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»Er stand vor mir, ich fragt' ihn, wer er sei?
Er schwieg ein Weilchen, dann versetzt er lächelnd:
›Nichts bin ich, wenn du mich verachtest; viel,
Wenn du mich lieben könntest.‹«
(Claudine v. Villa Nella.)
Als Weyland am nächsten Morgen etwas spät zur Morgensuppe herunterkam, hatte er ein strenges Verhör bei Frau Brion zu bestehen. Wie lange er den Kandidaten Werner schon kenne? Und ob man ihm denn wirklich trauen könne? »Ich bin überzeugt, er hat den Vater angeborgt, als er mit ihm allein war. Vater sagt ›nein‹, aber man kennt ihn ja! Ein Mann, dem man die Nase aus dem Gesicht stehlen könnte, ohne daß er Argwohn schöpft. Ich sage Ihnen aber: Ein Schauspieler ist das eher als ein Kandidat. Und wer weiß, was sonst noch! Mitten in der Nacht bin ich aufgestanden, in der Speisekammer nach den Würsten zu sehen. War es mir doch, als hatte ich jemanden die Treppe hinunterspringen hören. Fideel war ganz still, also war es einer, den er kannte. Und zurückkommen hörte ich keinen. Er muß auf Socken geschlichen sein!«
Weyland machte ein verzwicktes Gesicht. »Sie brauchen nicht mehr um Ihre Würste und Schinken besorgt zu sein, liebe Tante«, sagte er endlich. »Der Störenfried ist fort.«
Lachend erzählte er. »Der Goethe hatte aber wohl recht,« meinte er schließlich, »ich hätte ihm von dem tollen Einfall abreden sollen. Jetzt ist er ganz außer sich und will niemals wieder herkommen.«
Frau Brion sah nachdenklich aus. »Freilich hätte man gern die interessante Bekanntschaft gemacht. Aber vielleicht ist es doch gut, daß er nicht wiederkommt.« –
»Vielleicht ist es doch gut!« wiederholte sie, als sie durch die Küche auf den Hof hinausging, in dem Friederike rosig und strahlend ihren Hühnern Futter streute.
»Der Kandidat ist abgereist,« sagte Frau Brion leichthin zur Tochter, »er läßt uns seine Entschuldigungen sagen.«
Friederike setzte den noch halbgefüllten Napf auf den Brunnentrog. »Warum?« fragte sie. Sie war blaß geworden. »Aber ich weiß,« fuhr sie heftig fort, »der arme Mensch hat sich beleidigt gefühlt. Keiner von euch war herzlich zu ihm. Und Weyland behandelte ihn wie seinen Domestiken. Ein Mann wie der! Wenn er gleich nicht viel spricht – – in dem steckt mehr als in uns allen zusammen. Das spürt man.« Sie brach in Tränen aus.
»Es war der Herr Goethe,« rief jetzt Salome zum Fenster heraus, »als armer Kandidat verkleidet. So ein Lausbub!« Sie lachte unbändig.
»Ja, er war's,« sagte Frau Brion, »er hat sich seinen Spaß machen wollen mit uns. Reicher Leute Kind. Und ein Genie, wie man erzählt.« Und zum dritten Male an diesem Morgen sagte sie mit Überzeugung: »Gut, daß er fort ist.«
Friederike ging ins Haus. Die Hühner hatten sich über den Napf hergemacht und ihn leergefressen. Sie ging in ihre Stube, legte das hübsche geblümte Schürzchen ab, das sie sich in aller Frühe vorgebunden hatte, und tat eine häuslichere um und zog den Pfeil aus ihrem Haar, daß die Zöpfe lang herabrollten. Der Kopf tat ihr weh. Das also war der Goethe? Der vom Einzugsfest? Nein, sein Gesicht hatte sie nicht erkannt unter der Kandidatenmaske. Aber der Mensch selber hatte sich vor ihr nicht verbergen können!
Sie wurde wieder froh bei diesem Gedanken.
Weyland hatte mit den beiden Mädchen einen Spaziergang ins Flußtal hinein gemacht, Ein Verwandter von ihm war Verwalter eines nahen von Dietrichsschen Gutes. Den wollte er besuchen. Friederike verabschiedete sich kurz vor dem freundlich gelegenen Gehöfte. Sie mochte nicht immer aufs neue Schwester und Vetter über die lustige Verkleidung schwätzen hören. Sie, der sonst das Lachen so leicht über die Lippen sprang, konnte heute nicht recht mittun dabei.
