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An diesem Morgen kam die Krankenpflegerin mit einem Lächeln herein, aber einem Lächeln, das nicht überzeugend wirkte. Meine Frau hatte unruhig geschlafen und Träume von so lebhafter Art gehabt, daß sie die Dinge, von denen sie träumte, zu sehen glaubte: kleine Kinder, die auf ihrem Kopfkissen saßen, und eine Katze, die durchaus über den Plafond spazieren wollte, anstatt über den Fußboden. Ich eilte in das Krankenzimmer. Ein Gespräch von ein paar Minuten mit der Patientin war genug, damit ich in mein eigenes Zimmer zurückraste, mir das Notwendigste anzog und Hals über Kopf die Treppen hinunterstürzte.
Der Maimorgen war dampfend warm. Die Luft floß wie eine laue Flüssigkeit zwischen den kreidegrauen Mauern der Gäßchen. Die Pelargonien fielen in einem erstarrten Wasserfall über die Firste der Mauern, und die grünen Eidechsen schliefen mitten zwischen Himmel und Erde, an die Steine festgeklebt, mit dem Kopf nach unten. Ich fand das Haus des jungen Doktors. Er war daheim. Er kam halb angekleidet mit mir zurück.
Die Untersuchung dauerte lange. Die Patientin jammerte laut und sah noch immer wunderliche Dinge überall im Zimmer. Endlich wurde sie im Bett zurechtgelegt. Der junge Doktor – er sah aus, als sei er kaum mehr als zwanzig Jahre – zog mich beiseite.
»Was hat Doktor Duomo konstatiert?«
»Eine heftige Erkältung.«
»Was hat er ordiniert?«
»Verschiedene Dinge, hauptsächlich Kamillentee und Blutegel.«
»Wie lange hat er den Fall behandelt?«
»Morgen sind es drei Wochen. Manchmal ist er auch zweimal im Tag gekommen.«
Doktor Angelis schwieg. Sein Gesichtsausdruck war so, daß mir ein Schauer über den Rücken lief.
»Ist es – ist es etwas Ernstes, Herr Doktor?«
Die schwarzen Augen des Doktors flammten explosiv auf.
»Es ist Typhus!« sagte er. »Ein unbehandelter Typhus mit rheumatischen Komplikationen und einer beginnenden Mittelohrentzündung.«
Es wurde Abend an diesem Tage, und die Sonne ging unter; und trotzdem die Bibel davor warnt, ließ ich die Sonne über meinem Zorn untergehen. Ich hatte eine Diskussion mit dem geschätzten Doktor Duomo gehabt, seit dreißig Jahren Verwalter des Lebens und Todes auf der Mittelmeerinsel, cavaliere, einäugig und Verfasser gelehrter italienischer Abhandlungen über Medizin. Der Doktor wies meine Beschuldigungen mit Empörung zurück. Er hatte die ganze Zeit erkannt, daß das ein Fall von Typhus war, zu dem allmählich rheumatische Komplikationen hinzugetreten waren, die eine Otitis im Gefolge haben konnten. Er würde sich nicht einreden lassen, daß er das nicht gewußt hatte. Seine Schule, die Neapolitanische Schule, war unübertroffen in der Behandlung von Infektionsfiebern.
»Sie haben das die ganze Zeit gewußt! Warum haben Sie es dann nicht gesagt?«
»Um Sie nicht zu beunruhigen, caro signore. Unsere Schule –«
»Aber wenn Sie gewußt haben, daß es ein Typhus ist, warum haben Sie die Krankheit nicht als Typhus behandelt?«
»Unsere Schule, die Neapolitanische Schule, hat ein Grundprinzip. Das ist, der Natur ihren Lauf zu lassen. Die Natur, caro signore, sehen Sie, das ist die große Gesundmacherin.«
»Und infolgedessen liegt meine arme Frau mit rheumatischen Schmerzen und beginnender Otitis! Darum ist es eine Woche her, seit sie nachts geschlafen hat, und heute phantasiert sie!«
»Caro signore, Sie wissen ja nicht, was ich gerade heute zu verschreiben gedachte!«
Ja, mich packte der Zorn. Ich sah den einäugigen cavaliere und Doktor durch jenen roten Schleier, vor dem alle Religionen und Philosophien warnen.
