Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Gefahren des häuslichen Lebens

1

Nun ist zu sagen, wie der norwegische Kunstmaler Jarl Angantyr in seinem vollendeten vierzigsten Lebensjahre den höchsten Treffer in der Lebenslotterie machte. Fräulein Brünhilde Angantyr, seine Tante, wurde aus dem irdischen Leben hinweggerafft, und ihr Vermögen fiel unverkürzt ihrem Neffen zu. Was der Besuch der Musen durch zwanzig Jahre nicht zustande gebracht hatte, wurde durch eine einzige Visite des Sensenmannes geordnet. Jarl Angantyr erwachte eines Morgens als ein berühmter, ein beneideter und reicher Mann.

Nun ist ferner zu sagen, wie er dieses glückliche Erwachen in der Hauptstadt der Boheme erlebte. Die Pariser Cafés hatten das Ehepaar Angantyr – denn der Kunstmaler Angantyr war verheiratet – schon lange mit demselben Wohlwollen betrachtet, mit dem Magistratsbeamte gute Steuerzahler ansehen. Aber als Jarl und Sköldmö Angantyr jenes glückliche Erwachen erlebten, waren ihre ersten Worte dieselben, die Ibsens letzte gewesen sein sollen:

»Nein, nun soll es also vorbei sein!«

Sie hatten lange eine innere Leere verspürt, auf die kein Detektiv der Welt hätte schließen können, weder aus ihrem Konsum noch aus ihren Profilen. Sie hatten schon lange einen einzigen Herzenswunsch. Und dieser Wunsch war ein eigenes Heim.

Ihr Wunsch ging in Erfüllung.

In der Rue Bretet auf dem Montmartre fanden sie eine Wohnung. Es war eine möblierte Dreizimmerwohnung mit Badezimmer; sie war teuer; und sie mußten sowohl die Möbel wie das Badezimmer übernehmen; aber was tut man nicht, um zu einem eigenen Heim zu kommen?

Sie säuberten die Wände, bis sie von allen Bildern entblößt waren, die nicht die Signatur Jarl Angantyr trugen; sie legten die Bilder in die Badewanne und setzten sich in den Salon, um jenes häusliche Behagen zu genießen, von dem sie geträumt hatten. Gar bald jedoch merkten sie, daß es sich nicht einfinden wollte. Irgend etwas fehlte. So allmählich kamen sie dahinter, was es war. Es war ein Büfett, – so einfach war die Sache.

Man brauchte nur einen polierten Mahagonitisch zu kaufen, ihn an einem Ende des Salons zu postieren, einige hohe Stühle davorzustellen, eine Stellage dahinter anzubringen, diese Stellage mit verschiedenförmigen Flaschen zu füllen, zwei Silberbecher und einige Gläser auf den Tisch zu placieren, die andern Möbel aus dem Salon auszuräumen, sich selbst in zwei Halbtrupps, einen vor, einen hinter den Bartisch zu setzen, und husch, mußte die häusliche Gemütlichkeit kommen! Eine Bar im Salon – das war das Heilmittel gegen Spleen und Gasthausleben; das war die Formel für das Glück.

Sie beeilten sich, diesen Gedanken zu verwirklichen. Sie kauften den Mahagonitisch; sie postierten ihn an einem Ende des Salons; sie stellten hohe Stühle davor und brachten eine Stellage dahinter an; sie füllten die Stellage mit verschiedenförmigen Flaschen, sie stellten Silberbecher und Gläser auf den Tisch; sie setzten sich abwechselnd vor und hinter den Tisch und machten sich bereit, die häusliche Gemütlichkeit zu empfangen; aber die häusliche Gemütlichkeit blieb aus; das Heimchen zirpte nicht an ihrem Herd. Erstaunt sah Jarl Angantyr über die blanke Mahagoniplatte Sköldmö an. Gab es denn keine Freude auf Erden? Sie hatten ein Heim; sie hatten eine Bar, aber das Glück kam nicht als Gastfreund zu ihnen. Was war die Erklärung?

Sie grübelten darüber bei einem Whisky-peg, bei zwei Gin-fizz, bei drei Manhattan-cocktails, bei vier Prairie-oysters, bei fünf Martinis, bei sechs Corpserevivers, bei sieben Knock-me-downs, bei acht Pick-meups und bei neun Morning-glories. Da fanden sie die Erklärung, und das war vielleicht an der Zeit. Die Erklärung war: die Bar ist zu wenig besucht; mehr Zustrom zur Bar!