Den großen Strohhut am Arm, ging sie den Weg zurück, bis sie zu der Wiese von gestern abend kam. An der breiten Schwarztanne blieb sie stehen. Sonne schien heute auf die feuchten Nadeln, daß sie funkelten. Sie sah zu dem Waldhügelchen empor. Dort, unter einer jungen Buche, stand eine selbstgezimmerte Bank, vom Vater mit der Aufschrift »Friederikensruh« gezeichnet. Da hinauf wollte sie jetzt.
Elastisch stieg sie die sanfte Anhöhe empor. Jetzt bog sie um die Tannengruppe, die ihr die Bank verdeckt hatte. Da saß jemand. Ein Bauernbursche. Das mußte ein fremder sein. Die Leute vom Dorfe gingen nicht am hellen Tage spazieren. Und sich auf Friederikes Bank zu setzen hätte keiner gewagt.
Der Bursche war jetzt aufgestanden und drehte ihr den Rücken zu. Er schien mit einem Messer, das herüberblinkte, an der Buche herumzuschnitzeln. »Heda,« rief sie, »guter Freund, was macht Ihr da?« Sie erkannte jetzt die Sonntagskleider von Schorsch Klein, dem Wirtssohn aus Drusenheim. Aber seine Gestalt war es nicht. Ihr fiel ein: Wahrscheinlich ist sein Vetter Jakob aus Straßburg auf Urlaub hier und hat statt der Uniform Schorschs Anzug an.
Jetzt war sie angelangt. Und schrie leicht auf. Zwei wohlbekannte schwarze Feueraugen blickten auf sie hin. »Mamsell Friederike!!« Er schien ebenso erschreckt wie sie selbst. Sorgsam führte er sie zur Bank, auf der sie sich schnellatmend niedersetzte. Eine helle Röte war ihr ins Gesicht gestiegen. Er stand vor ihr. Und plötzlich (schade um Schorsch KIeins beste Samthosen und blauen Strümpfe) kniete er zwischen feuchten Tannennadeln und brauner Buchenstreu vor ihr, nahm ihre Hand und küßte die. »Soll ich gehen? Sind Sie mir böse?«
Friederike hatte sich gefaßt. »Sie spielen Ihre neue Rolle schlecht, Herr Goethe«, sagte sie mehr anmutig als streng. »Die Bauernburschen hierzulande küssen nicht die Hand.«
»Weyland hat also gebeichtet?«
Sie nickte.
»Und Absolution erhalten?«
»Die müssen Sie sich selber holen.« Ihr war auf einmal leicht und vogelselig zumute geworden. Wie er da vor ihr stand in der vertrauten Tracht des guten Schorsch, schien ihr das Bedeutungsvolle und Kühne dieses Gesichts nicht mehr so im Abstand zu sein von ihrer eigenen Welt wie damals in Straßburg.
Sie äußerte ihm das in ihrer leichten, liebenswürdigen Art. »Aber nun stehn Sie auf, Sie arger Komödiant und Raschperle.«
»Nein, lassen Sie mich Abbitte tun!«
Sie zog ihn freundlich empor. »Aber ganz ohne Strafe kommen Sie uns nicht davon. Sie müssen uns erzählen, wie sie in die neue Verkleidung gekommen sind? Nein – nicht jetzt, nicht hier. Unten vor uns allen. Jetzt« – sie machte ihm mit einer mädchenhaften Bewegung auf der Bank neben sich Platz – »jetzt sollen Sie mir nur geschwind sagen, warum Sie gestern nacht davonliefen. Hatten wir Ihnen denn etwas getan?«
» Sie mir?« Und nun brach es hervor, in stürzenden, von Leben dampfenden Worten: Seine Reue, seine Flucht, sein verzweifeltes Reiten durch die Nacht, sein Abscheu davor, nach Straßburg zurückzukehren, ohne sie wiedergesehen, ihre Verzeihung erbeten zu haben. So sei er in Drusenheim geblieben. »Ich hätte es nicht ertragen, noch mehr Weg zwischen uns zu legen, Mamsell Brion.«
»wirklich?« sagte Friederike befangen.
Goethe sprach weiter: Von der Unmöglichkeit, vor ihr noch einmal in so lächerlichem Aufzuge zu erscheinen, wie er sich dem Drusenheimer Wirtssohn anvertraut, der ihm seine Kleider geborgt und behauptet habe: Im Sesenheimer Pfarrhaus sei ein Scherz in Ehren jederzeit willkommen.
Friederike nickte, »Er hat Recht, wir werden heute mittag brav zu lachen haben.« Plötzlich wurde sie feuerrot. Sie hatte entdeckt, daß sie mit hängenden Zöpfen hier saß wie ein kleines Bauernmädchen.
