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Kapitel VI

»Ich weiß nicht, was mir hier gefällt.
In dieser engen kleinen Welt
Mit holdem Zauberband mich hält?
Vergeß ich dich, vergeß ich gern,
Wie seltsam mich das Schicksal leitet;
Und ach, ich fühle: nah und fern
Ist mir noch manches zubereitet.«

Goethe hatte wenige Tage vor dem Feste einen Brief aus Straßburg erhalten. Professor Jeremias Oberlin, sein geliebtester Lehrer, schrieb ihm voll Lob, fast Begeisterung über einen Aufsatz, den Goethe ihm vor der Abreise im Konzept gebracht, und den der Professor nun gelesen hatte. »Über deutsche Baukunst.« Oberlin schrieb, er halte es für seine Pflicht, ihm dringend zu raten, die akademische Karriere zu ergreifen und sogleich nach bestandenem Examen sich an der Straßburger Universität für Geschichte, Redekunst und Staatsrecht zu habilitieren. Bei seinen herrlichen Gaben werde es ihm ein leichtes sein, in Kürze eine Professur zu erlangen. Habe er erst einmal die, sei ihm über kurz oder lang eine Anstellung in Versailles an der deutschen Kanzlei gewiß. Was für ihn einen ebenso ruhmreichen wie angenehmen Wirkungskreis für das ganze Leben bedeuten würde. Goethe hatte einen Augenblick der Lockung gelauscht. Tätigkeit, Stellung, Ruhm schon in so jungen Jahren! Dann aber hatte er ein Blatt Papier ergriffen und darauf entschiedensten Protest gegen diese verfrühte Einschirrung in Amt und Beruf leidenschaftlich hingeströmt, wie es sein Temperament ihm eingab. »Ich würde sein wie ein Pferd mit Scheuklappen, das seinen Narren im Trott auf ebener Landstraße weiterzieht, anstatt in die Welt hineinzusprengen, sich bald auf Frühlingswiesen zu tummeln, bald mit donnerndem Hufschlag über Strombrücken zu jagen«, sudelte er hin. Dann an anderer Stelle: »In Versailles würde ich gezwungen sein, französisch zu denken und zu dichten. Und das gerade jetzt, da hier im Elsaß die ganze Kraft und Schönheit des deutschen Mittelalters in mir lebendig geworden ist und nach Gestaltung verlangt.« Und wieder: »Wohl will ich mich einem Berufe beugen. Aber einzig dem, den ich wirklich als Ruf der Gottheit in mir spüre. Erst hier auf dem Lande, im Umgange mit der Natur und im herzlichsten Verkehr mit guten, unverfälschten Menschen hatte ich Stille genug, um diesen Ruf zu hören. Erst hier habe ich Aufgabe und Sendung meines Wesens verstanden. Aus der Liebe dieser Menschen habe ich Gesundung getrunken des Leibes und der Seele. Flügel sind mir gewachsen. Nun zucken sie empor und wollen fliegen. Ich darf mich nicht nach Gefallen gestalten. Ich fühle mich gesandt, das Weltbild neu zu gestalten. Dazu aber muß ich die Welt erst kennenlernen in allen ihren Höhen und Tiefen, muß mich an ihr erproben. Verkrieche ich mich jetzt schon in einer ihrer Ecken, so habe ich gesündigt gegen mich selbst. Das darf nicht sein. Mir selber muß ich Opfer bringen. Opfer auch verlangen können, wenn das not tut.«

Alles das hatte er mit fliegender Feder hingeschrieben, fast ohne es vorher zu denken, wie von einer unerbittlichen Macht diktiert. Er hatte dankbar, höflich seinem Gönner erwidern wollen, überlegen, fragen. Nun war es dieses ungestüme »Nein« geworden. So konnte er das Blatt nicht abschicken. Er schloß es in seine Mappe, es später als Konzept zu benutzen. Dann kam das Fest, die Stunde in der Jasminlaube mit Friederike. Noch in derselben Nacht zerriß er das Blatt Papier.

