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Auf dem Trockenen

1

Wenn dein Turban die Sonne spiegelt, singt Hafis, so überhebe dich nicht! Bedenke, daß der Diwan sich keineswegs rascher abnützt als dein Leibrock! Der Philosoph Volpitius, der diese Worte in nationalistischem Geiste kommentiert, legt sie so aus: alles geht noch an, solange nur deine Kopfbedeckung fettig ist; aber zittere, wenn die Umhüllung deiner Beine zu glänzen beginnt.

Dies ist kein Jubiläumsartikel, aber in einem Januar vor elf Jahren paßten Hafis' Worte haargenau auf mich. Mein Turban spiegelte die Sonne, und mein Leibrock hatte weit weniger Abnützungswiderstand gezeigt, als die Diwans, mit denen er in Berührung gekommen war. Wenn das erstere irgendwelche Überhebung in mir hervorrief, so verschwand diese sofort bei dem Gedanken an das letztere. Die Spaziergänge, die ich unternahm, unternahm ich in der Dämmerung, um meine Mitmenschen weder mit meiner oberen noch mit meiner unteren Person zu blenden. Aber ich unternahm nicht viele Spaziergänge; denn die frische Bergluft machte zu guten Appetit. Ich lag, so lange ich konnte, in meinem großen französischen Bett, und unterdessen versuchte ich Ave atque Vale zu übersetzen, die Perle unter den Elegien der englischen Literatur.

I among these, I also, in such station as when the pyre was charred and piled the sods and offering to the dead made and their gods the old mourners had, standing, to make libation.

Das war eine Aufgabe, die Zeit und Gedankenarbeit erforderte, aber ansonsten nichts, und die mir infolgedessen vortrefflich paßte. Gegen vier Uhr nachmittags ging der Himmel draußen von hellblau in dunkle Perlmutterschattierungen über; unten auf der Straße riefen die Zeitungsjungen die neueingetroffenen Abendblätter aus Mailand aus, deren Namen sie in einem einzigen Wort aussprachen: Stampacorriereilsecolo! Stampacorriereilsecolo! Und im Nebenzimmer begann ein heiseres Keuchen, das sich nur mit dem des Flußpferdes vergleichen läßt, wenn es sich im Bassin herumwälzt. Da wußte ich, daß es Zeit war aufzustehen. Das Keuchen kam von meinem Wirt, der Nachtkellner im Sportingklub war und folglich den ganzen Tag aus prosaischen Motiven im Bett lag, im Gegensatz zu mir, der dies aus poetischen Motiven tat. Wenn er endlich aufstand, vergaß er nie, mir einen Besuch abzustatten, aber auch dieser Besuch war von prosaischen Motiven diktiert; seine Gedanken kreisten um den Mietzins, und wenn ich einer Debatte über dieses abgedroschene Thema zu entgehen wünschte, mußte ich mich beeilen fertigzuwerden, um in das obere Stockwerk zu kommen. Dies tat ich. Ich bekleidete mich rasch mit meinem abgetragenen Leibrock und meinem glänzenden Turban, und auf Füßen, weicher als die des Kamels, schlich ich mich an der Türe des Nachtkellners vorbei, zu meinen Freunden im zweiten Stockwerk.

 

2

Meine Freunde im zweiten Stock waren um diese Zeit des Tages schon lange an der Arbeit gewesen. Als ich nach dem vereinbarten Signal eingelassen wurde, war das Zimmer blau von Zigarrenrauch und die Aschenschale voll von »Mégots«. Der Tisch war mit grünen Zeitungen und liniierten Schreibheften bedeckt. Frau Marthe saß auf einem Speisezimmersessel und schrieb, und aus dem Fauteuil diktierte Karl Eneberg Ziffern, Ziffern und wieder Ziffern – eine Kolonne nach der anderen.