Ganz verwirrt senkte sie das Köpfchen. Was mußte der junge Frankfurter von ihrem Aufzuge denken!
Der aber saß ganz still, wie man mit angehaltenem Atem ein Waldvögelchen belauscht, das man mit einer zu raschen Bewegung zu verscheuchen fürchtet. Art und Gebärde des Madchens an seiner Seite prägten sich ihm unverlöschlich ins Herz. Für immer. Wer heute seine Werke liest, wird darin immer wieder Friederike auferstehen sehen, wie sie an jenem Maimorgen in Lieblichkeit und Reinheit da in ihre grüne Heimatswelt hineinlächelte; ihr zugehörig und in ihr beglückt. Nun aber schon ahnungsvoll gestreift von etwas Fremdem, Stürmendem, dem sie sich erwartungsvoll entgegenwandte.
In diesem Augenblick freilich machte der junge Mann keine Reflexionen. Fühlte nur Dank und Wonne. Und versank in schöner Gegenwart.
Sie schwiegen lange. »Wie kühl die Wiesen zwischen den schwarzen Waldhümpeln lagern«, sagte endlich Goethe träumerisch. »Ganz ruhig gleiten einem die Augen über Dorf und Ebene. Bis hinüber zum Rhein, der uns seine begrünten Inselchen wie samtne Ruhekissen entgegenhält. Wenn man das sieht – – man mochte am liebsten alles aufgeben, was draußen lockt und nach einem verlangt.«
»Ja, hier ist's schön«, sagte Friederike. »Ich möchte nicht so im Lärmenden und Unruhigen wohnen. Hier hat einen alles lieb. Man kennt jeden Baum, weiß seine Geschichte, hat etwas mit ihm erlebt. Dieser zum Beispiel – –«
Sie legte ihren Arm um den glatten, schlanken Stamm der Buche, stockte, sah Goethe an.
»Ein W. und ein G.? Haben Sie das vielleicht – –«
Er sah ganz bestürzt aus. »Ich wagte mich nicht gleich ins Pfarrhaus. Leute gingen da. Es zog mich mit Gewalt zum Feldweg – gestern war's so schön dort – dann der Hügel, hier der Baum – – Ich wollte Ihnen ein Zeichen lassen, daß ich hier gewesen sei – – Friederike sah vor sich hin. »Es ist mein Baum«, sagte sie dann. »Vor vier Jahren zu meiner Einsegnung haben auch wir unsere Namen hier einschneiden wollen, dann aber reichte die Geduld nicht aus. So blieb es bei ein paar Buchstaben. Die meisten sind bereits verzerrt und heut' nicht mehr zu lesen. Ich hatte mir rechte Mühe daran gegeben. Und so steht mein Name denn auch noch deutlich da.«
»Ja wirklich. Und gerade über meinem.«
»Sie sahen ihn nicht?«
»Ich hatte in dem ›R‹ keine ›Friederike‹ vermutet, nun ist's wie Fügung!« rief er ihr entgegen. Er hatte wieder sein Messer vorgezogen und arbeitete an jenem verwachsenen »Riekchen« herum. Sie sah zu.
So standen sie beide vor dem jungen Baum, der sein goldgrünes Seidenkleidchen strack und ziervoll zwischen die schwarzen Tannen hielt. Goethe legte zuletzt die Hand an den Schaft. Er blickte entrückt. Und als ströme der Baum die Worte in ihn ein, kam es tropfenweise von seinen Lippen:
»Dem Himmel wachs entgegen
Du Baum, der Erde Stolz. –
Ihr Wetter, Stürm' und Regen,
Verschont das heil'ge Holz! –
Und soll ein Name verderben.
So nehmt den obern in acht,
Es mag der Dichter sterben,
Der dieses Lied gemacht.«
Friederike hatte mit naiver Andacht auf die Lippen des Sprechenden gesehen, als wolle sie dort das Geheimnis des Dichtens, das ihr zum ersten Male nahetrat, ergründen. Dann aber sagte sie unvermutet hell: »Warum die Dichter nur immer so viel vom Sterben reden! Es denkt doch keiner von ihnen so recht daran. Gelt?« In ihrem Blick lag die Frage: »Du doch auch nicht. Wo uns jetzt das Leben erst recht schön werden soll!« Und Goethe verstand die stummen Worte. Denn er breitete die Arme aus gegen die Herrlichkeit ringsum und gegen das Mädchen. »Nein, noch lange, lange nicht!«
Sie nahm ihren Hut. »Ich gehe jetzt. Bleiben Sie da. Und schneiden Sie nur ruhig ihren Namen fertig aus. Wir wollen ihn schon gut hüten. Es findet sich auch wohl ein oder der andere hinzu«, meinte sie neckend. Er sollte nicht wissen, daß sie niemanden mehr leiden würde da neben ihnen zweien!