»Nein, ich weiß nicht, was Sie heute zu verschreiben gedachten! Was mehr ist: ich gedenke es auch nie zu wissen. Ich muß Sie bitten, Herr cavaliere, sofort zu dieser Türe hinauszugehen, die Sie gerade vor sich sehen, sie hinter sich zu schließen und nie mehr zu öffnen.«
»Verstehe ich Sie recht? Meinen Sie, daß Sie das Vertrauen zu der berühmten Neapolitanischen Schule verloren haben?«
»Was ich meine, ist: ich nehme Ihnen die Behandlung ab und lege sie in die Hände eines Arztes. Sie verstehen: eines Arztes!«
Doktor Duomos blindes Auge machte einen Versuch, sich zugleich mit dem sehenden entsetzt zu öffnen.
»Doktor Angelis?«
»Doktor Angelis. Und haben Sie jetzt die Güte zu verschwinden.«
Doktor Duomos Stimme wurde schrill.
»Und meine Rechnung? Mein Tarif ist fünfzig Lire per Besuch, und an wie vielen Tagen bin ich nicht zweimal täglich gekommen!«
»Ihre Rechnung, cavaliere? Schicken Sie sie durch einen Advokaten.«
Doktor Duomos sehendes Auge flackerte hastig durch das Zimmer und fand meine totkranke Frau.
»Madame!« rief er. »Wissen Sie, was Ihr Gatte tut? Er weist mir die Türe! Er gedenkt Sie Doktor Angelis auszuliefern, einem Lausbuben, der nichts weiß, der unsere berühmte Schule nicht kennt! Madame, Ihr Gatte ermordet Sie –«
Meine Frau suchte den Kopf aus den Kissen zu heben, aber konnte es nicht. Sie sank mit einem Aufstöhnen des Schmerzes zurück. Vermutlich übertönte es für sie das Zuklappen der Türe, durch die Signor Vittorio Duomo, dottore und cavaliere der Neapolitanischen Schule im selben Augenblick mit sanfter Gewalt hinausbefördert wurde.
Als die Sonne über diesem Zorn untergegangen war, saßen der junge Doktor Angelis und ich auf der Terrasse vor dem Schlafzimmer meiner Frau. Zum erstenmal seit einer Woche schlief meine Frau. Was Doktor Duomo mit Fluten von Kamillentee und Kohorten von Blutegeln nicht erreicht hatte, hatte Doktor Angelis mit einer leichten, lauen Lösung und einer Ohrenspritze erreicht: die Schmerzen im Ohr waren gewichen, und meine Frau schlief.
Die Nacht rings um uns war samtschwarz. Über den Palmkronen hingen die Sterne in schweren Diademen wie goldene Früchte, darauf wartend, gepflückt zu werden. Aus dem samtweichen Dunkel flammte es von Leuchtkäfern und dem Schwirren von Gitarresaiten.
»Ja, so sind sie«, sagte Doktor Angelis. »Mein Vater war Italiener, aber ich muß schon sagen: so sind sie. Wenn Sie ahnten, was ich durchmachen mußte, weil ich etwas weiß!«
»Sie sind Brasilianer, Doktor?«
»Ich bin in Brasilien geboren und habe dort das Gymnasium gemacht, aber studiert habe ich in Paris und Berlin. Sagen Sie mir eines: Wie haben Sie es mit – hm – mit der Rechnung gemacht?«
»Ich habe ihn ersucht, sie durch einen Advokaten zu schicken.«
Doktor Angelis legte die Zigarette weg.
