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Kapitel V

»Laß sie sich drehen, und laß du uns wandeln,
Wandeln der Liebe ist himmlischer Tanz.«

(Goethe, Wechsellied zum Tanz.)

Das Fest

Die Brions pflegten alljährlich Mitte Juli ein Sommerfest für die Jugend zu veranstalten. Man lud die Verwandten und Freunde von diesseits und jenseits des Rheins zusammen. In diesem Jahre betrieb man die Vorbereitungen mit besonders guter Laune. Der junge Gast aus Straßburg, der überall mithalf und mitberiet, gab der gewohnten Sache ein neues, reizvolleres Aussehen, der Arbeit frischen Schwung. Der Garten war sauber geharkt und mit bunten Lampions geschmückt, die Goethe mit den Silhouetten der ganzen Familie und mit Sinnsprüchen bemalt hatte. Gespeist werden sollte auf der großen Wiese. Da waren über leichten Stangen, die man vom Tischler borgte, allerhand weiße und farbige Tücher zeltartig aufgehängt, so daß man Schatten bekam. Es gab ein Gelache und Gesinge bei der Arbeit, daß ganz Sesenheim davon vergnügt wurde. Jeder half mit. Der eine borgte Bänke, der andere Tische. Eine sonst recht geizige Nachbarin brachte Körbe voll Obst, eine andere Schnittblumen als Tafelschmuck. Die Schullehrersfrau kam ganz in der Frühe, um in der Küche zu helfen. Sie war Französin und verstand etwas von feinerer Kochkunst. Während sie Teig einrührte, Saucen tropfte, erzählte sie der Pfarrerin, wie gut sie mit den Stieftöchtern jetzt stehe. Die Älteste hatte sich mit einem Bruder der Stiefmutter verlobt, einem Monsieur Wurmbheim, der Lehrer war in der nahen Garnison Fort Louis. Die zweite hatte bei ihr sich im Kochen vervollkommnet und wollte nun in eine Schweizer Pension als Leiterin gehn. Sie waren nun beide froh, daß sie durch Vaters neue Heirat ihre Freiheit hatten.

Die Lehrersfrau hatte jetzt damit begonnen, das stolze bunte Federkleid eines gerupften Hahnen so zusammenzusetzen, daß es, auf Brotrinden gestützt, zuletzt über das gebratene und zerlegte Tier gestülpt werden und ihm so den Anschein eines lebendigen geben konnte. Es war ein großes Kunststück und bedurfte einer leichten Hand. Eben war sie im Begriff, den Hals durch eingezogene Drahtstäbe emporzuheben, als Salome eintrat mit einem Kessel, den sie mit Fett füllte und auf den Kochherd stellte. »Für die Fische«, sagte sie. »Das berühmte Brionsche Familiengericht. So wie bei uns schmeckt es nirgends, sagen sie alle. Aber wo sind sie denn, die Fische?« Die Fische waren nicht da. Man suchte, man fragte – keiner hatte etwas von den Fischen gesehen. »Aber sie müssen doch da sein! Das Riekchen ist selber in der Fischerhütte gewesen und hat sie bestellt!« Sie rannte auf die Wiese, wo Friederike mit Goethe und Christian an den Zelten herumbesserte. »Die Fische sind noch nicht gekommen!«

Friederike ließ die Arme sinken. Sie wurde ganz blaß. »Vergessen! Ich habe vergessen, die Fische zu bestellen!«

Das Sälmel schrie vor Enttäuschung auf. »Ohne unser Fischgericht taugt die ganze Bewirtung nichts.« Sie fing laut an zu weinen. »Und Marx ißt sie so gern.«

Friederike stand betroffen. Wie hatte ihr diese Vergeßlichkeit nur geschehen können? Und mitten hinein lächelte sie. Oh, sie weiß recht gut, wie alles gekommen ist! Hingegangen ist sie zum alten Fischer. Der aber hat ein Liedchen vor sich hingebrummt, ein elsässisches Volksliedchen. Und da hat sie eben nur noch darauf hingehört, hat es sich immer wieder vorsingen lassen und eingeprägt. Für ihn, für den Goethe. Und alles andere ist darüber vergessen gewesen!