»Gut geschlafen?« fragte Frau Marthe, während Karl Eneberg etwas knurrte, was ein Gruß oder auch ein Protest gegen meine Lebensweise sein konnte. Sein gewaltiger Körper füllte den Lehnstuhl restlos aus. Nach Belieben konnte man ihn mit einem Tiger oder einem Bären vergleichen. Die Ader an der linken Schläfe schwoll, und der graue Schnurrbart stand auf Halbmast. Ich merkte, daß der Tag keine Veränderung gebracht hatte, ich setzte mich so diskret als möglich auf den dritten letzten Stuhl, der zugänglich war und nahm die Beschäftigung mit der Perle unter den Elegien der englischen Literatur wieder auf.

I among these, I also, in such station ...

Wörtlich übersetzt konnte das bedeuten, daß ich, der ich mich unter diesen befand, in derselben Lage war wie sie. Wenn diese Übersetzung nicht poetisch getreu war, so war sie doch aus anderen Gesichtspunkten unbestreitbar wahr. Wir waren in demselben Schifflein, Karl Eneberg, Frau Marthe und ich. Wie lange konnte das Schifflein halten? Oder wie lange würde es dauern, bis die Besatzung anfing, sich gegenseitig zu zerfleischen? Oder bis sie den Haien zum Opfer fiel, die das Boot umkreisten?

Karl Eneberg beendete sein Diktat, warf seine schwarze Mégot weg und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, das hochgerechnet zwölf Quadratmeter maß. Wenn er so auf und ab ging, glich er mehr einem Bären als einem Tiger. Plötzlich blieb er vor mir stehen, durchbohrte mich mit den Augen und knurrte:

»Ist das Gedicht heute fertiggeworden?«

»Nein, es ist schwer.«

»Hm. Glänzende Zukunftsaussichten, was?«

»Ja, aber ich habe heute eine Novelle abgeschickt – von einem Bankbeamten, den ich Adamson genannt habe.«

»Wo hast du das Geld für das Porto hergenommen?«

»Von Neuhöfer.«

»Neuhöfer?«

»Der Schweizer Wirt im Palace. Du weißt, ich habe ihn in meiner Großmachtzeit getroffen – wir haben eine Nacht im Austria zusammen durchgetrunken. Aber er weigerte sich, mich als Kellner im Palace anzustellen.«

»Warum?«

»Die Augengläser.«

Karl Eneberg nickte. Das heißt: kann man diesen Ausdruck anwenden, wenn ein Kopf, der zirka einen Zentner wiegt, sich langsam senkt und hebt?

»Was kriegst du für diesen Adamson?«

»Zwanzig, dreißig Kronen, denke ich, wenn er angenommen wird.«

»Glänzende Aspekten, was?«

»Du hast natürlich recht. Aber ich pfeife auf das Ganze. Die Sonne scheint, und ich fühle mich zum ersten Male in meinem Leben als ein Mensch.«

»Aussichten für heute?«

»Nicht daß ich wüßte!«

Gerade da kam Frau Marthe aus dem Korridor herein, der das mit Unrecht so benannte Speisezimmer mit der mit Unrecht so benannten Küche verband. Die Wohnung war für ein Jahr gemietet – die Miete Gott sei Dank vorausbezahlt – und sie bestand aus Küche, Schlafzimmer, Speisezimmer, alles möbliert. Frau Marthe brachte eine Flasche Marc – französischen Branntwein – und einen Siphon. Ich sah den Herrn des Hauses vorwurfsvoll an. Wenn Geld da war, warum es dann für so etwas ausgeben? Wenn Kredit da war, warum dann nicht Essen auf Pump nehmen? Aber Karl Eneberg schenkte die Gläser voll und beantwortete meinen stummen Protest mit einem Zitat, das er liebte. Es stammte aus einer Abstinenzschrift. Die Kinder des Trinkers schreien nach Brot, aber der verlotterte Vater zieht anstatt dessen eine Flasche Schnaps aus der Tasche und sagt mit einem rohen Lachen:

»Nehmt das! Das ist besser als Brot!«

Wo Luther mit dem Donner des Gesetzes gegrollt hatte, ließ Meister Philipp die milden Schauer des Evangeliums träufeln. Die kleine sanfte Frau Marthe, die aus Meißner Porzellan gemacht schien, flüsterte tröstend:

»Heute abend bekommt ihr Kalbsbraten!«

Ich sah sie mißtrauisch an.