Eine symbolische Handlung.

In die Welt gehen? Jetzt? Fort von seinem Mädchen? Konnte er das heute noch wollen? Unmöglich!

Seine Träume aber waren andrer Meinung.

Er sah sich mit Friederike durch hohe, blühende Wiesen gehen, aber er kam durchaus nicht vorwärts, so kleine Schrittchen machte sie, die fest an seinem Arm hing. Denn auf einmal war es gar nicht mehr Friederike, sondern die winzige Dame vom Rheininselchen.

Der Rücken tat ihm weh, so tief mußte er sich zu ihr herunterbücken. Die Kassette hatte sie ihm auf den Rücken gebunden. Bei jedem Schritt schlug sie schmerzhaft an ihn an. Die kleine Dame zog einen Ring vom Finger, den steckte sie ihm an. Das tat entsetzlich weh. »Nun sollst du mit mir in meinem Land wohnen«, sagte sie dabei mit einem hohen, grellen Stimmchen. »Krieche mit mir in diese Kassette. Das wird unser Häuschen sein.« Er aber begann zu weinen. – – Sein Kopfkissen war ganz naß, als er beim ersten Morgenschein erwachte. Draußen regnete es. Ein Landregen. Die Wiese, auf die er blickte, sah zertreten und häßlich aus. Die Berge am Horizont verschwunden. Alles grau und schwül. Wie abgestanden. – – –

Auch Friederike hatte wenig geschlafen. Sie fühlte Stiche in der Brust, und gegen Morgen stellte sich leichtes Fieber bei ihr ein. Aber sie litt nicht. Fast hätte sie es als Verschwendung empfunden, zu schlafen, wenn man so voll Seligkeit ist. Nichts von Staunen war in ihr und nichts von Unruhe. Sie war in diese Liebe hineingewachsen, wie die junge Blume in die Sonne emporwächst, von der sie lebt. Alles war so selbstverständlich geschehen, wie es im Märchen geschieht. Und daß sie gestern sich geküßt und ihre Liebe sich in Worten gesagt haben, das gehört genau so zu allen märchenhaften Selbstverständlichkeiten wie alles andre.

Und heute ist ein neuer Tag. Und er ist da. Sie werden beieinander sein, sich lieben, sich verstehn. Ihre Hände brennen. Als draußen das Rauschen beginnt, tut es ihr gut, an Regen und Kühlung zu denken. Und daß sie nun beide im Zimmer bleiben müssen in diesem Wetter. Beide. Auch das Zuwachs an Glück.– –

Friederike ist aufgestanden. Aber die Stiche in der Brust werden stärker; ihr Herz bäumt sich wie ein Fluß zwischen Steinen. Und sie ist ganz heiser. Die Mutter schickt sie wieder zurück ins Bett. Sie schilt über das abendliche Promenieren, bei dem man sich erkältet. Dabei sieht sie Friederiken forschend ins Gesicht. Die gibt diesen Blick in Strahlen zurück.

Und weiter wird nichts mehr erklärt zwischen Mutter und Tochter. Es ist im Pfarrhause nicht Brauch, über Herzenssachen zu reden. Der Vater läßt ahnungslos wachsen, was da wachsen mag, die kluge Mutter schaute wohl scharf zu und lenkte leise, aber sie redete nicht. Diesmal hielt sie es für das beste, die Dinge gehen zu lassen. Kam er wieder, war es gut. Kam er nicht – vielleicht noch besser. Der gute Gottlieb war dann immer noch da. – – So schwieg sie.

