglich sprechen wir Französisch, daß es nur so knattert und prasselt; aber als der Inhaber der Wechselstube endlich den Mund aufmacht, um zu antworten, ist alles, was er sagt:
»Excusez, ich spreche nicht Französisch, nur Deutsch. Was wünschen Sie, bitte?«
Wir erhalten die Aufschlüsse, die wir wünschen, und begeben uns in die Straßen Prahas. Wir wollen nicht glauben, daß die wahrheitsliebenden Forschungsreisenden, die wir um Rat gefragt haben, nur so aus dem hohlen Faß gesprochen haben, folglich parlieren wir überall Französisch oder Englisch, und überall antwortet man uns Deutsch. Trauer im Herzen, müssen wir uns endlich entschließen, die gewissenhaften Entdeckungsreisenden jenem Karlchen zuzugesellen, der wieder einmal gelogen hatte: man kann überall in Prag Deutsch sprechen, ja, es ist das einzige, was sich lohnt – aber (dieses Körnchen Wahrheit war in den Angaben der Forscher) es schadet nichts, wenn man zuerst ein bißchen Französisch oder Englisch spricht ... So ist nämlich die menschliche Natur.
Was ist erforderlich, damit eine Stadt schön ist? Eine Geschichte, und vielleicht womöglich eine Leidensgeschichte. Aus diesem Grund sehen Berlin und Prag so aus, wie sie aussehen – jedes in seiner Art. Prag hat all das, was Berlin fehlt: Patina, Profil und Perspektive. Berlin ist platt wie ein Telephonkatalog. Prag ist ein Epos in Stein (und Konsonanten). Aber seien wir nicht ungerecht. Wenn Berlin den Dreißigjährigen Krieg gegen die Schweden mitgemacht hätte, so würde es vielleicht in Berlin jetzt besser aussehen. Und wer weiß? Einige hundert Jahre nach der ersten japanischen Invasion Amerikas wird vielleicht sogar Chikago einigermaßen bewohnbar sein. Stolz darauf, der Nation anzugehören, die dazu beitrug, der Stadt Prag durch die Stürmung 1648 Patina zu verleihen, begeben wir uns auf den Hradschin oder in der Ursprache: Hradcany.
Die alte Räuberburg ist wirklich imponierend, wie sie da von ihrer Höhe auf die Stadt und das geschlängelte Flußtal der Vltava hinabschaut. Eine Wirrnis von Bauten, ein kleiner Wald von Türmen, mächtige Fassaden und Burghöfe und Fenster in unendlichen Reihen. Aus einem dieser Fenster wurde der blutigste, verheerendste und langwierigste Krieg geboren, der Europa vor Napoleon und 1914 verwüstet hat. Am 23. Mai 1618 wurden nämlich drei Herren durch dieses Fenster hinausgeworfen; und da die Folgen aller menschlichen Handlungen sich wie die Kreise nach einem Stein, der ins Wasser geworfen wird, erweitern und erweitern, war der Hinauswurf dieser drei Herren genug, um den Dreißigjährigen Krieg hervorzurufen, der Deutschland zwei Drittel seiner Bevölkerung kostete, und so gut wie alles, was es an materiellen Reichtümern besaß (dies, trotzdem sie auf einen Misthaufen fielen und keinen nennenswerten Schaden nahmen). Ja, die Defenestrierung der drei Herren (wie es in der Diplomatensprache genannt wird) war genug, damit ein armes Land hoch oben im Norden sich dreißig Jahre später als Besitzer großer Teile der südlichen Ostseeküste sah, des Codex Argenteus und eines Rufs in Mitteleuropa, so schlecht, daß die kleinen Kinder, wenn der Name des Landes genannt wurde, sofort verstummten und mit zarten Kinderstimmchen flüsterten:
»Gott behüte einen jeden,
Vor den Türken und den Schweden.«
Wir sehen uns mit Respekt ein solches Fenster an und den Rathaussaal, wo es sich befindet. Der Misthaufen unten ist beseitigt, und eine Defenestrierung würde für den zunächst Betroffenen jetzt noch unangenehmere Folgen haben als das letztemal. Der Führer schildert uns die Missetaten unserer Vorfahren und vergißt nicht, uns das Porträt (nach Velasquez) des spanischen Königs Philipp zu zeigen, der sich gleichzeitig mit Herrn von Königsmarck in Prag einfand; das Porträt zeigt ihn mit einem Papier in der Hand, und das Papier ist ein Ultimatum an die Schweden, die Stadt sofort zu verlassen. Diesmal taten sie es mit unversehrtem Codex Argenteus. Ob uns, ihren späten Nachkommen dasselbe beschieden sein wird, ist zweifelhaft, denn die tschechische Krone steht hoch, und die Preise im Lande gleichfalls. – Der Führer geleitet uns weiter. Er zeigt uns den Landtagssaal mit geräumigen Sitzplätzen für den Adel, die Geistlichkeit und die Majestäten, aber nur Stehplätzen für die böhmische Bürgerschaft, die insgesamt eine – sage eine – Stimme hatte. Seine Sprache ist seltsam. Er verlegt alle Akzente so weit nach rückwärts als nur möglich: dies ist eine Kápelle; hier ist das Múseum; das ist hístorisch! So allmählich verlassen wir seine Region und gehen weiter zu der großen gotischen Kathedrale – der St.