»Darf ich also wirklich ins Pfarrhaus gehen?«
»Ich werde Sie als dem Schorsch seinen Vetter ankündigen. Setzt Euch, wenn Ihr kommt, nur recht bescheidentlich auf der Bank nieder, die vor unserm Hause steht. Gelt? Oh, wir werden eine arg lustige Komödie miteinander brauen, Herr Dichter. Und nun, au revoir, Jaköble. Und seid recht brav.«
Er sah ihr nach, wie sie, den sonnengelben Hut am Arm, mit fliegenden Zöpfen durchs Wäldchen lief, setzte sich, sprang auf, klatschte wie ein Besessener in die Hände, tanzte und sang. Wieder Verse:
»Ich hab' sie gesehen,
Wie ist mir geschehen!
O himmlischer Blick!
Ihr Büsche, ihr Bäume,
Bewahrt mir das Mädchen,
Bewahrt mir mein Glück!«
*
Pfarrer Brion war im nahen Runzenheim zu einem Begräbnis gewesen. Er kam in Talar und Bäffchen. Und da er im Vorgärtchen die Hühner im Ranunkelbeet picken sah, scheuchte er sie mit dem Zipfel des geistlichen Gewandes scheltend davon. Fand auch kein Arg dabei, daß ihm bei diesem weltlichen Tun ein Bauernbursche zusah, der vor dem Hause auf der Steinbank saß. »Bist du es, Schorsch?« fragte er hinüber. Dann aber sah er, daß es nicht der Drusenheimer Wirtssohn war, der da saß, sondern nur sein Sonntagsstaat, und drin ein fremder Kerl, prall und kräftig, der jetzt aufstand und, sonderbar genug, den Bänderhut nicht lupfte.
»Bringst du was für die Pfarrerin?«
Der Bursche schien einen starken Schnupfen zu haben. Er hantierte mit seinem rotkarierten Taschentuch so gewaltig in seinem Gesicht herum, daß es ganz davon verdeckt war.
»Ich werde meine Frau rufen«, sagte der Pfarrer, dem die Sache zu lang wurde.
Drinnen im Hause hatte gerade Friederike dem Bärbel zugerufen, ihr Schatz, der Jakob, sei auf Urlaub und werde gleich hier sein. Geschwind solle sie sich putzen und ein freundliches Gesicht machen. Die Uniform habe er zu Hause gelassen und die Kleider vom Schorsch angezogen.
Als nun der Vater berichtete, »es sitze einer draußen, den er anfangs für den Schorsch gehalten«, lief das hübsche Maidele hinaus, schlang von hinten die Arme um den Burschen, drehte ihm den Kopf zurück und küßte ihn so recht von Herzen. Eine ganze Weile. Warum aber küßte er nicht wieder? Warum sprach er nichts? Auf einmal schrie sie auf. »Ich dank' auch schön«, hatte eine fremde Stimme gesagt.
»Sind denn heut' alle behext?« dachte die Pfarrerin, als das Bärbchen an ihr vorbeiflog und dabei ein immer erneutes gackerndes Lachen ausstieß, das schon halb ein Weinen war. Friederike war so sonderbar lustig heimgekommen, der Vater ganz hilflos von draußen hereingestürzt. Und ist das denn auch wirklich der Jakob, der da sitzt und jetzt, da sie näher kommt, aufsteht und sich den Hut vors Gesicht hält, obgleich die Sonne auf der anderen Seite steht.
Sie trat näher. Da setzte er rasch den Hut auf. Aber sie hatte bereits die städtische Frisur bemerkt mit Seitenrollen und zusammengebundenen Nackenlocken, die er darunter verbarg.
»Also wieder ein Verkleideter! Der zweite seit gestern! Und« – die gute Frau zweifelte nicht daran – »der gleiche!«
Auch ahnte sie den Zusammenhang.
Aber sie verriet sich nicht. Nun wollte auch sie ihren Spaß haben.