»Ich besorge die Fische!« Goethe fuhr in seinen Rock, den er abgeworfen hatte. »Komm mit, Christian, zur Fischerhütte!« Ehe man es sich versah, waren die zwei schon um die Ecke gebogen.

»Soll man sich nun darauf verlassen?« sagte Salome und trocknete sich die Augen. Friederike nickte und lächelte.

»Nun, und im Notfall machen wir eben eine gute Vorspeise von Eiern«, sagte die Mutter, die herübergekommen war. »Es muß auch einmal so gehn.«

»Ich glaube an die Fische«, sagte Friederike, Es klang so fromm, als sage sie aus ihrem Katechismus her.

Inzwischen liefen die beiden Sendboten, der Zäune nicht achtend, über Wiesen und durch schmale Feldpfädchen dem Flusse zu, der, ein Inselchen umarmend, sich unweit des nächsten Dörfchens zu einer Bucht ausweitet, die fischreich ist. Stumm rannten sie durch den Sonnenbrand der großen Straße, zwei Pfeile, die von der Sehne schnellen.

Am Wasser wehte Kühlung. Nicht weit von der Fischerhütte wartete ein Wagen. Kutscher und Bedienter in erdfarbener Livree schienen auffällig klein. Auch die Decken der braunen Pferdchen waren erdfarben.

Christian lief voran, um Kahn und Netze zu bestellen. Aber der Alte hatte sein Boot schon vergeben, Er tröstete: Die Herrschaft, die im Wagen gekommen und bereits seit der Morgendämmerung zum Inselchen hinübergerudert sei, müsse jeden Augenblick zurückkommen. Sie scheuten die hellen Tagesstunden und hätten sich nur heute verspätet.

»Sie werden uns die besten Fische weggeangelt haben!« rief Christian unmutig.

Der Alte lächelte. »O nein, die gehn auf andre Beute aus. Sie suchen Molche und Kröten. Auch Schlangen lieben sie. Es ist ein seltsames Paar, mit seltsamen Gewohnheiten, Er lang wie ein preußischer Grenadier, die Dame kaum spannengroß.« Diesem kleinen Geschöpf aber scheine der Gemahl in allen Stücken Untertan. So verlange sie jedesmal von ihm, daß er eine große metallne Kassette, die sie auf dem Rücksitz des Wagens immer mit sich führe, eigenhändig aus dem Wagen heben und mit sich tragen müsse. Kein Diener dürfe daran rühren.

In diesem Augenblick sah man drüben am Ufer, kaum unterscheidbar von Moos und Schlamm, ein grüngraues Schleierchen aufwehn, und es erschien eine äußerst niedliche Dame, trippelte zum Kahn und rief ein paar Worte mit hohem, klingendem Stimmchen gegen das Büschigt hin. Worauf ein breitschultriger Herr herankam, aus einem Korb, den er trug, allerhand zappelndes Getier in den Kahn warf, dann wieder umkehrte, um eine ansehnliche blitzende Kassette herbeizuholen, die er auf den Boden des Bootes stellte, und zuletzt seiner kleinen Dame den Arm bot.

Die Frau, ihren Arm ganz hochstreckend, hing mehr, als sie ging, am Arme ihres Mannes, der sich tief herunterbückte und wie in die Erde hineingezerrt schien. Nun ruderten sie heran, stiegen aus. Ein Sonnenstrahl fiel auf den breiten goldnen Ring, den er am kleinen Finger trug. Er war zu eng. Tief war er in das Fleisch eingeschnitten. Gegen das Grün seines Jagdrocks erschien das graue Kleid der Dame stumpf und düster. Ihr Gesichtchen aber war sehr hold von braunem Haar umgeben. In den Augen lag etwas Rätselhaftes, das anzog. Goethe machte alle diese Beobachtungen, während Christian sich sogleich des nun freien Bootes bemächtigte.