»Einen Advokaten? Das meinen Sie nicht!«
»Doch!«
»Caro amico, es steht in der Bibel, daß es furchtbar ist, in die Hände des Herrn Zebaoth zu fallen. Schlimmer ist es, in die eines italienischen Arztes zu fallen. Aber glauben Sie mir: das Allerschlimmste ist, einem italienischen Advokaten in die Hände zu fallen.«
»Sie scherzen, Doktor. Was kann er mir tun? Hat er meine Frau nicht drei Wochen falsch behandelt? Hat er nicht eine Fehldiagnose gestellt? Hat er ihr nicht zwei Komplikationen auf den Hals geschafft, die die Krankheit um Wochen und Monate verlängern? Und dafür soll ich ihm achtzehnhundert Lire bezahlen? Gutwillig nie!«
»Caro amico, er hat einen Advokaten. Dieser Advokat ist im Komplott mit Ihrem Advokaten, wen immer Sie wählen. Wenn Sie dem Doktor nicht die achtzehnhundert mit Ihrem Willen bezahlen, so werden Sie sie ihm gegen Ihren Willen zahlen und außerdem ebensoviel an jeden der zwei Advokaten.«
»Sie scherzen!«
»Ich scherze nicht. Lassen Sie mich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Ich kam vor drei Jahren her. Aber erst vor zwei Jahren erwarb ich mir das Recht zu praktizieren. Vor zwei Jahren behandelte ich einen Mann in Grande Marina – einen wohlsituierten Mann –, der mich rief, weil er am Rande der Verzweiflung war. Es war ein sehr schwerer Fall von Typhus – ganz wie bei Ihrer Frau –, aber ich kurierte ihn. Nicht genug damit, ich kurierte seine Frau und seine Kinder von kleineren Leiden. Es war eine vollkommene Hausreinigung. Nach sechs Monaten schickte ich eine Rechnung. Der Mann ließ nichts von sich hören. Ich schickte noch einige Rechnungen, und als er noch immer nichts dergleichen tat, übergab ich die Sache einem Advokaten. Dieser Advokat war im Komplott mit seinem Advokaten – natürlich – aber außerdem mit meinen Kollegen, die wütend waren, weil ich den Mann kuriert hatte, und außerdem mit dem Leichenbestattungsunternehmen, das wütend war, weil er nicht gestorben war. Als es zur Verhandlung kam, zeigte es sich, daß sich in die Eingabe meines Advokaten ein bedauerlicher Schreibfehler eingeschlichen hatte: die Kur sollte 1921 und nicht 1922 stattgefunden haben. Es war ein höchst bedauerlicher Schreibfehler; denn im Jahre 1921 hatte ich noch nicht das Recht zu praktizieren. Ich ersuchte, den Schreibfehler berichtigen zu lassen. Der Richter weigerte sich, Änderungen in einem maschinengeschriebenen Schriftsatz zuzulassen. Der Advokat der Gegenpartei drohte mit einem Prozeß wegen unerlaubter Ausübung des ärztlichen Berufes, und die Gegenpartei selbst, die sich vor Lachen wälzte, war bereit, zu beeiden, daß die Behandlung 1921 stattgefunden hatte. Was war das Resultat? Wenn ich den Prozeß nicht bis zum Kassationsgerichtshof in Neapel weiterführen wollte – und dort vererben sich die Prozesse in den Advokatenfamilien vom Vater auf den Sohn –, mußte ich bezahlen. Ich bezahlte – sowohl meinen Advokaten, wie den Advokaten der Gegenpartei, ich bekam keinen roten Heller von meinem Patienten, und ich mußte noch froh sein, ohne Anklage gegen mich selbst davonzukommen.«
Ich starrte Doktor Angelis an. Seine schwarzen Augen leuchteten satirisch im Nachtdunkel, während er an seiner Zigarette zog.
»Doktor Angelis –«
»Caro amico, ich scherze nicht. Ich werde Ihnen die Akten des Prozesses morgen zeigen. Einen Rat: Bezahlen Sie Doktor Duomo vorher!«
»Nie! Einen Scharlatan, der –«
»Gleichviel, bezahlen Sie!«
»Nie!«
»Caro amico, nur ein amerikanischer Millionär ist in der Lage, hier Prozesse zu führen. Und ich weiß, daß Sie kein Millionär sind.«
»Nein, ich bin kein Millionär, aber ich bezahle nicht. Übrigens wohnt hier im Hotel ein amerikanischer Millionär. Ich werde versuchen, ihn für die Sache zu interessieren. Warum nicht ebensogut Prozesse beim Kassationsgerichtshof in Neapel führen wie in Afrika Löwen jagen? Das war seine letzte Lebensaufgabe.«
Doktor Angelis lächelte mit seinen guten schwarzen Augen. Aus dem Schlafzimmer hörte man ruhige Atemzüge.