»Kalbsbraten! Wieso –«

Sie legte den Finger auf den Mund und verschwand ohne Erklärungen. Karl Eneberg gab sie mir über den Rand eines Glases Marc.

»Ich habe mein Viatique im Kasino bekommen, verstehst du! Aber nicht um Essen herbeizuschaffen, sondern um nach Berlin zu fahren.«

»Nach Berlin?« Ich war zu verblüfft, um mich so rasch in die Situation versetzen zu können – »was willst du in Berlin?«

»Ich habe endlich eine Antwort auf meine Annonce bekommen, siehst du, von einem Herrn Rosenbaum in Berlin. Er will zwanzigtausend Franken für mein System einsetzen, aber er tut es nicht früher, bis er es nicht gesehen hat! Darum reise ich nach Berlin. Wenn er meine Ziffern sieht, muß er einsehen, daß das System sicher ist! Frau Marthe und ich haben den ganzen Tag gerechnet, und mit dem heutigen Tag haben wir zweihunderttausend Nummern nach den Spiellisten durchgerechnet. Ich reise heute abend, und in zehn Tagen komme ich zurück. Mit zwanzigtausend Franken Kapital kann ich im Tag fünftausend gewinnen.«

»Fünftausend!«

»Das macht zweitausendfünfhundert Franken für Rosenbaum und ebensoviel für mich. Im Tage. Darum bekommst du heute abend Fleisch, mein Junge. Aber du mußt für Frau Marthe sorgen, solange ich weg bin. Prost!«

»Ich soll für Frau Marthe sorgen –«

»Das sollst du! Ich brauche jeden Sou meines Viatique, um nach Berlin zu kommen und dort standesgemäß aufzutreten. Kannst du Frau Marthe nicht für zehn Tage über Wasser halten?«

»Ich werde mein möglichstes tun«, stammelte ich. »Die gewöhnliche Diät ist ja nicht so kostspielig –«

»Nein, und heute abend bekommst du Kalbsbraten, um dich zu stärken!« lachte Karl Eneberg.

In diesem Augenblick kam Frau Marthe mit dem Kalbsbraten. Wir gingen mit Empfindungen zu Tisch, deren Wollust nur der ermessen kann, der längere Zeit gezwungen war, seinen Wanst – im besten Fall – mit jenen Schoten zu füllen, von denen die Schweine fressen. Und am Abend reiste Karl Eneberg dritter Klasse nach Berlin ab.

 

3

Die zehn Tage vergingen rasch, erstaunlich rasch. Von der Verantwortung angespornt, tat ich mein Bestes. Ich legte die Perle unter den Elegien der englischen Literatur ad acta, ich schrieb zwei Erzählungen, in denen ich den Leser in Schilderungen des phantastischen Luxus und des wahnsinnigen Genußlebens der Hauptstadt des Hasards schwelgen ließ; aber da sie keine sofortigen zehn Kronen einbringen konnten, sah ich mich nach anderen Auswegen um, um für mein Mündel und mich zu sorgen. Mit einer Kühnheit, die mich selbst in Erstaunen setzte, überlistete ich meinen Freund, den Nachtkellner. Der einzige Gegenstand in meinem Besitz, der bewirkte, daß er mich noch weiter da wohnen ließ, war mein Lederkoffer. Der stand unter dem Tisch in meinem Zimmer, in eine Umhüllung aus Leinwand eingekapselt, doch leer an Eingeweiden. Berechnend, daß der Nachtkellner sich nicht die Mühe nahm, jedesmal, wenn er mein Zimmer besuchte, den Überzug aufzuknöpfen, füllte ich besagten Überzug mit Büchern und Zeitungen und transportierte den Koffer zu meinem Freunde Viviani, dem einzigen Pfandleiher in Monte Carlo, der etwas anderes als Gold und Juwelen belehnte. Das brachte mir genug für das Porto der zwei Luxusschilderungen und für Essen für Frau Marthe und mich für sechs Tage. Als diese vorbei waren, restringierte ich vorsichtig die Büchereingeweide des Kofferüberzuges zugunsten der Tagespresse und versah eine Leihbibliothek mit neuen Attraktionen. Auf diese Art schlugen wir uns bis zum zehnten Tage durch. Ich begann mich holden Träumen von dem Mittagessen hinzugeben, das Karl Eneberg spendieren würde, wenn er in ein oder zwei Tagen zurückkam, zwanzigtausend Franken in der Tasche und mit der sicheren Aussicht auf zweitausendfünfhundert Franken tägliches Einkommen. Und, richtig, am Abend desselben Tages klopfte der Briefträger an, um einen Brief aus Berlin zu überreichen. Hurra! Das war die Nachricht, daß Karl Eneberg im Anzuge war! Der Brief war unfrankiert, was zeigte, daß er ihn Hals über Kopf aufgegeben hatte. Vielleicht kam er schon heute abend! Ich hatte noch fünfzig Centimes von dem Verkauf von »Claudine à l'école« übrig. Das reichte für das Strafporto. Frau Marthe öffnete den Brief, in froher Erwartung strahlend.