»Ihr habt da eine heikle Sache angestellt, guter Freund,« sagte sie in scheinbarer Ängstlichkeit, »das arme Bärbel sitzt in der Küche und weint. Gleich wird der Jakob hier sein. Ein Wüterich. Ihr seid vor seiner Rache nicht sicher. Wir müssen Euch verbergen. Ich will meine Töchter rufen und mit ihnen beraten, wo wir Sie am besten einsperren können so lange.«
Es wurde eine lustige Szene, in der jeder seine Rolle zu eigenem Vergnügen spielte. Weyland, der sich nicht groß verstellen konnte, sah mit gutem Lächeln von einem zum andern, Friederike schürte lustig die Verwirrung, das Bärbel, herbeigezerrt, schämte sich auf eine wunderhübsche Art. Zuletzt wußte niemand mehr, wer eigentlich der Gefoppte war, und wer foppte. Sophie und Christian hopsten vor allgemeiner Freude an der Lustigkeit dazwischen und begriffen nichts. Dann ging's zu Tisch.
Vater Brion kam ahnungslos herein, verwundert, den Jakob Klein als Tischgast vorzufinden. Er sah ihn ein paarmal fragend an, vergaß dann seiner wieder nach seiner zerstreuten Art. Und als die Mutter sagte, »der Jakob Klein bitte um die Erlaubnis, etwas zu erzählen, brummelte er ein lässiges »Meinetwegen«.
Allmählich aber merkte er auf. Vom Goethe wurde da erzählt, den der Hafer gestochen und der sich nachträglich seines Streiches so unbändig geschämt, daß er flugs einen neuen beging.
Die ganze Geschichte nahm in diesem Munde gleich die Form eines kleinen Kunstwerks an, voll Humor, Spannung und reizender Schalkhaftigkeit. Er flocht die Porträts der Anwesenden mit hinein. Jeder fühlte sich so scharf und klug und dabei doch so gütig gesehen, daß er in die beste Laune geriet. Und die Jüngsten, die zu spät zu Tisch gekommen waren und nun nur den Schluß gehört hatten, konnten sich nicht beruhigen mit Fragen und Entzückungen. Zum Schluß improvisierte Goethe dann eine kleine, komisch-pathetische Verzweiflungsszene, in der er Besserung gelobte.
Frau Brion trug die ganze Zeit über ein frohes Lächeln um den schmalen Mund. Wie schön es doch ist, jung zu sein wie der! Und sich das Leben bunt zu machen! Und ein herrlicher Bub war dieser Nichtsnutz von Goethe. Das mußte man ihm lassen! – – –
Nach Tisch nahm Salome des Bauernburschen Arm. Sie wollte mit ihm durch die Straße gehen und die Dorfbewohner foppen.
Aber die Mutter erlaubte es nicht. Solch ein Scherz im Hause sei gut und lustig. Aber man dürfe ihn nicht auf die Straße tragen.
Der Vater war still geworden. »Was ihm fehle?« fragte Friederike. Da gestand er, er habe den Kandidaten von gestern so lieb gewonnen, daß sein Verschwinden für immer ihn aufrichtig betrübe.
Auch habe er ja manchmal für ihn predigen wollen. Fr drohte Goethe mit dem Finger. »Ihre Begeisterung für meinen Vorschlag war also nur gespielt, Sie böser junger Freund.«
Goethe fuhr lebhaft auf. »O nein! mein voller Ernst. Sein Bestes kann man doch nie am Schreibtisch geben. Schreiben ist ein trauriger Mißbrauch der Sprache. Die muß von heißen Lippen springen.«
Unwillkürlich sah, da er so sprach, jedermann auf seinen Mund, der, wundervoll geschweift, zum Reden wie zum Küssen geformt schien.
In diesem Augenblick hörte man von der Straße her Geige und Trommelschlag. Musikanten, die nach Drusenheim zu einer Hochzeit bestellt waren.
Goethe sprang in ein paar Sätzen die Treppe hinunter und beredete sie, ein wenig zu verweilen und hier der Jugend zum Tanze aufzuspielen. Da er mit Liebenswürdigkeiten und Geld gleich freigebig war, blieben sie.
Der Vater hatte sich in seinen Ohrensessel zurückgezogen, die Mutter war im Haushalt beschäftigt. Alle übrigen aber brachen in die alte Pfarrscheune ein, die im Gehöfte stand und in der zwei Mägde Häcksel schnitten. Das Bärbel kicherte hoch auf, als der fremde Spaßvogel nun hier erschien. Im Nu waren die Schneidemaschinen zur Seite gerückt, die Musikanten hockten auf einem Seitenbalken. Und nun ging in der alten, blonddurchsonnten Scheune ein Tanzen an, das tausend flimmrige Strohstückchen in mitwirbelnde Bewegung setzte, die sich wie Goldpuder auf Haar und Kleider legten. Vom Kornboden her roch's nach Sommer, und die bunten Röcke der Mägde leuchteten hindurch wie Feldblumen. Die Musik spielte einen Hopser. Friederike, der die lebhafte Bewegung nicht zuträglich war, tat dabei nicht mit. Um so heftiger tanzte Salome. Sie hatte Goethe zu sich herangerissen und sprang nun mit ihm durch die Tenne wie eine Berauschte. Gar zu gern hätte sie den schönen Burschen sich in seiner jetzigen Gestalt festgehalten. Es ging ihr wie dem Vater. Es war ihr unlieb, zu denken, daß dieser Bauernbursche nur ein Scheinbild war.
