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»Du hast in deinem Blick,
In deinem Wesen, was mein Herz
Zu dir eröffnen muß.«
(Claudine v. Villa Bella.)
Pfarrer Brion rieb sich die Stirn. Das tat er immer, wenn er angestrengt nachdachte. Er stand am Fenster, über sein Schreibpult gebeugt, die Gänsefeder in der Luft, und murmelte die Worte vor sich hin, die er zu schreiben dachte. Ein sauberer Bogen lag bereit. Vorerst aber gab es auf einem Nebenblatt nur einzeln hingekrakelte Notizen; Sätze, die kein Ganzes werden wollten.
Es handelte sich um eine Eingabe an seinen Patronatsherrn, den Prinzen Rohan-Soubise in Zabern; eine Bitte, den längst versprochenen Umbau des Pfarrhauses betreffend. Das Schreiben mußte französisch abgefaßt werden und in höflichen Ausdrücken. In beidem war der gute Pfarrer nicht sehr stark. In Straßburg, während seiner Studienjahre, hatte er sich um nichts gekümmert als um die theologischen Vorlesungen. Und die waren deutsch. Im übrigen war er über sein Stückchen Oberrhein nie hinausgekommen; hatte immer nur im nächsten Umkreis auf Dörfern gelebt.
So stand er denn ein bißchen hilflos da an seinem Pult, schrieb auf, strich aus und überlegte, wer da helfen könne? Er riß sein Halstuch auf, schlug den blumigen kattunenen Schlafrock, in dem er vorhin sein Mittagsschläfchen gehalten hatte, auseinander und öffnete zuletzt das Fenster. Die Studierstube lag nach dem Garten hinaus, der noch ein wenig kahl aussah. Der Mai hatte sich in diesem Jahre aprilmäßig launenhaft betragen. Aber die Luft schmeckte nach Frühling. Und verjagte die etwas muffige Stubenluft, die nach feuchten Wänden, vielgebrauchten Möbeln und alten verräucherten Büchern roch. Der Pfarrer griff nach dem schwarzen Döschen, das auf seinem Schreibpult stand, schnupfte und nieste. Aber sein Kopf wurde davon nicht klarer.
Wenn doch seine Frau da wäre! Die wüßte vielleicht Rat. Oder das Riekchen.
Ja, ja, das Riekchen! Sein freundliches Gesicht war jetzt entspannt und ruhig, als hätte er das Lieblingstöchterchen schon an seiner Seite und fühlte ihre schmalen leichten Finger sein Haar liebkosen. Aber im Hause blieb alles still. Sie waren wohl alle im Krautgarten, der über die Straße hinüber lag.
In diesem Augenblick hörte er die Haustürschelle gehn. Gleich darauf klopfte es an seine Tür, und Vetter Weyland trat ein – hinter ihm ein junger Mensch in engem, grauem Röckchen, den er als Kandidat Werner aus dem protestantischen Konvikt zu Straßburg vorstellte. Der junge Mensch, »ein fleißiger, strebsamer junger Mann«, blieb schüchtern an der Schwelle stehn. Er trug eine altmodische runde Perücke, die sehr tief in die Stirn ging und fast die Augen verdeckte. Die Arme hielt er an den Leib gedrückt. Der Pfarrer begrüßte die Ankömmlinge freundlich, aber ohne besondere Wichtigkeit. Gäste waren nichts Seltenes im Sesenheimer Pfarrhause. Der Hausherr pflegte die Sorge für sie seinen Frauenzimmern zu überlassen. So äußerte er auch jetzt bedauernd, er sei ganz allein, bot eine Prise an und schaute dann wieder, in sich gekehrt, auf seinen Brief. »Ich werde das Rickchen bitten,« sagte er dann, »sie soll hinübergehn zum katholischen Pfarrer. Er kann gut Französisch, er soll mir den Brief aufsetzen.« Er gab Weyland sein Konzept. Der fremde junge Mensch blickte von ferne mit hinein. Unvermutet äußerte er dann mit leiser, schüchterner Stimme: wenn es dem Herrn Pfarrer angenehm sei, so wolle er versuchen, submissest solch ein Schreiben auf französisch aufzusetzen.«
Weyland räusperte sich und sah ihn eigentümlich mahnend an. Der Kandidat wurde sehr verlegen. »Das heißt, ich meine nur – – ich könnte es ja einmal versuchen.«
Vater Brion lächelte nachsichtig. »Nun, ich fürchte – – zu meiner Zeit wenigstens war das Französisch von uns jungen Leuten im Konvikt nicht gerade elegant.«
Der Herr Werner stamme ein wenig von Franzosen ab, sagte Weyland eifrig.