Was wir lasen, war dies:

»Rosenbaum ist ein galizischer Jude. Als er das System erlernt hatte, verschwand er aus Berlin. Ich sitze in Berlin fest, ohne einen Pfennig. Morgen werde ich vermutlich aus dem Hotel hinausgeworfen.

Karl Eneberg.«

Frau Marthe und ich sahen uns gegenseitig an. Kein Wort, das auch nur annähernd die Situation deckte, bot sich meinem knospenden Schriftstellertalent. Wer das erlösende Wort fand, war ein ganz gewöhnlicher Mensch, nämlich mein Hauswirt.

Denn als ich in meine Behausung hinunterkam, fand ich ihn mitten im Zimmer stehend, keuchend wie ein erbittertes Walroß. Der Kofferüberzug war aufgeknöpft, er stand in den Anblick seines Inhalts versunken, und er rief:

»Die Welt ist voll von Schwindlern! Schwindlern! Schwindlern!«

Er starrte mich aus Pupillen an, rot wie die Kirschen der Drinks im Sportingklub und fügte hinzu:

»Hinaus! Wohnen Sie, wo Sie wollen, aber nicht bei mir – rastaquouère!«

 

4

Wo sollte ich wohnen? Ich hatte keine größere Auswahl. Wenn ich nicht auf der Straße wohnen wollte, mußte ich in Karl Enebergs Fauteuil wohnen, der frei stand. Damit hatte ich ein Dach über dem Kopf, was vielleicht mehr war, als dem früheren Inhaber des Fauteuils augenblicklich zur Verfügung stand.

Die Tage flossen träge dahin, wie die Tropfen aus einer Teertonne. Von Karl Eneberg hörte man nichts; der Weg zum Antiquariat war mir verschlossen; der Weg zu Viviani ebenso, wenn ich nicht meinen einzigen Anzug versetzen und nackt im Fauteuil sitzen wollte, was der Anstand verbot. Ich verfaßte eine dritte Schilderung des wahnwitzigen Luxus und des raffinierten Vergnügungslebens der Spielhölle und schickte sie unfrankiert an mein Vaterland. Ich glaubte ein Wunder zu erleben, als ich einige wenige Tage später ein Postanweisung auf vierunddreißig Franken und ebenso viele Centimes quittieren konnte, was fünfundzwanzig schwedischen Kronen entsprach.

Die Zukunft schien sich mir auf einmal aufzuhellen, wie eine Bühne, wenn der Vorhang aufgezogen wird. Ich wollte mich in einen Wirbel von Lustbarkeiten stürzen, aber Frau Marthe verhinderte es, und das war gut; denn nach diesem geglückten Coup vergingen Wochen, ehe die Musen mir abermals lächelten. Ich holte die Perle unter den Elegien der englischen Literatur hervor und begann sie von neuem zu übersetzen. Ich fand die dritte Zeile:

Auf das erloschne Feuer Asche streute ...