-Veit-Kirche – wo wir von einem Geistlichen mit einem Ehering am Finger zwischen den fünfhundertjährigen Sehenswürdigkeiten herumgeführt werden. Wir wissen, daß die tschechische Geistlichkeit sich nach dem Kriege gegen Roms Gebot eines asketischen Lebens auflehnte, und wir möchten gerne Details hören, wie es in dieser Sache gegangen ist. Aber der Geistliche, der überaus beredt ist, wenn es gilt, die Kämpfe des heiligen Wenzeslaus zu schildern, wird plötzlich schwerhörig, als es sich um weniger antiquierte Konflikte handelt. Im übrigen kann uns die St.-Wenzels-Kapelle die Frage nach der Keuschheit der tschechischen Geistlichen vergessen lassen. Die hohen Wände der Kapelle bestehen ausschließlich aus edlen tschechischen Steinen, Granat, Chrysopras, Nephrit und Onyx! Es schimmert in der Kapelle, als wäre man im Inneren eines geschliffenen Edelsteins. Hier ruht der Einführer des Katholizismus in Böhmen in einem gewaltigen Sarkophag; rings um ihn schildern die Wände sein Leben und seinen Tod durch Mörderhand, und darüber werden die böhmischen Kronjuwelen verwahrt, die augenblicklich dienstfrei sind. St. Wenzeslaus' Priester (mit dem Ehering am Finger) führt uns weiter in der Kathedrale herum. Er zeigt uns eine Silberstatue aus zweitausend Kilo reinem Silber, die uns aus anderem als monetarischem Gesichtspunkt kalt läßt, und er zeigt uns Sarkophag um Sarkophag, in denen Böhmens alte berühmte Geschlechter ruhen – die Martinic, die Lobkowic und wie sie alle heißen. Plötzlich zucke ich bei einem Namen zusammen.
»Wie sagten Sie – der Sarkophag der Grafen Waldstein?«
»Jawohl! Grabkápelle von den Grafen Waldstein!«
»Wissen Sie, wer sein Leben bei den Grafen Waldstein beschloß?«
»Nein, mein Herr.«
»Casanova!«
Die Augen des Geistlichen zeigen keinerlei Verständnis (trotz des Aufruhrs gegen Roms Gebot der Askese). Ja, bei einem dieser tschechischen Herrn beschloß Gian Giacomo Casanova sein Leben! Und plötzlich muß ich inmitten der ehrwürdigen St.-Veit-Kathedrale an zwei Anekdoten über den berühmtesten aller Abenteurer denken. Es ist ein Graf Waldstein, der sie in einem Epilog zu den Memoiren erzählt, jener Graf, als dessen Bibliothekar er sich das Brot seines Alters verdiente. Es war zur Zeit des Ausbruchs der französischen Revolution. Der alte Hofschmarotzer Casanova, der selbst in einer Gosse in Venedig geboren war (oder sind in Venedig alle Gossen Kanäle?) – Casanova, der durch fünfzig Jahre die Mächtigen dieser Welt, denen er sich ebenbürtig fühlte, verachtet, aber umschmeichelt hatte – Casanova war kein Freund des Vormarsches der Gosse en corps. Er sah ihn mit tiefem Mißtrauen an. Auf dem Gute des Grafen Waldstein behielt er sich alle Rechte vor, die einem Edelmann zuerkannt wurden. Unter anderem war er etwas zugreifend gegenüber den jungen Mädchen auf dem Gute. Als die Eltern in gesammeltem Trupp anrückten, um sich bei dem Gutsherrn zu beklagen, wollte Casanova seinen Ohren nicht trauen. Doch, ja, es war wahr: man beklagte sich über seine, eines alten Hofmanns unschuldige Zerstreuung. Voll Abscheu wandte er sich an seinen Arbeitgeber und rief:
» Ce sont des rèvolutionnaires!«
Nicht lange darauf fühlte er sein Ende nahen. Nach bester Achtzehnterjahrhundertsitte versammelte er die Schloßbewohner um sein Bett, wartete, bis sie vollzählig waren und der rechte Augenblick gekommen war, um dann seine sorgsam vorbereiteten letzten Worte von sich zu geben:
»Großer Gott, und ihr, Zeugen meines Todes, ich habe als Philosoph gelebt, ich sterbe als Christ!«