»Aber ›Werner‹ klingt doch recht deutsch?«
»Mütterlicherseits«, bestätigte nun der junge Mann mit tief gesenkten Augen. Er schien wirklich ein sehr schüchterner Mensch zu sein.
Der Pfarrer versank wieder in Schweigen. Weyland, der sein Wesen kannte, erbot sich, die Tante und die Bäschen aufzusuchen und herbeizuschaffen.
Kaum war er draußen, als der Pfarrer sofort ein langes Selbstgespräch begann, bei dem der stumme Zuhörer nichts zu tun hatte, als beistimmend zu nicken.
Es sei eine Schande, führte er aus, daß eine so reiche Gemeinde es sich gefallen lassen müsse, ihren Pfarrer in einem alten, elenden Fachwerkhause unterzubringen. »Haben Sie das Haus des katholischen Pfarrers gesehen? Es ist ein solides Steinhaus. Und er ist doch nicht Familienvater. Ich dagegen – Und ich bin fast jedes Jahr wieder neu eingekommen, habe Baupläne eingeschickt. Man hat sie verloren oder zerrissen. Nicht aus bösem Willen, bewahre, aber so sehr man in Straßburg den Protestantismus respektiert, auf dem Lande werden die Katholiken bevorzugt. Meine Nachfolger hier werden es mir einmal danken, daß ich für sie gekämpft habe. Ich selbst –« Er sah auf. Das Gesicht des fremden Kandidaten war ihm einen Augenblick so sonderbar wach und durchgeistigt erschienen. Aber da er ihn nun betrachtete, sah er wieder das bescheidene, etwas törichte Lächeln vor sich. »Ich selbst kann mich nicht beklagen«, fuhr er fort. »Die Stelle ist gut, man beneidet mich darum. Die Protestanten von sechs Dörfern gehören dazu; die Bauern liefern pünktlich ihren Zehnten; ich habe Wiesen und Felder, einen großen Garten, der mir Obst und Gemüse liefert. Ich danke Gott jeden Tag dafür. Und meine liebe Frau ist darin mit mir gleicher Meinung. Das Haus wird nicht leer von Gästen, die an den guten Gaben teilnehmen. Das Pfarrhaus zu Sesenheim ist berühmt durch seine Gastfreundschaft. Immer fröhliches junges Volk, Musik, auch wohl mal ein Tänzchen im Freien. Das lobt Gott mehr als Grämen und Sorgen.«
Er hielt inne. Wieder dieses sonderbare Aufleuchten des jungen Menschen, »O ja«, sagte er ganz heiß. »Und es ist ein so großer Irrtum des Mittelalters gewesen, daß man das Wort 'Glück' aus dem christlichen Sprachschatz hat verbannen wollen. Jede Lust wurde als Sünde betrachtet. Als etwas, das ausgerodet werden müsse. Christus hat das nicht gemeint. ›Sehet die Lilien auf dem Felde.‹ Dann das Weinwunder bei der Hochzeit von Kana. Die Künstler damals haben das wohl gewußt. Wenn ich vor dem Münster stehe – welche strenge Erhabenheit, aber welcher Reichtum an Freude und Willkür! Freude ist es, aus der sich das Erhabene aufbaut.«
Hier wurden sie unterbrochen. – – –
Frau Brion war wirklich mit Salome und Sophie in den Krautgarten gegangen. Friederike hatten sie nicht mitgenommen. Das junge Mädchen war von je zart, und man hielt sie von körperlicher Anstrengung fern, wenn es dagegen galt, zu ordnen und zu schmücken, eine Speise schmackhaft zu machen, etwas Gefälliges oder Tröstliches zu unternehmen, einer mißlichen Sache ihre gute Seite abzugewinnen, dann war Friederike die Rechte dazu.
Jetzt war sie zum Schulmeister gegangen, der heute abend von seiner Hochzeitsreise zurückerwartet wurde. Seine beiden Töchter erster Ehe, 20 und 22 Jahre alt, waren ihm gram wegen dieser neuen Heirat. Sie saßen verstockt und schmollend auf der Bank vor dem Schulhause, so daß jeder Vorübergehende sie sehen und bedauern konnte, hatten beim Krämer ein billiges »Willkommen« gekauft und waren damit beschäftigt, die dazugehörige Türgirlande zu winden, ohne Sorgfalt: Tanne und hier und da ein weißes Blümchen. Es sah mehr einem Totenkranze gleich als einem Hochzeitsgruß.