Ich wußte ein Feuer, das erloschen war, das war das Feuer in unserer Küche. Aber die Sonne schien, wir brauchten kein Feuer im Kamin, und wir sahen dem Schicksal ins Auge, ohne zu blinzeln. In der Hauptstadt des Hasards begann es Frühling zu werden; der Hafen wimmelte ebenso von weißen Lustyachten wie der Kasinoplatz von weißen Tauben; die Glyzinen ergossen sich in blauen Katarakten über die Gartenmauern, und die Rosen glühten. Auf den offenen Veranden der Hotels saßen reiche, mächtige Menschen, die schon am Vormittag süßen Wein tranken und von silbernen Schüsseln aßen. Ich schilderte ihr Leben in einem vierten Essay und sandte ihn ab, aber noch immer lächelten die Musen nicht.

Eines Tages im März fiel mir zum ersten Male ein brünetter Herr mit orientalischem Profil auf. Er saß auf der Veranda des Café de Paris im Gespräch mit einem blonden Herrn. Seine Stimme war samtweich, seine Augen waren samtschwarz, und seine Hände blitzten in der Frühlingssonne. Er erklärte seinem blonden Begleiter, der aufmerksam zuhörte, irgend etwas. Nach einiger Zeit kam eine grüne Zeitung aus der Tasche des brünetten Herrn. Seine Hände blitzten mehr denn je. Nach noch einiger Zeit erhoben sich die beiden Herren und verschwanden in das Kasino.

Es dauerte eine Woche, bis ich sie wieder sah. Unterdessen war nämlich der Bankbeamte Adamson, den ich an mein Vaterland geschickt hatte, in Gestalt einer Anweisung auf einundvierzig Franken und zwanzig Centimes zurückgekehrt, und das Feuer in der Küche war entzündet worden. Wir hatten in Pot-au-feu und Camembert geschwelgt, bis alle materiellen Forderungen befriedigt waren, und ich wanderte wieder in die Stadt. So ziemlich das erste, was ich erblickte, waren die zwei Herren, die ich zuletzt im Café de Paris gesehen hatte. Diesmal saßen sie in einem billigen Café am Boulevard des Moulins. Der brünette Herr zerknüllte eine grüne Zeitung in der Hand und schlug mit der anderen Hand energisch auf den Tisch, der blonde Herr hörte mit ernster Miene zu, ohne etwas zu sagen.

Eine Woche darauf sah ich sie in der Bar Charlot in einem Gewühl von Kutschern und Chauffeuren. Jetzt war es der blonde Herr, der sprach, und der brünette, der schwieg. Das heißt, er schwieg, bis der blonde ihn plötzlich bei den Schultern packte. Viele Hände kamen in Bewegung, und der Blonde wurde auf die Straße geworfen, während sein Gegner sich den Schlips ordnete und zu allen Menschen im Lokal auf einmal sprach.

Das war die erste Episode im Leben des orientalischen Herrn, die ich vor meinen Augen abschließen sah, aber es sollte nicht die letzte sein. Während der folgenden Wochen gewöhnte ich mich daran, ihn vor den Cafés in der Stadt zu sehen, immer in Gesellschaft einer anderen Person, immer diamantenblitzend. Wenn bei gewissen mathematischen Operationen die Reihenfolge der Faktoren gleichgültig ist, lernte ich doch einsehen, daß bei den Operationen des brünetten Herrn die Reihenfolge der Cafés durchaus nicht ohne Bedeutung war. Wenn ich ihn das erstemal mit einem neuen Vis-à-vis sah, war es immer im Café de Paris; nach einiger Zeit sah ich sie in dem billigen Café am Boulevard des Moulins; aber die letzte Begegnung spielte sich immer in der Bar Charlot ab, unter den handfesten Kutschern und Chauffeuren. Ich bemerkte eines: nach jeder solchen Begegnung ließ der brünette Herr allen Gästen im Lokal einschenken, während er seinen Schlips ordnete und nach allen Seiten zugleich sprach.