Am folgenden Tage ergossen sich Einladungsbriefe über Paris. Ein Ruf der Antwort stieg auf: wir sind bereit! Und als der Abend anbrach, als der Himmel hinter dem Triumphbogen teegrün war, als die Bogenlampen diamantblau gegen den Himmel standen, als die Drinks unter den Bogenlampen giftgelb schimmerten – da wallte ein großer Zug über diese Trottoirs zur Rue Bretet auf dem Montmartre. In Kreisen, geschlängelt wie jene Kreise, die sich um die Triumphsäule auf der Place Vendôme schlängeln, schlängelte sich der Zug zur Rue Bretet hinauf. Und so wie die besiegten Heere auf der Triumphsäule dahinschreiten, um ihrem Schicksal in der Hauptstadt des Triumphators zu begegnen, waren auch die Teilnehmer dieses Zuges auf dem Wege zu ihrem Schicksal, aber sie fürchteten es nicht.

 

2

Die Männer, die an diesem Abend in Jarl Angantyrs Saal saßen, waren hochberühmt in ganz Norwegen.

Da war der Stadtadvokat Storfossen aus Enegrund, der nie für kürzere Zeit als eine Woche auf die Gands ging, während welcher Zeit er taub für die Gebote der Pflicht war; während welcher Zeit die Stadt Enegrund alle ihre Prozesse verlor, aus welchem Grunde die Finanzen der Stadt Enegrund mit den Jahren so ziemlich untergraben waren. – Da war der Dichter Haugastöll, der ein ewiges Opfer der Wohnungskrisen war; der während einer dieser Krisen zu seinem Bruder in Apoll, Birkehaug, zog, dem Besitzer einer Dreizimmerwohnung in Christiana, und der eine Woche später mit Unterstützung der Polizei delogiert wurde, weil die Dreizimmerwohnung von ihm durch Niederreißen der Wände in eine allerdings sehr geräumige Einzimmerwohnung verwandelt worden war. – Da war der Maler Dybedraet, von dessen Lebensweise und Körperkräften der Dichter Haugastöll durch folgendes Gleichnis eine Vorstellung zu geben suchte. Er erzählte, daß er einmal in eine entlegene Gegend von Nordnorwegen gekommen war, um einen Freund zu besuchen; daß er sich bei der Station einen Wagen bestellt hatte; daß er über die schlechte Beschaffenheit des Fahrweges erstaunt gewesen war; daß er den Kutscher auf die Schlechtigkeit des Fahrweges aufmerksam gemacht und der Kutscher darauf erwidert hatte: Das ist kein richtiger Fahrweg, da ist nur Herr Dybedraet durch den Wald gegangen! – Diese Männer und noch viele andere von nicht geringerem Ruf saßen an diesem Abend vor Jarl Angantyrs Bar. Hinter der Bar standen Jarl und Sköldmö mit Gesichtern, die vor Glück strahlten, und Händen, die in ununterbrochener Bewegung waren. Wenn sie einen Prairie-oyster für den Stadtadvokaten Storfossen mischten, mischten sie zwei Corpse-revivers für den Dichter Birkehaug; während sie drei Knock-me-downs für den Dichter Haugastöll brauten, brauten sie vier Pick-me-ups für den Maler Dybedraet; aber dabei fand Jarl Zeit, fünf Morningglorie s für Sköldmö und Sköldmö fünf für Jarl zu mischen. Philemon und Baucis konnten sich nicht in größerer Harmonie miteinander und dem Dasein befunden haben.

Der Dichter Haugastöll erzählte, und alle lauschten ihm:

»Jetzt will ich euch nur eines sagen, das ist eine wahre Geschichte, und wenn einer sagt, daß sie nicht wahr ist, so will ich augenblicklich und aufrichtig ein Wort mit ihm reden, wie man unter Männern redet. Also, daß ihr es im vorhinein wißt, gelt?! – Ich habe die Sache selbst erlebt, und wenn jemand sie mir erzählt hätte, so hätte ich gesagt, das ist erstunken und erlogen. Aber wenn jemand zu mir sagt, daß das nicht wahr ist, so will ich sofort ein Wort mit ihm reden, wie man unter Männern redet. So, daß ihr es also wißt, gelt? – Es war oben im Nordland –«

Der Dichter Birkehaug schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Ha! Das ist ja wieder deine uralte Geschichte von Dybedraet, gelt? Hab' ich mir's nicht gedacht!«