Das sagte wenigstens Friederike, die sich sogleich daran machte, im Garten hinter dem Hause neues Grün und neue Blumen zu holen. Auch in die Wiesen lief sie schnell, in die der Garten sich hineinzog, und brachte Buchenlaub mit, Sauerklee, überwinterte rote Beeren, vom Waldrand Farnkräuter und gelbleuchtendes, starkduftendes »Wolverleih«. Die Lehrerstöchter meinten erst, das alles sei nicht nötig. Als sie aber der Mamsell Brion zusahen, wie unter ihren geschickten Fingern da etwas sehr Lustiges und Schönes entstand, etwas, über das alle Dorfleute staunen würden, da faßte sie der Ehrgeiz mitzutun. Und sie schafften sich die verdrossenen Wangen straff und rot. Bald war ein Lachen da und ein Beraten, daß es war wie Vogelzwitschern nach dem Regen.
»Und was werdet ihr denn anziehend« hatte Friederike gefragt.
Sie wüßten nicht, sie hätten nichts Rechtes. Und sie wollten ja überhaupt nur rasch zum Gratulieren herunterkommen. Essen wollten sie dann lieber allein in der Küche. Man wisse ja nicht – ob die junge Frau – –.
Friederike hörte gar nicht hin. Sie flocht zwei Haarkränzchen, eines aus Goldregen für das braune Haar der Jüngsten und dann ein schmales aus Vergißmeinnicht für die Aschblonde. Die drückte sie ihnen auf das Haar und schob sie dann beide ins Haus hinein, in die Wohnstube vor den Spiegel. Da standen sie nun, besahen sich und machten auf einmal ganz vergnügte Gesichter. Sie holten Mieder und Brusttücher aus der Truhe, Friederike sollte aussuchen. Auch die Seidenschürzchen wurden gewählt. Es war plötzlich eine Emsigkeit in sie gefahren, als gälte es, sich für einen Ball zu kleiden. Friederike holte noch einen hübschen Krug aus der Rüche, den sie mit Zweigen füllte, sah zu, wie die Mädchen ein schöngewebtes weißes Tischtuch auflegten und vier Gedecke dazu. Und lächelte befriedigt.
Jetzt sah die Sache anders aus. Und der Abend würde liebevoller verlaufen, als die trotzigen Mädchen es sich vorgenommen hatten!
Mit ihren leichten Schritten ging sie durch die lange Dorfstraße. In der kühlen Reinheit dieses Abends schien sich die Freundlichkeit ihres Wesens wohlig zu wiegen, wie ein Vogel auf dem Zweige. Die Alten, die vor der Tür saßen, sprachen sie an, tauschten Grüße mit ihr. Sie erkundigte sich teilnehmend nach ihrem Tun, nach Kranken und Gesunden der Familien und lachte mittendrein aus Wohlgefühl und Jugend. Ohne Grund sonst.
Am Wirtshaus zum Anker stand der Wirt in Zipfelmütze und bequemer Jacke. Seine rote Nase glühte.
»Ihr habt Besuch bekommen, Mamsell Riekchen, der Herr Weyland und noch einer aus Straßburg. Scheint ein armer Schlucker.«
Nun war sie an der großen, alten Steinkirche angelangt, die Protestanten und Katholiken abwechselnd benutzten. Eben läutete es zur Messe. Dem Kirchhof gegenüber zog sich das Gitter hin, das den Pfarrhof umschloß. Sie öffnete die Tür im Bretterzaun. Am Ziehbrunnen stand das Bärbele und wand den Eimer hoch. »Schnell, schnell, Mamsell Riekchen, es ist Besuch da.« Auch die Mutter und Salome riefen aus der Küche, sie möge rasch in die Studierstube gehen, sie selber hätten arg zu tun, Weyland sei beim Barbier und der Vater mit dem Fremden allein geblieben. »Du weißt ja, er mag das nicht.« Friederike ging hinüber und öffnete die Tür. Da gerade war es, daß der Herr Werner die Worte sprach vom Glück und Mittelalter und von den Lilien auf dem Felde. Friederike blieb stehn. Sie horchte hoch auf. Solche Worte hörte man nicht leicht in diesem Raum, in dem bei den allmonatlichen Pastorenkonferenzen gemächlich über Gemeindedinge und Alltägliches geredet wurde.
Sie trat jetzt näher. Die beiden sahen auf.