Der Tod, der Menschenleben und Sterne auslöscht, hatte für diesmal seinen Griff gelockert.
Und die Sterne der südlichen Nacht leuchteten wie befreit.
Der amerikanische Millionär im Hotel hieß Lee. Er war ein flachshaariger junger Mann, der Blankverse schrieb und das Scheren von Schafen und Menschen verpönte. Sein Haar war lang wie das Simsons, und seine Wollbekleidung beschränkte sich auf ein Minimum. Diese Eigenschaften hatten eine Tochter des Multimillionärs Applebloom gefesselt. Infolgedessen war Mr. Lee Multimillionär. Und damit tritt er in die Geschichte ein.
An diesem Abend hatte das ehemalige Fräulein Applebloom Kopfschmerzen und Einsamkeitsgelüste. Sie ging zu Bett, und der Multimillionär Lee ging auf die Gaudé, reich an Haar und Geld. Reich an Haar und Geld begab er sich in den Spielklub der Mittelmeerinsel, wo die Spitzen der Gesellschaft Geld auf die einzige Art zu erwerben suchten, die einst als eines Edelmannes würdig galt. Man spielte Poker. Der Multimillionär Lee begrüßte dieses Spiel mit Freude und wurde seinerseits mit Freude begrüßt. Barone, Grafen, Marquis, ja Fürsten strichen den Rangunterschied und erklärten sich bereit, mit ihm zu spielen. Binnen kurzem saß er an einem Spieltisch, in Adel eingebettet. Die nicht sehr berauschenden Getränke, die bisher dagestanden hatten, wurden von Cocktails abgelöst. Man spielte, und der Multimillionär Lee verlor. Alles war in der besten aller denkbaren Welten aufs beste geordnet. Plötzlich entdeckte der Multimillionär Lee, daß er »Vierlinge« hatte. Das erfreute ihn, aber was ihn nachdenklich stimmte, war, daß zwei seiner Siebener Piquesiebener waren. Ohne etwas zu sagen, rief er »Pott« und verlangte das Aufdecken der Karten. Es zeigte sich, daß sein Gegenspieler, der Fürst war, auch »Vierlinge« hatte, doch in Neunern. Aber was Mr. Lee von neuem nachdenklich stimmte, war, daß zwei seiner Neuner Herzneuner waren.
Der Multimillionär Lee legte die Hand auf diese Neuner und seine Siebener und sah den Fürsten an, der ziemlich viele Cocktails auf sein Wohl getrunken hatte.
»Sagen Sie mir, Fürst, sehe ich doppelt oder Sie?«
Der Fürst erblaßte ohne zu antworten und warf einen wütenden Blick auf das Kartenspiel. Dann warf er so viele Karten, als er erreichen konnte, auf den Boden. Hierauf warf der Multimillionär Lee ihm den Rest der Karten ins Gesicht. Hierauf warfen sich sämtliche Fürsten, Marquis, Grafen, ja auch die Barone auf den Multimillionär Lee. Hierauf warf der Multimillionär Lee sie alle in einem Haufen auf den Boden, wie losgerissene Blätter aus einem Adelskalender. Hierauf erschienen die Karabinieri und wurden als ein strafrechtliches Werk auf den Adelskalender gelegt. Dann kamen noch weitere Karabinieri und wurden ebenfalls zu der Bibliothek gelegt. Dann erschienen so viele Karabinieri unter Führung eines Maresciallo, daß das Zimmer ganz schwarz wurde. Und dann, aber erst dann wurde der Multimillionär Lee überwältigt und zu den Akten gelegt. Und erst dann löste sich das Gewühl von Beinen und Armen auf dem Boden, wie ein »Zitterspiel«, das richtig aufgehoben wird, und rief mit vierzig Lungen; denn es waren zwanzig Personen:
»Weh ihm! Ins Gefängnis!«
Aber mit frischeren Lungen als alle anderen rief der Advokat Montecaldo; denn er war weder bei dem Zitterspiel noch bei dem anderen Spiel mit dabei gewesen:
»Das ist Gewalttätigkeit gegen die Ordnungsmacht des Königs! Wehe ihm! Ins Gefängnis!«