Der Dichter Haugastöll schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Ha, du redest von alten Geschichten? Hast du je eine Geschichte erzählt, die neuer ist als die norwegischen Königssagen, sag' mir das einmal!«

Der Dichter Birkehaug schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Aus deinen Reden sehe ich ja, daß du schon wieder deine alte Geschichte von Dybedraet erzählen willst, jawohl!«

Der Maler Dybedraet schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Was sind das für Geschichten, die dieser Haugastöll von mir erzählt? Das möchte ich doch gern wissen, gelt!«

Hierauf schlugen alle drei mit den Händen mehrere Male auf den Tisch und redeten aufrichtig miteinander, wie man unter Männern redet. Als endlich klargestellt war, daß die Geschichte, mit der der Dichter Haugastöll seine Freunde zu erfreuen gedachte, noch nie erzählt worden war und den Maler Dybedraet in keiner Weise betraf, schlugen sie noch einmal mit den Händen gleichzeitig auf den Tisch, aber diesmal, um dem Bartender Jarl Angantyr zuzurufen:

»Einen Drink, gelt? Soll man hier vielleicht verdursten, was?«

Diese Frage erhielt keine Antwort, überwältigt von Glück und Morning-glories waren sowohl Jarl Angantyr wie seine Gattin hinter der Bar in liefen Schlummer versunken.

 

3

Man legte sie in ihrem Schlafgemach zur Ruhe und ging zur Selbstbedienung über. Der Dichter Haugastöll nahm seine unterbrochene Geschichte wieder auf. Jarl Angantyr schlief, und als er genug geschlafen hatte, erwachte er. Es war ihm unklar, wo er sich befand. Er lag auf einem Sofa mit abgeknöpftem Kragen und ausgezogenen Stiefeln. Nicht weit von sich hörte er Stimmen, die sprachen, und Hände, die auf einen Tisch fielen. Hierdurch erhielt er den Eindruck, daß Menschen in seiner Nähe glücklich waren. Er wollte ihr Glück teilen. Er wankte durch eine Tür hinaus und sah sich in einer Bar stehen. Um einen Tisch saßen viele Männer, in Gespräche vertieft. Einer von ihnen sprach lauter als die andern, und er sagte:

»Ihr hört, was ich sage: Das ist eine wahre Geschichte, und wenn jemand sagt, daß sie nicht wahr ist, will ich augenblicklich und aufrichtig ein Wort mit ihm reden, wie man unter Männern redet. Der Mann war ein Bauer in Nordland, er war reich, er hatte Geld in der Bank, er hatte ein Staatstelephon, und er opferte jeden Mittwoch Odin und jeden Donnerstag Tor! Ihr hört, was ich –«

Ein Stimmengewirr erhob sich nach diesen Worten. Jarl Angantyr wußte endlich, wo er sich befand. Er war in seinem Heim. Haugastöll hatte seine Geschichte zu Ende erzählt, und man weigerte sich, ihm zu glauben. Jarl Angantyr trat vor und rief:

»Na ja, ihr vergnügt euch!«

Die Stimmen hörten auf zu dröhnen. Viele Gesichter wendeten sich ihm zu. Aber in keinem dieser Gesichter fand er einen Widerschein des Wohlwollens, das er selbst ausstrahlte. Er hörte Münder rufen: »Was ist denn das für eine Bar, na?«

»Was ist denn das für eine Bedienung, na?«

Eine einzige Stimme sagte etwas andres. Es war die Stimme des Malers Dybedraet. Er grollte: »Diese Geschichte war also doch auf mich gemünzt, jawohl!«

Jarl Angantyr weigerte sich, seinen Ohren zu trauen. Er stammelte, sich hin und her wiegend: »Aber ihr seid doch bei mir zu Hause! Das ist doch meine Wohnung.«

Ein Brausen von Stimmen antwortete ihm: »Das ist eine Bar! Und eine solche miserable Barbedienung muß 'raus.«

Eine kurze Weile später, ja eine sehr kurze Weile später saß der Maler Jarl Angan tyr auf dem Trottoir vor seinem eigenen Hause und fühlte den Nachtwind über seine Stirn streichen, kalt wie ein Morning-glory.