Wir verlassen die St.-Veit-Kathedrale. Aus dem letzten Burghof des Hradschin – es sind alles in allem drei – werden wir in den Prunk- und Majestätssaal geführt, wo Präsident Masaryk als Erbe Franz Josefs und der vielen anderen österreichischen Eindringlinge in seinem Lande Festlichkeiten abhält. Es ist ein gewaltiger Saal – hundertzwanzig Meter lang, sechzig breit, dreißig hoch – mit einem Eichenboden, der so fein gebohnt ist, daß er nur in großen Filzpantoffeln betreten werden darf (von uns). Wir schreiten auf dem blinkenden Boden wie in Schneeschuhen herum; ein dritter Führer hat die Leitung übernommen, und seine erste Frage, nachdem er uns inspiziert hat, ist:
»Sind wir alle deutsch? Keine Behmischen da?«
Sein Tonfall auf Behmisch ist überaus beredt. Er zeigt uns den Saal, gibt seine Maße an und deutet auf eine Loge, wo Kaiser Franz seinerzeit entgegennahm, was dem Kaiser an Huldigung gebührte:
»Jetzt dem Herrn Präsidenten seine Loge!«
Sein Tonfall ist noch immer überaus beredt und antitschechoslowakisch. Aber als einer der Besucher ihn in kaiserlich königlichen österreichischem Papiergeld honorieren will, antwortet er kalt:
»Darf ich um behmisches Geld bitten?«
Sein Royalismus geht nur bis zur Westentasche.
Reicht eigentlich irgendeiner weiter?
Auf dem Rathausplatz – Staromestske namestí – gibt es viele Sehenswürdigkeiten. Da ist die berühmte Rathausuhr, die einmal in der Stunde schlägt, wobei sich alle zwölf Apostel in einer Prozession in einer Nische zeigen, zum Trost und zur Erbauung der Gläubigen. Da ist eine mächtige Statue von Huß, den die Kirchengeschichte als einen der Vorläufer der Reformation nennt. Folglich wurde er verbrannt und hat jetzt sein Denkmal, eine Gruppe von imponierender Wirkung, allerdings mit starken Reminiszenzen an die »Bürger von Calais«. – Schließlich ist da die Teynkirche mit Tycho Brahes Grab – ein prachtvoller alter Dom mit schwindelnd hohen Gewölben, wo das Licht von hoch oben in jenen breiten, stillen Bändern einfällt, die mich immer an Dorés Bibel denken lassen. Ein schwarzbärtiger Führer führt uns herum – er führt uns direkt zu Tycho Brahes Grab, denn die Kirche wird wohl nur seinetwegen besucht, und also vermutlich meistens von Skandinaviern. Der Schwarzbärtige hat sogar aus diesem Anlaß Skandinavisch gelernt. Er deutet geschäftig auf das Riechorgan des alten Astrologen und ruft:
»Naese! Naese! Silbernaese!«
Der Herr von Uranienborg soll ja im Besitz dieser ziemlich ungewöhnlichen Prothese gewesen sein, die übrigens an der Statue des Sarkophags deutlich markiert ist. Was den schwarzbärtigen Führer betrifft, so erinnert seine Nase weniger an das Silber als an den Rubin. Oberhalb der Statue steht ein Motto:
Non fasces, ne copes, sola artis sceptra perennat.
Weder Kriegsruhm, noch Reichtum, nur die Macht der Kunst ist ewig. Aber jetzt lesen ja neue Astrologen auch den Untergang der Kultur aus den Sternen. Wir wollen hoffen, daß der alte Däne recht hatte.
Noch eine »große« Sehenswürdigkeit erübrigt in Prag, die letzte Ruhestätte eines Volkes, das weder an die Ewigkeit der fasces, noch der ars geglaubt hat, des Krieges oder der Kunst, wohl aber an die der copes.
Das Entree zu dem alten Judenfriedhof ist eine Enttäuschung – ein enges Gitter in einer trivialen Straße – aber das Innere ist um so stimmungsvoller. Auf dieser engen Stätte sind die Kinder des verfolgten Volkes durch dreizehnhundert Jahre zur ewigen Ruhe gebettet worden. Zwölftausend Grabsteine stehen hier dicht, dicht wie die Ähren eines Feldes. Sie sind mit Schriftzeichen bedeckt – jenen seltsamen hebräischen Schriftzeichen, die die Gedanken zu Urzeitprozessionen unter flammenden Wüstensternen führen, zu Karawanen, mit Gold und Räucherwerk beladen, zu Salomo und der Königin von Saba. Aber die Steine tragen nicht nur diese Inschriften; auf den meisten befindet sich auch das Bild des einen oder anderen Tieres, besten Namen der Besitzer zu Lebzeiten getragen hat: ein Hahn, ein Löwe, ein Fisch – Hahn, Löw, Karpeles. Zuweilen tragen die Steine eine ausgemeißelte Weintraube; das ist das Zeichen, daß ein gelehrter Mann, ein Rabbiner darunter ruht, denn nach dem Talmud ist die Weintraube das Symbol der Weisheit. Auf den Grabsteinen liegen schließlich kleine Kieselsteine, bald mehr, bald weniger. Unser Führer fragt uns, ob wir wüßten, was das sei.