Die Zeit glitt, der Frühling war vorbei, der Sommer kam. Monte Carlo wurde leer an Besuchern, und Frau Marthe und ich lebten wie die Sperlinge unter dem Himmel von den Brosamen, die aus einem Lande hoch oben im Norden herabfielen. Denn es begannen hier und da Brosamen zu fallen. Jedesmal, wenn der Briefträger mir eine Anweisung von irgendeiner Zeitung auf vierunddreißig, vierzig oder achtundvierzig Franken brachte, dünkte ich mich reich wie ein Krösus und wollte uns in einen Strudel von Lustbarkeiten stürzen. Jedesmal verhinderte es Frau Marthe, und das war gut, denn plötzlich konnten wieder Lücken von vier bis fünf Wochen im Postverkehr entstehen, während derer wir uns tagelang ohne irgendwelches Essen durchschlugen, oder von seltsamen Speisen lebten, von denen gedünsteter Kalbsmagen mir die unauslöschlichste Erinnerung hinterlassen hat. Die Sonne wurde heißer und heißer, aber seltsamerweise spornte sie meine Arbeitslust an, anstatt sie zu erschlaffen. Plötzlich war der Herbst gekommen, und ich hatte nicht weniger als zwei dicke Bände fertig, zwei ganze Bücher, von denen das eine die Hauptstadt des Hasards schilderte, ihren Luxus und ihre Ausschweifungen, und das andere seltsame Abenteuer in der größten Stadt der Welt. Ich gab sie mit einem Seufzer zur Post, denn sie kosteten vier Franken Porto; von vier Franken konnten Frau Marthe und ich mindestens ebenso viele Tage leben, und ich sah der umgehenden Retournierung meiner Geisteskinder an den Absender entgegen.

Nichtsdestoweniger ging ich in die Bar Charlot, um zur Feier der Bedeutung des Tages einen Absinth zu trinken. Ich glaubte in der Lage zu sein, mir einen Absinth zu gestatten; denn ein Glas dieses Trankes kostete zwanzig Centimes. Während ich an der Bar stand, sprang plötzlich die Schlußzeile meiner Übersetzung der Perle der Elegien der englischen Literatur fix und fertig aus meinem Haupte; Opfer weihte, war der naturnotwendige Reim.

Bevor ich sie noch hinkritzeln konnte, trat mein brünetter Freund mit einem blonden Herrn in die Bar. Es war die gewöhnliche Abschiedsvisite, die sah ich, denn der dicke blonde Herr hielt ihn am Arm fest und war dunkelrot im Gesicht. Der brünette Herr schwieg, oder gab nur hier und da einen protestierenden Gutturallaut von sich. Plötzlich packte der dicke Mann ihn am Halse, wie um auch diese Lebensäußerungen abzuschneiden, und die gewöhnliche Szene folgte. Der Wirt und die Kutscher mengten sich ein. Der Blonde wurde hinausgeworfen, und der Brünette ließ schluchzend und ächzend allen Anwesenden frisch einschenken. Auch ich bekam einen zweiten Absinth. Vermutlich ahnte er in mir ein Herz, das für fremdes Unglück empfänglich war, denn er beugte sich näher zu mir und teilte mir den Grund mit, weshalb die Menschen ihn verfolgten. Ich hatte jetzt bereits eine recht klare Vorstellung von dieser Ursache, und ich hörte nur zerstreut zu, bis er einen Namen nannte, bei dessen Nennung ich fast mein Absinthglas umgestoßen hätte. Ich ließ ihn den Namen wiederholen – es war sein eigener –, und es zeigte sich, daß ich richtig gehört hatte. Plötzlich beugte er sich mit samtweichen Augen und blitzenden Fingern näher zu mir:

»Mein Herr, Se spielen nicht?«

»Augenblicklich nicht,« sagte ich, »aber ich erwarte Geld, und –«

Das Gaslicht in der Bar Charlot war zu matt, um sich in meinem Leibrock zu spiegeln, und meinen Turban hielt ich in der Hand.