 

4

Doch er saß nicht lange einsam da. Zehn Minuten später bekam er Gesellschaft von zwei Personen. Es war der Dichter Birkehaug und der Dichter Haugastöll, die in pegasischem Verein an seiner Seite landeten. Der Grund, weshalb der Dichter Haugastöll da landete, war der, daß der Maler Dybedraet immer mehr von der Überzeugung durchdrungen war, daß der Dichter Haugastöll mit seiner Geschichte von dem opfernden Staatstelephonabonnenten ihn gemeint hatte. Was den Dichter Birkehaug betrifft, so war er mit hinausbefördert worden, als dafür bekannt, den Dichter Haugastöll beherbergt zu haben, zwischen zwölf Wänden, aus denen zu guter Letzt vier wurden. Die beiden Dichterbrüder fühlten den Nachtwind um ihre Stirnen wehen, kalt wie ein Morning-glory. So allmählich bemerkten sie zu ihrem Staunen, daß der Maler Jarl Angantyr an ihrer Seite saß. Nie hatten sie etwas so Betäubtes gesehen wie den Maler Jarl Angantyr.

»Da sitzt der Angantyr! Der ist ja krank! Den können wir nicht hier lassen! Wir müssen ihn nach Hause bringen.«

Sie richteten sich, und mit einiger Schwierigkeit auch Jarl Angantyr, auf. Der Himmel über Paris war niedrig und schwarz. Ein eisiger Schneeregen begann auf die Straßen zu fallen, blieb auf den Trottoirs liegen, und wurde mit jeder Minute kälter und kälter. Die Dichter Birkehaug und Haugastöll hielten Jarl Angantyr, einer unter jedem Arm, und führten ihn unsicher die Rue Bretet hinunter. Der Maler Angantyr leistete verzweifelten Widerstand. Aber die beiden Dichter, die ihre Ansichten über das Lokal, wo sie den Abend verbracht hatten, mit lauter Stimme austauschten, beschwichtigten seine Proteste:

»Wir bringen dich nach Hause, gelt!«

Vom Maler Angantyr kam zur Antwort ein undeutliches Gurgeln, dem niemand die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Der Schneeregen wurde heftiger und heftiger. Die Urteile der beiden Dichter über das Lokal des Abends wurden immer vernichtender und vernichtender. Von Zeit zu Zeit unterdrückten sie ein immer undeutlicheres Gurgeln des Malers Angantyr mit den Worten:

»Wir bringen dich doch nach Hause, gelt!«

Nach vielen tastenden Versuchen kamen sie schließlich in die Rue de la Chaussee d'Antin und näherten sich den großen Boulevards. Die Bogenlampen der Boulevards leuchteten grüngelb durch den Schneenebel. Der Dichter Birkehaug und der Dichter Haugastöll stampften vor Raserei bei der Erinnerung an das Lokal des Abends. Als sie auf den Boulevard des Italiens hinaustraten, entrang sich dem Maler Angantyr endlich ein Laut, dem es gelang, durch die Mauern ihres Bewußtseins zu dringen. Sie blieben stehen und schüttelten ihn erbittert.

»Was tribulierst du denn? Zum Kuckuck, wir bringen dich ja nach Hause.«

Da stieß der Maler Angantyr einen Laut aus, so herzzerreißend, daß das Nachtleben auf dem Boulevard des Italiens beinahe stockte. Er löste zwei blaugefrorene Hände aus der festen Umklammerung der Dichter und wies zu Boden. Der Schneeregen, der über sein Gesicht strömte, war mit Tränen vermischt.

»Die Schuhe!« stöhnte er. »Die Schuhe!«

Die Dichter Birkehaug und Haugastöll folgten der Richtung seiner Zeigefinger und wurden beinahe nüchtern. In dem grüngelben Lichte der Bogenlampen stand der Maler Jarl Angantyr mitten in dem Schneebrei des Boulevards, ohne Hut, ohne Kragen und ohne Schuhe, nur mit zwei handgestrickten grauen Wollstrümpfen angetan, die bis hoch hinauf patschnaß waren. Diese Situation überstieg ihr augenblickliches Fassungsvermögen.

»Warum gehst du denn ohne Schuhe aus? Du mußt nach Hause, andre Strümpfe anziehen. Wo wohnst du denn, was?«

Jarl Angantyr deutete weinend nach rückwärts.

»Ich wohne doch dort oben, gelt, in der Rue Bretet – in der Bar, aus der wir eben kommen ...«

 

5

Am nächsten Tage ereigneten sich zwei für Paris ganz ungewöhnliche Dinge.

In der Rue Bretet stellte eine Bar ihren Betrieb ein, und gleichzeitig wurde im selben Hause eine Wohnung frei.


 << zurück weiter >>