Wie er gut tanzte! Anders als die Straßburger Herren. Die wiegten sich nach französischer Art nur ein wenig auf den Zehen, hatten Angst, heiß zu werden, sich anzustrengen.«
Als sie nachher an Weyland kam, wollte ihr sein pedantisch fleißiges Springen gar nicht recht gefallen. Sophie dagegen hüpfte voll Begeisterung mit ihm zusammen. Dann kam der Walzer. Goethe tanzte mit Friederike. Alle sahen zu, wie schön das ging. Ein wiegen und ein ernsthaftes Knicksen; in den Gesichtern eine Freudigkeit, die wie Jubel war. Sie hörten erst auf, als die beiden Musikanten ihr letztes Schöppchen Wein leerten und erklärten, ihre Zeit sei um, sie müßten weiter. Auch Weyland sah nach der Uhr. Er wollte morgen ganz früh in der Anatomie sein. Wenn man die Post benutzen wolle, die in einer Stunde von Drusenheim abgehe, sei es höchste Zeit.
»Wir müssen fort, wir müssen fort«, sagte er in seiner väterlichen Art zu Goethe.
Der stand unschlüssig. »Und mein Pferd?« Schorsch Klein – der echte! – hatte es herbringen sollen, war aber noch nicht angelangt.
Inzwischen waren Vater und Mutter Brion auch herbeigekommen, zu sehen, wie die Jugend es da treibe.
Sie sollten doch noch eine Nacht hierbleiben, meinte die Mutter. Man sei nun einmal vergnügt beisammen. Wer weiß, wann das sich wieder so trifft? Aber Weyland bestand auf seiner Pflicht. Er war Assistent und durfte nicht fehlen.
»Ach was!« rief Goethe übermütig, »ach was, guter Weyland, laß nur deine armen Toten da in der Anatomie, an denen ihr das Leben lernen wollt, ein wenig warten. Denen ist die Ewigkeit ein Augenblick. Für uns aber,« sein Blick streifte Friederikes zierliche Gestalt, »für uns kann ein einziger Augenblick die Ewigkeit bedeuten.«
Vater Brion hob warnend den Finger. »Nicht so leichtherzig umspringen mit Tod und Leben, junger Freund!«
Der Bauernbursche versprach reumütig Besserung, Weyland nahm den Onkel beiseite. Er möge nicht glauben, unter Georg Kleins Bauernrock verberge sich heute ein leichtfertiger Weltling! Keiner der ganzen Tischgenossenschaft habe soviel über religiöse Dinge nachgedacht wie dieser Zweiundzwanzigjährige. Als er nach Straßburg kam, war er fast herrnhutisch streng gesinnt. Allmählich erst hat er sich zu einem fröhlicheren und lebendigeren Glauben durchgerungen. »In jeder Schönheit, jeder Freude sieht er seinen Gott.« Sein gutes Gesicht leuchtete vor Freundschaft.
Inzwischen war unmerklich die Zeit überschritten, die Weyland zum Abschied bestimmt hatte. Goethe schlug einen nächtlichen Heimritt vor.
»Den brauchen die Herren aber erst in ein paar Stunden zu beginnen«, meinte die Hausfrau. »Wir werden noch zusammen vespern können.«
Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Jeder einzelne lobte ihn laut.
Christian und Sophie henkelten sich mit Vertraulichkeit zu beiden Seiten des Bauernburschen ein, zogen ihn aus der staubigen Scheune in den geräumigen Hof und redeten auf ihn ein. Sophie verlangte zu wissen, ob er ein wirklicher Dichter sei? So einer, wie sie in der Schule »hatten«? Lafontaine zum Beispiels? Oder Geßner? Ob er jeden lag etwas dichte? Und ob er ihr einmal zeigen könne, wie man das mache? Sie sage gern Gedichte auf. Und der Lehrer habe gemeint, sie habe Talent für Poesie.
Christian, an dem anderen Arm hängend, schämte sich unsäglich der schwatzenden Schwester. Er selbst sprach vom Studieren in Straßburg und davon, daß er einmal Pfarrer werden würde. Und sonstige gebildete Sachen.