»Kommen Se zu mir«, rief er. »Spielen Se nicht wie alle anderen! Hier haben Se meine Adresse!«

Er steckte mir eine Karte zu. Kurz darauf verschwand er, und ich folgte unbemerkt seinen Spuren. Er ging in den Park und setzte sich auf eine dunkle Bank. Aus dem Schatten einer Palme sah ich, wie er aus einem sehr ungewöhnlichen und intimen Schlupfwinkel eine Banknotenkollektion hervorzog und sie überzählte. Seine Augen glitzerten um die Wette mit den Brillanten an seinen Fingern.

Ich verließ mein Versteck und eilte nach Hause zu Frau Marthe.

Als ich heim kam, fand ich den Fauteuil, den ich durch zehn Monate bewohnt hatte, besetzt. Der rechtmäßige Inhaber war zurückgekehrt, magerer, ruppiger und grimmiger als der Bär, der den Winterschlaf überlebt hat.

 

5

Ich hatte ein diskretes Café im alten Monako zum Rendezvousort gewählt, und die Dämmerstunde zur Treffzeit, im Hinblick auf meinen Turban und meinen Leibrock. Mein brünetter Freund zögerte keinen Augenblick, sich damit einverstanden zu erklären. Und nun saßen wir auf der Terrasse des Cafés einander gegenüber, und ich hatte die Aussicht in das Café frei.

»Also, Se haben Geld bekommen?« sagte er mit Augen, in denen die Pupille wie ein Diamant auf schwarzem Samtgrund schimmerte. »Und Se wollen spielen?«

»Ich will spielen, aber nicht so ins Blaue hinein. Wenn ich etwas sehe, wovon meine Vernunft mir sagt, daß es klar und logisch ist, so spiele ich, sonst nicht.«

»Gescheit sind Se, daß Se zu mir kommen! Ich hab' was Se brauchen! Lesen Se die Nummern aus dieser Zeitung, bei jeder Nummer werd' ich sagen mein Spiel, und Se werden sehen, ob ich versteh' zu spielen!«

Er gab mir einige Exemplare der grünen Zeitung, die ich seit einem halben Jahr in seiner Hand gesehen hatte – aber das wußte er nicht – die Zeitung mit den echten Nummernfolgen der Kasinotische. Er machte seine imaginären Einsätze, und ich las die Nummern, die kamen, und jedesmal ging es gut aus, jedesmal brachte er sein Schäfchen ins Trockene. Nach einer halben Stunde hatten wir fünfhundert Franken gewonnen, nach einer Stunde tausendfünfzig.

»Ich sog' Ihnen, wenn wir fünf Stunden spielen, haben wir fünftausend im Tag! Und wir teilen gleich! ich geb' das System, das unfehlbar ist, aber ich gewenn' nicht mehr als Sie! Ist das scheen? Ist das gut?«

»Es ist schön, es ist gut! Aber sagen Sie mir: Wie sind Sie nur auf dieses Kolumbusei gekommen? Ist das Ihre eigene Erfindung?«

Mein brünettes Vis-à-vis nahm einen Ausdruck der Ehrlichkeit an, der ihn wie einen Menschen aussehen ließ, der zu enge Schuhe anhat.

»Ich werd' Ihnen die Wahrheit sogen, es is' mei' System. Aber es is' basiert auf einer Entdeckung, gemacht von einem berühmten Gelehrten, von dem großen Mathematiker –«

Er zögerte einen Augenblick. Ich rieb ein Zündhölzchen an und erhob es gegen den Eingang des Cafés, aber ließ es wieder erlöschen. Erregte dies irgendwelches Aufsehen? Mein Vis-à-vis schien es jedenfalls nicht zu bemerken. Er überwand seine Unschlüssigkeit, den Namen des berühmten Mathematiker zu nennen:

»Gemacht von dem großen schwedischen Mathematiker Karl Eneberg. Kennen Se ihn? Sein Name bekannt? Nicht? Karl – Karl Ene –«

Mein Zündholzsignal hatte gewirkt. Ein Schatten fiel plötzlich über unseren Tisch, ein magerer, riesiger, ruppiger Schatten, der mit einemmal den Diamantenglanz in den Samtaugen meines Vis-à-vis verlöschte.