Vierzig fürstliche, marquisliche, gräfliche, ja selbst barönliche Lungen antworteten in einem Rossinis würdigen Chore:
»Wehe ihm! Ins Gefängnis!«
Am folgenden Morgen sah ich Mrs. Lee in der Hotelhalle. Ihre Einsamkeitsgelüste waren über alles Erwarten befriedigt worden. Das Hotelpersonal sah sie scheu an. Ihr Mann, hieß es, hatte die Ordnungsmacht des Königs auf der Insel für Monate, Jahre, ja vielleicht für das ganze Leben dienstuntauglich gemacht. Sein Schicksal war besiegelt. Eine lange, ja eine sehr lange Kerkerstrafe erwartete ihn. Vielleicht sah er nie mehr das blaue Mittelmeer oder den Rauch des Vesuvs. Doch mochte es vielleicht von seiten der Ordnungsmacht des Königs Hoffnung für ihn geben. Die Karabinieri waren wohlwollende Menschen, mit fünfzehn Kindern pro Person und geräumigen Portemonnaies. Auch der Adel des Spielklubs konnte vielleicht einen Strich über das Vorgefallene ziehen. Auch er hatte versöhnliche Gemüter und geräumige Portemonnaies. Aber es gab jemanden, an dem alle Hoffnungen zu Schaum und Nichts zerstoben. Das war der Advokat Montecaldo.
Der verzieh nicht! Sein Rechtsgefühl erbebte in seinen Grundfesten, wie die Gegend um den Vesuv, wenn ein Erdbeben sich vorbereitet. Er versicherte unermüdlich, daß, wenn sich auch die Erde unter ihm auftat, die Kerkertüren sich nie, nein nie vor dem Multimillionär Lee auftun würden.
Man denke sich also meine Verblüffung, als ich die Türe zur Hall des Hotels aufgehen und jemanden auf Mrs. Lee und mich zukommen sah. Und dieser jemand eben der Advokat Montecaldo war.
»Meine Gnädige, ich komme aus einem traurigen Anlaß.«
Mrs. Lee sah ihn mit tränenvollen braunen Augen an.
»Ich kann mir den Anlaß denken.«
»Meine Gnädige, ein Attentat gegen das private und öffentliche Rechtsgefühl ist verübt worden – ein Attentat, zu dem die Annalen dieser Insel glücklicherweise kein Gegenstück aufweisen.«
Mrs. Lee Stimme war von Tränen erstickt.
»Glücklicherweise sage ich, meine Gnädige! Ein Ausländer hat unserem illustren Adel seinen goldstrotzenden Handschuh ins Gesicht geworfen. Gab er sich damit zufrieden? In keiner Weise. Er hob noch einmal diesen kriminellen Handschuh und warf ihn wem ins Gesicht? Niemand geringerem als der Ordnungsmacht des Königs! Meine Gnädige, das ist ein Verbrechen, für das es nur eine Sühne gibt. Fordern Sie mich nicht auf, zu sagen, welche!«
Mrs. Lee schwieg, von Tränen erstickt. Der Advokat Montecaldo ließ sie weinen, bis er mit flötensanfter Stimme fortfuhr:
»Doch, genau bedacht, könnte es vielleicht den einen oder anderen Weg geben, dieses so furchtbare Verbrechen zu sühnen. Denn was sind sowohl die Träger der leuchtenden Namen unseres Adelskalenders, wie die Männer, die gegen geringe Entlohnung ihre Arme in den Dienst der Ordnungsmacht des Königs gestellt haben? Sie sind Menschen. Und Menschen, meine gnädige Frau, wünschen nichts sehnlicher, als die Schläge zu vergessen, die sie auf die linke Backe getroffen haben, um verzeihend die rechte darzubieten. Menschen wünschen nichts sehnlicher, als diese Wange verzeihend darzureichen und möglicherweise« – die Stimme des Advokaten Montecaldo wurde sanft wie eine Flöte – »und möglicherweise ihr Portemonnaie.«
Mrs. Lee hob ihr tränenüberströmtes Antlitz.
»Sie glauben,« murmelte sie, »Sie glauben, daß –«
Der Advokat Montecaldo breitete die Arme aus und schloß die Augen. Er glich einem Bilde der Allbarmherzigkeit.