Der Schein der sinkenden Sonne stand hinter ihr und ließ all ihre kleinen krausen Härchen in einem einzigen frommen Geflimmer aufleuchten.
Jetzt erhob sich der junge Theologe. Lang, schmal und gekrümmt in seinem engen grauen Röckchen. Seine Ärmel reichten kaum bis zum Handgelenk. »Ich spreche natürlich nur nach meiner unmaßgeblichen Meinung!« sagte er noch zum Pfarrer hinüber. Seine Stimme war jetzt hoch und dünn und unnatürlich.
Der Pfarrer streckte dem Töchterchen die Hand hin. Er schien aus einem Traum aufzuwachen. »Da ist mein Riekchen. And das da«, er zeigte auf die arme verbogene Gestalt, »Herr Kandidat Werner, ein wackerer junger Theologe aus dem Straßburger Konvikt. Ein Freund von Vetter Weyland.« Der junge Mann blickte auf. Er stockte. Auch Friederike erschrak. Gab es denn zweimal solche Augen? Aber dann lachte sie über sich selbst.
Seit dem Tage in Straßburg hatte sie ja überall diese schwarzen, flammenden Augen gesehn. Nun sogar im Gesicht dieses dürftigen Studiosus Werner! Der aber hatte sich plötzlich aufgerichtet. Einen Augenblick nur. Dann lag wieder das verkniffene Bescheidenheitslächeln um den schmal verzogenen Mund.
Jetzt kam Weyland, frisch rasiert und von einer bäuerlichen Seife duftend. Mit ihm die Mutter und Salome. Auch ihnen machte der Kandidat seine demütige und verzwickte Reverenz von vorhin. Aber seine Blicke kehrten immer wieder zu Friederike zurück, die jetzt in ihrer leichten, anmutigen Art allerlei Tischgerät zusammenholte, dann wieder mit den Gästen sprach, Sophie, die zwischen Tür und Angel herumstand, weil sie sich zu wenig beachtet fand, die Zopfschleife zierlicher band und dann die Treppe hinaufeilte, den Tisch zu decken.
Salome, lebhaft und laut wie immer, ließ sich nun auch mit dem Theologen in eine Art Gespräch ein, indem sie ihn allerhand fragte, ohne auf seine Antwort zu warten, Weyland war merkwürdig aufgeregt. Er klopfte seinem Freunde ein paarmal gönnerhaft die Schulter und schien sich überhaupt aufs beste zu amüsieren. Ganz anders, als sonst in seiner Art lag. Als nun gar Salome ihn aufforderte, von seinem Tischgenossen zu erzählen, dem Herrn Goethe aus Frankfurt, der ja ein so merkwürdiges Genie sein sollte und soviel tolle Streiche mache, da pruschte er heftig und erzahlte – immer weiter lachend –, der zöge jetzt in merkwürdigen Verkleidungen im Land umher und verdrehte wahrscheinlich allen Mädchen die Köpfe. Studiosus Werner meinte sanft, so schlimm werde das wohl nicht sein. Und die Elsässer Mädchen ließen sich wahrscheinlich nicht so leicht von jedem Hergelaufenen die Köpfe verdrehen. Aber Weyland lachte stärker. Davon verständen wohl die theologischen Studenten nicht allzuviel. Der Goethe aber sei Jurist, werde nächstens seinen Doktor machen und sei auch sonst ein Kerl, der sich sehen lassen könne.
Frau Brion machte dem Neffen ein strenges Gesicht. So wenig ihr der unbeholfene Student auch imponierte, ein Gast durfte in ihrem Hause nicht gekränkt werden. So lenkte sie denn das Gespräch auf andere Dinge, fragte Weyland nach gemeinsamen Verwandten und Bekannten. Und bald war man in vollem Zuge. Die ganze Familienchronik wurde ausführlich erörtert, Nachrichten aus dem Bekanntenkreise mitgeteilt. Eine Fülle von Namen, Verlobungen, Hochzeiten, Taufen und Krankheitsfällen oder eiligem Versterben. Friederike, die inzwischen wieder eingetreten war, wollte menschenfreundlich den stumm zuhörenden Fremden mit hineinziehen in die Unterhaltung. »Wir reden hier soviel von Menschen, die Ihnen fremd sind,« sagte sie, »aber es geschieht in der Hoffnung, daß auch Sie unsern Kreis bald kennenlernen. Denn ich denke, Sie werden es machen wie jeder, der einmal zu uns nach Sesenheim herausgekommen ist. Sie werden wiederkehren.«
»Während Sie redeten,« sagte der Kandidat leise, »versetzte ich mich in alle die Personen hinein, von denen Sie erzählten. Mir ist nun beinah, als wäre ich bereits gut Freund mit sämtlichen Nachbarn und Freunden, die Sie so mit Laune und Leidenschaft schilderten. Und es lebt nun in meiner Einbildungskraft ein solcher Schwarm von Onkeln und Tanten, Vettern und Basen, Kommenden und Gehenden, Gevattern und Gästen, daß ich in der belebtesten Welt zu hausen glaube, in Ihrer Welt, Mamsell Brion.«
Friederike schloß unwillkürlich einen Moment die Augen. Sie wollte diese sonderbare und klägliche Figur nicht sehen. Lag doch in jedem Worte, das er mit ihr sprach, etwas Merkwürdiges und Warmes, wie ein Geheimnis, nur für sie bestimmt. Auch mit dem Vater hatte er so Ungewöhnliches geredet. Und doch hatte er nachher einen Ausdruck von Scheinheiligkeit im Gesicht, einen Ton von Unaufrichtigkeit in der Stimme gehabt.