Eine heisere Stimme – eine Stimme, die während zehn Monaten auf dem Trockenen in Berlin heiser geworden war – ertönte und sagte:

»Guten Tag, Herr Rosenbaum, guten Tag! Lange, seit wir uns nicht gesehen haben! Wie geht es?«

Mein Tischgenosse steckte hastig die grünen Zeitungen in die Tasche und sah sich mit flackernden Blicken um. Aber sie begegneten weder Kutschern noch Chauffeuren. Sie sahen nur eine leere Caféterrasse und einen riesigen, ruppigen Schatten, der den Tisch verdunkelte.

»Se werden schon entschuldigen!« murmelte er, an mich gewendet. »Ich – ich hab' a Rendezvous. Leben Se wohl!«

»Bitte sehr«, antwortete ich.

Herr Rosenbaum verschwand auf kurzen Beinen, die sich rascher bewegten als Trommelschlägel. Ich folgte ihm nicht. Aber unerbittlich wie die schwarze Sorge dem Reiter auf dem Pferderücken folgt, folgte ihm ein ruppiger Schatten die Straße entlang. Und ich wußte, daß zwanzig Schritte weit die Anlage lag, die einmal der Privatpark des Fürsten von Monako gewesen war, jetzt aber ein beliebter Rendezvousplatz für liebende Paare und andere Personen, die die Einsamkeit wünschen.

Und ich stand auf und erhob mein Glas gegen den enteilenden Herrn Rosenbaum und den unerbittlich folgenden Schatten: und mit einer Stimme, würdig in antiken Chören zu widerhallen, rezitierte ich die Perle unter den Elegien der englischen Literatur in meiner eigenen Übersetzung:

Und wie dereinst der Trauerzug
Auf das erloschne Feuer Asche streute
Den Todesgöttern dann das Opfer weihte
Und stehend leert' den Wein im Krug,
So will auch ich mit hocherhobenem Haupte
Den Gott lobpreisen, der mir alles raubte.

Aber hier erstickte meine Stimme bei dem Gedanken an das, was sich gerade jetzt mit Herrn Rosenbaum begab.

 

6

Und was begab sich mit Herrn Rosenbaum?

Niemand weiß es. Die Palmen im Park flüstern es keinem zu, die Rosen schweigen, und es gibt keine Vögel, die davon singen könnten; denn sie sind wie alle Vögel im Süden von der Bevölkerung gefangen und aufgefressen worden. Was Karl Eneberg selbst betrifft, war er, als ich ihn am selben Abend traf, stummer als das Grab. Alles, was ich erfuhr, war Herrn Rosenbaums Spezialmethode. Die bestand darin, aus der eingesetzten Spielkasse des Klienten zu stibitzen, so wie dieser nur den Rücken kehrte. Den gestohlenen Betrag schrieb er als Verlust in das Spielprotokoll, nachdem er ihn in jenem höchst diskreten Schlupfwinkel verborgen hatte, den ich ihn im Park enthüllen gesehen hatte. Auf diese Weise riskierte er nie zu verlieren und der Klient nie zu gewinnen.

Am Tage darauf begann Karl Eneberg selbst nach seinem System mit dem Klienten zu spielen, den er sich nach zehn monatelangen Anstrengungen in Berlin aufgegabelt hatte. Gewann er? Wenn er nicht fünftausend Franken im Tage gewann, so gewann er doch wenigstens ebenso viele Hundert – zum mindesten solange ich dem Spiel beiwohnte.

Denn kurz darauf bekam ich einen Brief aus dem Lande im Norden, dem zufolge keine weiteren Postporti an die zwei Bände, die ich eingesandt hatte, verschwendet werden mußten. Und ich beeilte mich, sowohl den Leibrock, der von den Diwans abgenutzt war, wie den Turban, der die Sonne spiegelte, von mir zu werfen, ich verließ die Stadt der seltsamen Ereignisse, und bald kam es mir nur wie ein Traum vor, daß ich dort neunzehn Monate auf dem Trockenen gesessen hatte.


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