Der Bauernbursche ging liebenswürdig auf alles ein, riet dem Sophiele, sich erst recht genau zu überlegen, was in dem Gedichte stehen solle, ehe es beginne. »Es müßte denn ganz von sich selber solch ein Lied aus dir heraussingen, Kind! Das wäre freilich das Beste! Und so sollt' es immer sein.«
Dem Christian sprach er von den theologischen Professoren in Straßburg und von dem trefflichen Pfarrer Oberlin in Steinach, der ein Wohltäter der ganzen Umgegend sei.
Im Hause nahm ihn der Vater sogleich in Beschlag. Wie es mit dem französischen Brief an den Prinzen würde? Und ob Goethe nicht bei einem künftigen Besuch helfen wolle bei den Notizen zu einem neuen Bauriß?
»Künftiger Besuch!« Das freundliche Wort hätte ihm das Unmöglichste abgelockt.
Die Mutter kam und zog ihn beiseite. Er möge sich von der Grille ihres Mannes nicht quälen lassen. »Er ermüdet alle unsere Gäste damit.«
Goethe lachte. »Oh, da trifft es sich bei mir recht glücklich, daß ich mich niemals lange müßig halten mag. Und wenn's ein Spiel wäre, das ich treibe! Ohne einen, der von mir fordert, freut mich nichts.« Er bekräftigte seine Behauptung damit, daß er sich sogleich Zollstab, Bleistift und Papier ausbat und damit begann, die Breite der Fenster, Türen, Schornsteinlage aufzuzeichnen. Er wurde dabei ziemlich stark durch die ungeschickten Helfversuche des Pfarrers gehindert. Schließlich, da die Mädchen vom Garten her laut zum Vespern in der Jasminlaube riefen, gab er noch Christian, der ihm anbetend folgte, Anweisung, wie die Sache zu machen sei. In Straßburg habe er dann einen Architekten zur Hand, mit dessen Hilfe man einen leidlichen Bauriß zustande bringen werde.
»Wenn wir den hätten!« Des Pfarrers Gesicht sah ganz jung aus dabei.
Draußen war es nicht sehr warm, aber die Sonne schien und hatte alle Wölkchen weggesogen.
Plaudernd schritt man die Gemüserabatten entlang, die, zwischen kräftig besetzten, auch noch kaum begrünte Beete aufwiesen. Ein großer Rasenplatz, in den hohe Wäschestützen eingelassen waren, führte zum hinteren, etwas erhöhten Teil des Grundstücks, der mit alten, dunklen Bäumen bestellt war.
Im Rasenplatze waren runde Blumenbeete eingelassen, Bauernblumen und zierlichere, aus denen Friederike zu Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen in der Gemeinde alle Arten Kränze flocht. Vor der Jasminlaube, die noch in Knospen stand, lag gelbe Sonne. Man setzte sich mit Kuchen, Broten, Eingemachtem und Getränken an den runden Tisch. Für die Abreisenden gab es »Straßburger Erdäpfel« in ihrer Sahnensauce und gebratenes Fleisch. Friederike hatte sich aus der überfüllten Laube herausgerückt. Ihr Schatten fiel in scharfen Umrissen auf die Bretter der Rückwand. Goethe bat sich ein paar Nadeln aus, Christian brachte ihm Papier und half es straff befestigen. Dann sahen alle zu, wie Zug um Zug der Silhouette nachgezogen wurde: Die runde Stirn, das zierliche Näschen, die leicht geöffneten Lippen, das volle, jetzt längst wieder schicklich aufgesteckte Haar und der schlanke Halsansatz.
»Nun nehm' ich Sie mir mit nach Straßburg, Mamsell Friederike«, rief er hinüber.
»Nur meinen Schatten. Und geben Sie nur acht auf ihn. Wenn die Sonne nicht mehr scheint, entschwindet er.«
»Ich werde das Blatt da auf der Brust tragen. Da ist mir's so warm, so hell. Da wird's ihm sein, als wär' es wieder Sonne.«
Spielende, nicht gerade kluge Worte. Aber den beiden Offenbarung und Geständnis.
Die Mutter und Sophie räumten ab, die übrigen bestiegen den kleinen »Berg«, den man unlängst gegen das Feld zu an der Mauer aufgeschüttet und mit felsartigem Gestein geschmückt hatte. Allerlei Unkraut wuchs hoch und lustig in den Steinspalten.