Was ging das sie aber auch an! Er war eben ein Besuch, wie so viele ins Pfarrhaus kamen. Salome rief zum Essen. Man ging die breite ausgetretene Treppe hinauf zur Wohnstube, in der ein runder Tisch bereitet stand. Vater und Mutter setzten sich zusammen auf das große schwarzbezogene Kanapee, die übrigen auf Stühle ringsum. Christian kam erst eine Weile nach dem Tischgebet. Niemand machte ihm Vorwürfe. Sophie saß neben Friederike. Sie war eifersüchtig auf den Kandidaten, dem Friederike mitleidig die besten Stücke vorlegte. Gerade die Hühnerleber aus dem Frikassee, die Sophie so liebte. Die Mutter sah ein paarmal scharf hinüber zu dem Fremden, der für einen armen Freitischler auffallend wenig aß.
Die Unterhaltung bei Tisch bestritten hauptsächlich der Vater und Weyland. Christian fuhr manchmal naseweis dazwischen mit einer Bemerkung, über die er selber dann zufrieden lachte. Kandidat Werner sah kaum vom Tischtuch auf. Die Frauen hatten mit Holen, Vorlegen und Anbieten zu tun. Es war eine gemütliche Stube, in der sie saßen, mit holzgetäfelten Wänden, alten, dunklen, bauchigen Schränken und Kommoden und einer Glasservante, in der hohe geränderte Tassen mit Sprüchen standen. Ein paar alte Familienbilder in Perücken und Hauben sahen von der Wand prüfend und ein bißchen erzieherisch auf die Menschen des heutigen Tages. Lauter Schölls. Die Brionsche Familie hatte nie Geld gehabt, sich malen zu lassen.
Das nach Zitronen duftende Omelett war aufgetragen, fruchtgefüllt und schaumig, wie es Frau Brions vielgepriesene Kunst verlangte. Vater Brion, der kein Kostverächter war, geriet in Feiertagslaune, Er wandte sich an den schüchternen Theologen: »Wie wär's, Herr Kandidat, wenn Sie – Pfingsten ist ja vor der Tür – mir ein bißchen im Amte helfen würden? Ich kann nicht hier und in allen Filialdörfern zu gleicher Zeit sein. Und das Lesen vom Schulmeister genügt nicht allen Gemeinden.«
»Es würde mir eine Ehre sein, wenn anders ich mit meinen schwachen Kräften –« Auf einmal wurde seine Stimme markig. »In der Bibel heißt es ja: ›Darum ein jeglicher Schriftgelehrter zum Himmelreich gelehrt ist gleich einem Hausvater, der aus seinem Schatz Altes und Neues hervorträgt.‹«
»Worüber würdest du denn predigen?« fragte Weyland sichtlich bedenklich.
»Vielleicht aus dem Lukas: ›Selig sind eure Augen, daß sie sehen, und eure Ohren, daß sie hören.‹« Es klang wie Frühlingswind in das braune, wohlgeordnete Zimmer hinein, in dem die alten Porträts mit Perücken und Hauben von den Wänden schauten.