Salome dagegen konnte ihren Mund nicht halten. Während sie das gemeinsame Zimmer aufräumte, nickte sie bedeutungsvoll zu Friederike hinüber, die im Bett ihre Zöpfe flocht. »Na, und der Monsieur Goethe? Machen wir eine Doppelhochzeit?« Da aber Friederike auf ihren Hals zeigend schwieg, ließ sie von Fragen ab, obgleich sie die List durchschaute.– –

Friederikes Kranksein war für den Liebenden eine große Enttäuschung. von ihrem klaren Gesicht hatte er Beruhigung erhofft. Sie würde ihn küssen und alles war wieder gut. Statt dessen brachte ihm wichtig und umständlich das Sophiele die Morgensuppe in sein Zimmer hinauf. Unten sei noch alles in Unordnung, das Sälmel schelte in der Küche herum, weil die Mägde gestern allerlei Geschirr und Glas zerbrochen hätten; der Vater sehe bedenklich in den Regen. Das Getreide sei ja in diesem Jahre noch so spät auf dem Halm und hätte sollen morgen geschnitten werden. Sie redete wie eine Alte und fühlte sich wohl darin.

Gegen Mittag endlich durfte er sie sehn. Immer wieder war er an ihrer Tür gewesen, aber die Mutter hatte ihn weggewiesen: die Tochter dürfe nicht reden. Sie selbst ließ ihn bitten, vernünftig zu sein. Sie kenne ihr Übel und wisse, wie es zu behandeln sei. Um ihn loszuwerden, schickte Salome den Dringlichen in das nächste größere Dorf zum Apotheker. Er lief, den Wettermantel um sich geschlagen, barhäuptig durch den Regen davon, das Haupt emporgewendet. Im Laufen löste sich sein Haarband, der wind peitschte ihm die nassen Locken ins Gesicht – er achtete es nicht.

Frau Brion sah ihm nach, wie er dahinstürmte, Etwas Verzücktes und Wildes lag in seinem Schreiten. So ging keiner, den sie kannte! Sie ließ die Männer ihres Kreises in Gedanken an sich vorüberziehen: Marx, Gottlieb, ihren guten Mann, die Straßburger Verwandten und Freunde – keiner!

Und in der vom Alltag vernutzten Frau stand gegen Vernunft und Vorsicht ein Verstehen auf für Friederikes Liebe. Dies Verstehen lag auch in ihrer Stimme, als sie, sich ins Zimmer zurückwendend, zu Friederike sagte: »Dein Goethe rennt wie ein Närrischer um deine Medizin.«

Das blasse, goldgezöpfte Mädchen lächelte in ihre Kissen. Sie hatte eine Erlaubnis herausgehört aus den paar Worten. – –

Kaum Zeit, den Mantel abzulegen, nahm er sich. Dann saß er still an ihrem Bett, nahm ihre Hand und hielt die Augen über ihr Gesicht, daß es ganz überflutet war von seiner Liebe.

Es war ein großes, niedriges Zimmer, in dem Friederike lag. Im Alkoven standen die Betten der beiden Ältesten, jedes mit weißen Musselinvorhängen duftig umhüllt, ein großer runder Tisch in der Mitte, an der Längswand ein breites, geblumtes Rattunsofa, auf dem nachts für Sophie gebettet wurde. An einem der grün umrankten Fenster stand das Nähtischchen, am andern eine alte, schöne Schreibkommode, an den Wänden Bücherbrettchen, Blumen in Töpfen und Vasen, Familienbilder. Die Ecke mit den Waschtischen durch einen geblumten Vorhang abgeschrägt. Das Ganze hatte in seiner Bescheidenheit und sauberen Ordnung etwas von Tradition und Kindlichkeit zugleich, das Andacht weckte. Der junge Goethe wenigstens empfand es so.

»Was sehen Sie, mein Freund?«

»Ich betrachte mir die Stube, in der man mir mein Mädchen bewahrt.«

Sie vermochte nur flüsternd zu sprechen. Unwillkürlich erwiderte er ebenso. Das gab allen ihren Worten etwas Tuschliges, Heimliches und Trauliches. Zuletzt zog er Oberlins Brief aus der Tasche, las daraus und berichtete sogleich von seiner Absage und von dem Zerreißen des Konzeptes heut nacht.