Nein.
Der strenggläubige Jude legt nie Blumen auf ein Grab, er legt Steine hin, um den Toten zu ehren. Je mehr Steine, ein desto geachteterer Mann. Hier – er zeigt ein Grab, auf dem sich die Kieselsteine zu förmlichen Bergen getürmt haben – hier liegt das Opfer eines Pogroms. Er ist der geehrteste auf dem ganzen Friedhof!
Auf irgendeine unerfindliche Weise errät der Führer unsere Nationalität und beginnt von dem Vorgehen unserer Vorväter in Prag zu erzählen. Sie drangen bis in die letzte Ruhestätte Israels, als sie von Studenten und Spaniern aufgehalten wurden.
»Ja ja, das war der Schwedenkrieg!«
Also gibt es noch einen Krieg, der der Schwedenkrieg heißt! Wir versöhnen das schlummernde Israel mit einigen Kronen für den Wächter und gehen. Wir haben genug von jener Weisheit, die in Kirchen und Museen erworben wird. Die talmudische Weisheit, deren Symbol die Weintraube ist, lockt uns.
Die tschechische Rasse ist schön, von jenem träumerischen, leidenschaftlichen Schönheitstypus, der den Slawen eignet, aber ohne die Unzuverlässigkeit, um nicht zu sagen, Falschheit, die den östlicheren Zweigen des Volksstammes ausgeprägt ist. Hingegen haben die Tschechen sicherlich eine andere Eigenschaft mit diesen östlicheren Vettern gemein, nämlich die Unpraktischkeit. Man erhält unleugbar einen anderen Eindruck, wenn man das geschäftige Leben und Treiben auf den Straßen sieht, aber ich bin so frei, zu glauben, daß dieser oberflächliche Eindruck trügt, und ich habe persönlichen Anlaß, es zu glauben. Ich traf einen Geschäftsmann beruflich und machte ihm mein Kompliment über den imponierenden Betrieb, den er mir da zeigte. Er blieb stehen, sah mir in die Augen und rief:
»Mein Herr! Ich bin fünfunddreißig Jahre, und ich bin eine nervöse Ruine! Warum? Weil ich all das, was Sie da gesehen haben, allein besorgen muß, verstehen Sie: allein! Wenn ich es nicht mache, versagt das Ganze. Wir Tschechen sind arbeitsam genug, aber wir können nicht organisieren! Mein Geschäft ist das größte in seiner Art hierzulande, und es geht, solange ich jedes Detail überwachen kann – aber sonst? Wer doch einen Deutschen als zweiten Direktor nehmen könnte – aber das ist nicht zu machen, nein, die Leute würden sich nicht darein finden, nie!«
Übrigens muß man unpraktisch und wirr im Kopfe werden, wenn man eine solche Sprache wie die tschechische reden, schreiben und lesen lernen soll. Man lese den Satz, der über diesem Artikel steht! Er enthält vier Worte und keinen einzigen Vokal. Er bedeutet: steck den Finger in den Hals, und das ist gutes Tschechisch – das heißt sprachlich gesehen, denn ich glaube nicht, daß er im gebildeten tschechischen Umgangsleben viel zur Anwendung kommt. Ein solcher Satz ist nichts Einzigdastehendes, es kann dutzendweise ähnliche Sähe geben, bei denen die Worte eine einzige Reihe von Konsonanten mit oder ohne umgekehrte Zirkumflexe sind. Aber meistens mit, denn der tschechische Schönheitssinn fühlt sich nicht befriedigt, wenn nicht wenigstens jeder zweite Buchstabe seinen Zirkumflex hat.
Ich beschloß, dem bekümmerten Verleger einen guten Rat zu geben.
»Wenn alles andere Ihnen schief geht«, sagte ich, »der Verlag, die Buchdruckerei, das Zeitungsunternehmen und die Kunstgalerie, dann habe ich eine gute Idee: Gründen Sie eine Zirkumflexfabrik! Die wird hundert Prozent abwerfen, und sie kann nie Konkurs machen, solange die tschechische Sprache besteht Er scheint den Rat nicht ad notam genommen zu haben. Wenigstens ist der Export ins Ausland noch nicht in Gang gekommen. Denn Zirkumflexe zu den tschechischen Worten dieses Artikels waren nicht aufzutreiben. Anm. d. Setzers..«