Vater Brion zog ein Brillenetui aus der Tasche. Er putzte die Gläser. »Na,« sagte er dann abschließend, »ich glaub', Sie werden's schon machen.«
Nach dem Essen ging man hinüber in den »Saal«, der aber nicht größer war als die übrigen Zimmer, Er war nach französischer Art als Besuchszimmer eingerichtet, mit einem Kamin, vor dem zwei Sessel standen, am Fenster ein ovaler Tisch mit Pflanzentöpfen, blühende und auch pflegebedürftige. Ein paar hochlehnige Stühle, ein Perltischchen. Das Hauptstück aber war ein kleiner honiggelber Flügel, dessen Schwanz gegen die Wand hochstand. Christian und Sophie machten sich eifrig an den Pedalen zu schaffen, um dem Gast zu zeigen, wie man sowohl Janitscharenmusik wie Flöte oder Trompete damit hervorbringen könne. Es gab einen Höllenlärm.
Kandidat Werner war indessen an das Bücherbrettchen herangetreten, in dem sich eine kleine Versammlung neuerer Literatur befand, darunter Klopstock und Rousseau. Dazu einige Almanache.
Der Pfarrer war gleichfalls herangetreten. »Ja, das ist nun der Geschmack von heute«, sagte er und schlug einen Almanach auf, in dem ein junger Mann in seinen Mantel gehüllt mit einer Gebärde der Verzweiflung in die Ferne starrte. »Die Töchter bringen das aus Straßburg mit. Mir ist das moderne aufgeregte Gebaren in der Poesie nicht angenehm. Ich ziehe die französischen Dichter vor, die sich in gemessenen Formen bewegen.«
»Sie sind anderer Meinung?« sagte er höflich, da der Kandidat zu lächeln schien. Der sah zu Boden.
»Ich würde mir das selbstverständlich nicht erlauben. Freilich ist es mir eigentümlich ergangen. Ich war ein rechter Bewunderer der Franzosen, ehe ich nach Straßburg kam. Hier, an der Schwelle Frankreichs, aber habe ich erst eingesehen, was in unserm Deutschland – –« Weyland legte ihm seine Hand auf die Schulter. Es sah aus, als wolle er ihn hindern, soviel zu sprechen. »Machen Sie uns doch ein bißle Musik, Bäschen«, sagte er abbrechend zu Friederike.
Der Kandidat machte ein verlegenes Gesicht. »Sie spielen, Mamsell?« fragte er schüchtern.
»Oh, ich kann nur ein paar Tänze. Weil ich nämlich sehr gern tanze, der Arzt es mir aber verboten hat – ich habe vor einigen Jahren eine schwere Lungenentzündung gehabt und muß mich immer noch schonen –, so habe ich mir ein paar Tänze auf dem Klavier eingelernt. Damit ich doch wenigstens auch dabei bin, wenn man tanzt.« Es lag eine solche natürliche Liebenswürdigkeit in diesem Bekenntnis, daß auch der schüchterne Studiosus lächelte. Friederike setzte sich ohne viel Umstände ans Klavier. »Es ist verstimmt«, sagte sie. »Der Efeu macht die Wand feucht.« Wirklich klang der Walzer, den sie spielte, unharmonisch. »Aber sie singt ja auch«, sagte der Vater und streichelte ihr Haar. »Sing doch das Lied, das du aus Straßburg mitgebracht hast; du weißt; ›Souvenir‹.« – »Oh, das wird dem Herrn gewiß noch weniger gefallen. Das paßt in einen Stadtsalon.« Aber ungeziert stellte sie sich ans Klavier und sang mit einer kleinen klaren Stimme ein französisches sentimentales Liedchen, das damals Mode war:
»Andenken der Jugendtage
Sind gegraben in mein Herz.
Ach, des Dörfchens denk' ich immer
In der Wiesen grünem Schimmer,
Wo ich fühlte keinen Schmerz.«
Noch ehe sie aber die letzte Strophe beendete, in der die Töne jammernd in die Höhe stiegen, lachte sie hell auf. »Nein, das geht nicht. Lieber singe ich Ihnen einmal im Freien eins meiner Elsaßliedchen. Die passen besser nach Sesenheim.«
Da nun der Mond heraufgekommen war und ins Fenster sah, Vater und Mutter sich zu ihrer gewohnten Partie »Tod und Leben« mit Karten an das Perltischchen setzten, schlug Weyland einen kleinen Spaziergang vor.
Und bald wandelten die beiden Pärchen stillatmend in die weiche Nacht hinein, die sie mit Duft und Sternen feierlich empfing. Salome, die selten ruhig genießen konnte, machte allerlei komische Bewegungen, um sie von ihrem Schatten, der an den Häuserwänden kletternd neben ihr herglitt, verzerrt nachgeahmt zu sehen. Auch Weyland versuchte sich in Verrenkungen. Das andere Paar blieb noch schweigsam.