Das war sehr süß zu hören für das Mädchen. Andächtig las sie dann sein Lob im Briefe. Er malte ihr aus, wie es sein würde, wenn sie einmal in Versailles zusammen wohnten. Unwillkürlich brauchte er ähnliche Worte wie gestern im Märchen für das Zwergenhaushältchen, sprach von Kaminchen, Tischchen, Tellerchen und Stickereichen. Und während er erzählte, beugte er sich ganz zusammen. Aber keiner von ihnen beiden achtete darauf.– – –

Goethe war abgereist. Er hatte in Straßburg zu tun. Und wollte auch mit Oberlin über dessen Vorschläge reden. Seine Sachen hatte er dagelassen, wollte in Kürze zurückkommen, wurde aber durch Examenvorbereitungen und den Besuch seines Freundes Herder in der Stadt zurückgehalten. Auch aus der Trennung aber schufen sich die Liebenden neue Freuden. In Friederikes Schreibkommödchen häuften sich die Briefe. Briefe, die oft zu Versen wurden.

Friederike beantwortete diese Briefe alle mit ihrer leichten, tanzenden Schrift, die er liebte. Sie war oft selbst erstaunt darüber, was für eine flinke Briefstellerin sie wurde. Freilich schrieb sie keine geistvollen Betrachtungen, machte keine weitläufigen Schilderungen. In der wundervollen Sicherheit ihres Wesens ging sie nie über ihren Kreis hinaus. Aber indem sie vom Nächstliegenden erzählte und dabei des Freundes dachte, der sie hören sollte, formte sich ihr alles freier, bildhafter. Wie ein Mensch, der lange verreist gewesen, sah sie die Heimat plötzlich neu. So, ohne recht zu gewahren, wuchs sie an dem Entfernten.

Und dann kamen all die herrlichen Liebesgedichte, die Friederike feierten. Immer wieder las sie das Gedichtchen, das er ihr mit einem selbstgemalten Bande schickte und das so innig endete:

»Mädchen, das wie ich empfindet,
Reich mir deine liebe Hand,
Und das Band, das uns verbindet,
Sei kein schwaches Rosenband.«

Ja, sie war reich. Reich wie keine.

Noch nicht völlig genesen, stieg Friederike eines Morgens langsam das Obertreppchen hinauf ins Logierzimmer. Man mußte es für etwaige andere Gäste instandsetzen. Und sie wollte es sich nicht nehmen lassen, all die Sachen und Sächelchen zu ordnen, die der allzu Sorglose um sich her zu streuen pflegte. Es war ihr eine zarte Freude, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, die ihm gehörten; zu fühlen, daß sie teilhatte an jedem Wort, jedem Gedanken, der in diesem Zimmer entstanden ist. Sie nahm jedes einzelne zärtlich in die Hände, faltete und bündelte mit Sorgfalt und ordnete alles in einen kleinen Handkoffer, den sie heraufgebracht hatte. Zuletzt griff sie noch in den Papierkorb. Ein zerrissenes Blatt lag obenauf. Das Briefkonzept für Versailles: Sie las und setzte sich auf einen Stuhl und schluchzte. Leid und Glück hatten gleichen Teil an diesen Tränen. »Ich muß die Welt kennenlernen«, las sie, »in allen ihren Höhen und Tiefen. Verkrieche ich mich jetzt schon in einer ihrer Ecken –« Dann aber kam eine Stelle, die ihr Trost gab. »Erst hier bei guten, unverfälschten Menschen, die ich liebe, habe ich Stille genug gehabt, den Ruf der Gottheit an mich zu vernehmen. Und ich habe Gesundung getrunken an der Liebe dieser wahrhaftigen Menschen, die von ihrer Erde Schönheit und Weisheit lernen.« Er war gesundet an ihr! Was wollte sie noch mehr? Und leise fing sie an zu summen. Sein Lied:

»Schicksal segne diese Triebe,
Laß mich ihr, und laß sie mein,
Laß das Leben unsrer Liebe
Doch kein Rosenleben sein.«

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