»Wir hatten Gentianen und Edelweiß hineingepflanzt,« sagte Friederike, »aber es ging alles wieder ein.«
»Hier müssen Farnkräuter her«, rief Goethe eifrig. »Wollen wir nicht rasch in den Wald laufen und ein paar mit ihrer Erde ausgraben?«
Federnd, schon halb im Sprunge, stand er da.
Weyland, von der Unruhe der Pünktlichen erfaßt, bat ihn, jetzt nicht mehr wegzulaufen. Er ging ins Haus, nach Georg Klein zu sehen, der ja nun endlich da sein müsse mit dem Pferde.
Die Sonne sank jetzt unter. Der Himmel war wie durchbohrt von lauter Feuerseen, von farbigem Gewölk umbuchtet. Während alle hinaufschauten, betrachtete Goethe die gravitätische Polonaise der Gemeindegänse, die mit goldenen Lichtern auf ihrem Federkleid am Feldrain vorbeiwatschelten. »Himmel auf jedem Ding, auf jeder Kreatur«, sagte er zu Friederike. Die wies auf die Reihe goldener Spiegel, die den Rheinarm jetzt festlich machten.
»Ich sah das nun so oft schon. Heute seh' ich's schöner. Auch die Gänse«, fügte sie lächelnd hinzu.
Jetzt kam Weyland zurück. Der Schorsch sei da mit dem Pferd. Aber seinen Anzug wolle er gern gleich wiederhaben. Er habe heut abend noch eine Hochzeit in der Nachbarschaft zu besuchen.
Da war guter Rat teuer. Die Mädchen flüsterten miteinander. Dann gingen sie weg und kamen bald darauf mit einer Jagdpekesche wieder, die Vetter Gottlieb im Winter hier gelassen hatte. Er sei so ziemlich von der Figur des Herrn Goethe, meinte Salome.
Während die abermalige Verkleidung oben im Logierzimmer vor sich ging, war man ins Haus zurückgekehrt. Es hatte sich ein Wind erhoben, der neuen Regen vorbereitete. Der Vater stand schon an der Tür, zu mahnen. So gastfrei er fühlte, er war bekannt dafür, daß er die Gäste, die fortwollten, fast unhöflich vor lauter Gefälligkeit auf die Straße setzte. Er machte große Augen, als er statt des Bauernburschen den wiederum Verwandelten die Treppe herunterkommen sah.
»Was ist denn das nun wieder?« Er rührte ihn am Arm. »Ich glaubte schon, dieser Monsieur Vielgestalt sei nur ein Spuk. Aber er scheint mir ja eine recht robuste Körperlichkeit zu besitzen.«
Trotz seines Scherzens lag ein Ton wirklicher Ängstlichkeit in seiner Stimme.
Auch Friederike ward es sonderbar zumute, da sie den neuen Freund im Anzug ihres Vetters und Verehrers, gleichsam als ein Doppelwesen, vor sich sah, das sich in ihr Leben einzudrängen begann.
Salome dagegen wußte sich vor Lustigkeit nicht zu lassen, ordnete bald an der Pekesche und zupfte bald den Haarbeutel zurecht.
Goethe selber schien sich wenig behaglich zu fühlen in dem nicht gerade neuen, derben Habit, das er durch Schuhe und Strümpfe von Christian vervollständigt hatte. Oder war es die nahe Abreise, die ihn quälte? Er sah plötzlich blaß aus. Das Nachtessen verlief eilig und ziemlich schweigsam. Ein Gefühl von Abschied legte sich fröstelnd auf alle. Trotz des guten Landweins, den man reichlich trank. Und trotz des immer wiederholten Versprechens eines baldigen neuen Besuches.
Während Weyland, von dem Vater und Christian begleitet, zum »Anker« ging, wo sein Pferd stand, stieg Goethe vor der Pfarrhausscheune auf, ihm nachzureiten. Die Mutter kam mit Päckchen zum Mitnehmen »für unterwegs«. Sophie brachte ein Sträußchen ins Knopfloch. Jeder hatte noch rasch etwas zu sagen, zu bringen, zu erinnern. Es war, als mache ein Sohn des Hauses eine weite Reise. Es wurde verabredet, durch die alte Bibiane, die Drusenheimer Botenfrau, in regelmäßiger Verbindung zu bleiben. Jeden Freitag brachte sie die Straßburger Postsachen nach Sesenheim. Als endlich der Hufschlag der Reiter verhallte, stand Vater Brion am Fenster und sah in das Gewölk hinaus, das rasch den Himmel überzog. »Ein singulärer Mensch, dieser Monsieur Vielgestalt«, sagte er zu Friederike, die neben ihm lehnte. »Ein ganz singulärer Mensch!«