»Ich glaube, meine Gnädige, daß wenn eine Hand über die geschlagenen Wangen striche und ein paar Scherflein in diese Geldbörsen fallen ließe – nun wohl, ich glaube, daß wenn diese Hand meine Hand wäre, so glaube ich, daß –«
»Ordnen Sie das mit ihm!« flüsterte sie. »Es kann kosten, was es will, wenn mein Mann nur herauskommt! Sie verstehen, alles, was er will! Machen Sie keine Einwände, helfen Sie mir nur, und bezahlen Sie, was er will!«
Eine Stunde später schloß ich (mit erneuerter Vollmacht von Mrs. Lee) ein Übereinkommen mit dem Advokaten Montecaldo. Zufolge dieses Übereinkommens übernahm es der Advokat Montecaldo, Mr. Lee gegen eine Gutmachung für alle Beteiligten – Adel, Ordnungsmacht und Gerichtsbarkeit – von fünfzigtausend Lire (zweitausend Dollar) aus dem Gefängnis zu befreien.
Als wir in dieser Affäre einig waren, senkte der Advokat Montecaldo die Stimme und sagte:
»Ja richtig, kennen Sie einen Schweden, der hier im Hotel wohnt? Einen Schriftsteller? Es scheint seine Absicht zu sein, unseren höchst hervorragenden Mitbürger, Doktor Duomo, um das Honorar für seine ärztliche Behandlung zu prellen. Doktor Duomo hat seine Frau behandelt und sie von einem gefährlichen Typhus gerettet, der durch den jungen Scharlatan, Doktor Angelis, vernachlässigt worden war. Doktor Duomo hat die Sache jetzt in meine Hände gelegt. Am liebsten wäre es ihm, sie durch ein freiwilliges Übereinkommen geordnet zu sehen. Aber er möge nur wissen, dieser schwedische Herr, daß es in Italien eine Gerechtigkeit gibt, wenn vielleicht auch nicht in Schweden, und daß diese Gerechtigkeit wacht! Was ich Sie fragen wollte: Kennen Sie ihn?«
»Ich kenne ihn«, sagte ich sehr hastig. »Es fügt sich vortrefflich, daß ich Sie getroffen habe, signore avvocato Ich bin nämlich auch der Vertreter dieses schwedischen Schriftstellers. Ich habe den Auftrag, seine Sache mit dem Doktor sofort und durch freiwilliges Übereinkommen zu ordnen. Die Rechnung des Doktors betrug ja nur achtzehnhundert Lire, nicht wahr? Bitte sehr. Darf ich um eine Quittung bitten.«
Sechs Wochen darauf erhob sich eine abgemagerte Patientin vom Krankenbett – fünf Wochen später, als ohne Kamillentee und Blutegel nötig gewesen wäre –, und weitere fünf Wochen später verließ die Rekonvaleszentin und ich die kleine Mittelmeerinsel. Doktor Angelis, der unser Freund geworden war, begleitete uns zum Hafen. Auf der Reede stießen wir mit dem Advokaten Montecaldo zusammen. Er fuhr nach Neapel, um eine Rechtssache vor dem Kassationsgerichtshof zu vertreten – eine Rechtssache, die er von seinem Vater ererbt hatte, der sie von seinem Großvater ererbt hatte.
Doktor Angelis lächelt ihm ironisch mit seinen guten schwarzen Augen zu. Advokat Montecaldo hingegen starrte uns drei mit einem kalten Blick an, einem Blick, der gewohnt war, Herz und Nieren, nach den Methoden der berühmten Neapolitanischen Schule zu prüfen und der zu verstehen schien, daß die Justitia sich diesmal zugunsten der Medicina hatte anführen lassen.
Aber wir konnten sowohl der Justitia wie der Medicina Trotz bieten, denn wir hatten sowohl von der Justitia wie der Medicina eine Quittung, daß alles bezahlt war.
Und der Dampfer glitt, und das Meer war blauer als Seide, und der Rauch des Vesuvs quoll wie ein erstarrter Pistolenschuß aus dem Krater, und die Luft war weicher als Samt, und der Dampfer glitt.