Vom Rhein herüber stieg es neblig auf. Und als sie jetzt von der Dorfstraße abbiegend den Feldweg gingen, webte schon silbriges Fließen und Schimmern über den Wiesen, wo sich der Plan zu einer kleinen Anhöhe wölbte, wandte der Kandidat sich um und betrachtete das in Mondschein ruhende langgestreckte Dorf, freundlich umbuscht und von seinem schiefergedeckten Kirchturm behütlich überwacht.
»Jetzt habe ich doch ein Plätzchen,« sagte er, »zu dem ich hinschauen kann, wenn ich mit meinen Tischgesellen den Altan des Münsters besteige, um mit gefüllten Römern die scheidende Sonne zu begrüßen.«
Gefüllte Römer? Friederike wunderte es, daß ein Konvikttheologe mit gefüllten Römern auf der Münsterterrasse sitzt. Ihr klares und geordnetes Empfinden fühlte da irgend etwas, das nicht stimmte.
Sie gingen jetzt im Wäldchen und im Schatten, den die Bäume unterm Mondlicht warfen. Da sie einander nur verschwommen sahen, war es, als ob zwei körperlose Stimmen miteinander Zwiesprache hielten. Die seine hatte ihren unnatürlichen Klang verloren. Sie war jetzt tönend und voll Wärme. Und vor dieser Stimme öffnete die junge Friederike seltsam schnell ihr ganzes Herz. Sie begann von ihrer Kindheit zu erzählen. Bis zu ihrem achten Jahr ist die Familie in Niederrödern gewesen, zwei Stunden von hier, eine armselige Pfarre, in der die Mutter es schwer hatte. Das Glück war groß, als der Vater die gute und angenehme Stelle hier erhielt. Nur sie selber, Friederike, konnte sich an den Wechsel schwer gewöhnen. »Daß man weggehen kann von etwas, das man lieb hat, war mir ganz neu. Es entsetzte mich. In Niederrödern waren die Nachbarskinder, mit denen ich spielte, der Lehrer, der mich lesen lehrte und mit Nüssen rechnen. Und dann hatte ich mein kleines Beet, in dem ich Gänseblümchen so lange umpflanzte, bis sie Tausendschönchen wurden. Und das alles blieb zurück? Ich wurde krank zuerst, so sehnte ich mich danach.«
Ob sie nicht glücklich sei in Sesenheim? Sie scheine doch so heiter?
»Oh, sehr, sehr glücklich jetzt! So viele Menschen, die man gern hatte. Im Dorfe. Und die zu Besuch kamen, von beiden Seiten des Rheins kamen sie ins Sesenheimer Pfarrhaus, deutsche und französische Bekannte.«
Er blieb stehen. »Und ist unter allen diesen Nachbarn, Vettern, Gästen keiner, der Ihrem Herzen besonders nahe steht?«
»Keiner«, sagte sie freimütig. »Ich habe sie alle miteinander gleich gern.«
Er faßte ihre Hand, wie um zu danken. Sie zog sie aus der seinen. Dann, als wolle sie ihm zeigen, daß sie nicht beleidigt sei, sagte sie: »Und jetzt sollen Sie auch mein Liedchen hören.«
Unter einer breiten schwarzen Tanne, die etwas schräg am Hange eines Hügelchens wuchs, blieb sie stehen: »Z' Lauterbach hab' i mein Strumpf verlor'n«, sang sie und »Chimmt a Vogerl geflogen«. Dann das Lied von der »heimlichen Liebe«. Die Töne schwebten leicht und jubelnd unter den Sternen, die seltsam klar über den weiß umnebelten Wiesen glänzten.
Salome und Weyland waren umgekehrt und hatten zugehört. Sie klatschten Beifall. Der Kandidat stand schweigend im Dunkel.
Friederike konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie fühlte, daß er sie unverwandt anblickte.
»Wir müssen zurück«, sagte endlich das Sälmel. »Die Eltern sind gewiß schon zu Bett gegangen und horchen auf unsere Heimkehr.«
So wendeten sie alle vier zusammen um. Die Dorfhäuschen waren jetzt schon dunkel. Die Hunde schlugen an, aber gedämpft. Sie kannten den Schritt der Pfarrmaidele.
Im Hause sprang Fideel an sie heran. Die Eltern riefen aus der Kammer ihr »Gute Nacht«. Weyland bekam einen Messingleuchter in die Hand mit einer brennenden Kerze. Die Mädchen blieben im ersten Stock, zündeten wispernd, um das Sophiele nicht zu wecken, gleichfalls ihr Lichtlein an, und mit einem »Auf Wiedersehn morgen« ging man auseinander.
Die beiden jungen Leute stiegen zur Giebelstube hinauf. Zwei Betten, einladend aufgedeckt, blütenweiß, an den blaugestrichenen Wänden. Weyland legte mit gemächlichem Gähnen seine Kleider ab. »Gut gelungen ist der Scherz«, sagte er dabei behaglich. »Ich bin den ganzen Tag nicht aus dem Lachen herausgekommen. Aber ein paarmal, lieber Goethe, hättest du dich fast verraten. Und wenn ich mich nicht geräuspert hätte – –« Er war eben im Begriff, unter seine Decke zu schlüpfen, als er sich nach seinem Gefährten umsah, der sich gar so still verhielt.
Da sah er ihn, noch angekleidet, auf einem Stuhl hockend, ganz zusammengesunken. Die Hand hing schlaff aus dem viel zu kurzen Ärmel. Weyland richtete sich auf. »Wirklich vertrackt siehst du aus. Deine eigene Mutter würde dich nicht erkennen in diesem Aufzuge.«
Der Zusammengebeugte sprang auf, riß sich den Rock vom Leibe, daß er kreischend zerriß, zerrte sich die Perücke ab und stand nun herrlich da in seinem wahren kräftigen Wuchs, das Haupt von braunen Locken umwallt. Ein Götterjüngling. In rasendem Zorn schlug er sich an die Brust, daß es dröhnte. »Ich bin der Unglückseligste der ganzen Schöpfung. Ein Frevler bin ich, der mit einer Lüge sich in das Heiligtum eingeschlichen hat. Meine alberne Verkleidungssucht ist schuld an allem. Und wer bin ich denn auch, daß ich wie ein Großer und Berühmter inkognito reisen müßte? Und du«, sein mächtiges Auge wetterte über den Freund hin, der mit verschränkten Armen im Bett lag wie einer, der im Sicheren ein Gewitter vorüberbrausen läßt. »Du! Anstatt mir abzureden, bestärkst du mich noch in meinen Narreteien. Du aber bist noch schuldiger als ich, du kanntest sie, du wußtest, wen ich hier treffen würde. Leute, denen gegenüber mich schon Eitelkeit hindern müßte, vor ihnen den Narren zu machen. Die Ehrfurcht allein hätte genügen sollen, sie vor solchem knabenhaften Schabernack zu schützen. Und dieses Mädchen – –« Er wölbte beide Hände, als wolle er damit eine Muschel bilden zum Schrein für eine Heilige.
»Mit welcher Freundlichkeit ist sie mir entgegengekommen, wie zutraulich und rein hat sie sich mir offenbart! Sie wiederzusehen, wäre mein ganzes Glück gewesen. Aber wie kann ich das tun? Wenn sie mir selbst in ihrer Himmelsgüte den albernen Streich verzeihen wollte, ich – –« Er stieß in Abscheu mit dem Fuß nach den weggeworfenen Kleidern. »Unmöglich konnte ich noch in diesem abscheulichen und lächerlichen Aufzuge wieder vor sie hintreten. Ich müßte denn – –« Er hielt plötzlich inne, nahm Weylands hübsche und saubere Kleider, die am Bett hingen, in die Hand und hielt sie an das Licht. Aber Weyland, der ahnte, was dieser Brausekopf plante, setzte sich auf und nahm sie ihm weg. »Nein, nein, mein Bester. Und sie wären dir ja auch viel zu klein.«
»Dann, ja dann weiß ich, was ich tue.« Er riß seinen Reisemantel vom Kleiderhaken, das Licht flackerte hoch auf; und ehe Weyland sich's versah, war der junge Sturmwind die Treppe hinunter und ins Weite gelangt. Fluchend erhob sich der Müde, nahm sich nun gleichfalls seinen Mantel um, zog sich Pantoffeln an, sorglich erst auch noch Strümpfe und schlich ihm nach. Aber da hörte er vom Wirtshaus her schon Hufschlag, der sich nach der Drusenheimer Straße hin entfernte. »Ja, da ist also nichts zu machen.«
Kopfschüttelnd schlich er zurück. »Dieser Goethe ist doch ein rabiater Mensch! Und wie er ausgesehen hat in seinem Zorn! Der Donnrer selber.«
Aber dann schüttelte er sich. Ihn fror. Und er wollte sich nicht erkälten.– – –