»Nimm dich in acht, Christian«, flüsterte Goethe dem Knaben zu. »Nimm dich in acht vor der Zwergenprinzessin. Sie wird dir einen Ring an den Finger stecken, der dich ihr Untertan macht, und wird dich zu den Unterirdischen herunterziehn. Da setzt sie dir dann Frösche und Molche vor als Diner.«

Christian ließ sich nicht aus der Fassung bringen, »Erst aber werden wir unser Fischgericht fangen, heißa!« Und er schmetterte eine Art Jodler dem Paare nach. Bald aber sah man nur den Mann noch gehn, gebückt, mit Schritten, viel zu klein für seine langen Beine. Die Dame war im hohen Gras verschwunden.

Goethe lachte. »Aha, von Zeit zu Zeit versinkt die Schöne in die Erde. Kehrt in ihren königlichen Palast zurück. Oder ist es vielleicht der, den ihr Mann so sorgfaltig da in der Kassette mit sich trägt?«

Er ließ Christian rudern. In seiner Phantasie gestaltete sich ein Märchen, dem er nachträumte.

Dann aber, auf der Insel angelangt, war er der eifrigste und erfolgreichste von ihnen beiden. – –

Es war ein unruhiges Umherstehn gewesen in den oberen Zimmern, die man gegen die Sonne verhangt und durch Hinzunehmen des Hausflurs vergrößert hatte. Im »Sälchen« gab es Beerenwein und Torten als Vorbereitung zum Mittagessen. Albums wurden besehn, ein bißchen Klavier geklimpert. Als Goethe eintrat, sahen ihm lauter neugierige Gesichter entgegen. Marx voll Mißtrauen, Gottlieb mit Eifersucht, die Kusinen erwartungsvoll. Goethe wurde mit allen Anwesenden bekanntgemacht. Meist junge Leute. Ein grauhaariger Junggeselle darunter Verwalter vom Dietrichsschen Gute. Monsieur Wurmbheim war mit zweien seiner Eleven gekommen, jungen Leutnants, die sehr gespannt waren, endlich einmal ein Exemplar der in ihrem Kreise vielbespöttelten »Kraftgenies« zu sehn. Nun stand dieser schöne junge Mann vor ihnen, durchaus sorgfältig gekleidet, unter der prachtvollen Stirn ein paar Augen, die er mit der unbefangenen Beharrlichkeit eines Kindes auf jedem ruhen ließ. Bis er ihn gelesen hatte.

»Für einen Hausgast kommt er reichlich spät«, brummte Marx.

Gottlieb lächelte schmerzlich: der freilich durfte sich schon einiges erlauben! Dann aber wurde er ruhiger. »Nur warten! Dies hier wird vorübergehn. Und dann kommt sie zu mir.«

Der alte Amtmann hatte sein Lorgnon gezogen. »Ziemlich freie Art für einen Studiosen.«

Die Mädchen aber waren entzückt.

Ein wenig Redegeschwirr noch, dann ging's hinüber zur Wiese. Allgemeines »Ah!« Man hatte die Zelttücher mit Wasser besprengt, sie gaben Kühlung. Und nun begann ein echt elsässisches hingebungsvolles Schmausen, wobei man jedem Gericht lautes und inniges Lob spendete. Besonders dem nach Zitrone und Kräutern duftenden goldbraun gebratenen Fischgericht. Marx wurde förmlich ausgelassen dabei.

Im Verlauf der Mahlzeit stand der Amtmann, ein scherzhafter Herr und großer Damenfreund, ein paarmal auf, um in seinem, mit französischen Brocken verzierten Elsaßdeutsch ein paar lustige Tischreden zu halten. Es war seine Spezialität, junge Paare, von denen er glauben konnte, daß sie einander zugetan, durch allerlei Andeutungen in Verlegenheit zu bringen. Auch diesmal lief er mit gefülltem Glase bedeutungsvoll zu Salome und Marx, dem Brautpaar der Lehrersfamilie, dann zu Gottlieb und Friederike und noch einmal zu Friederike, der er dann Goethe zugesellte. »Die Göttin Gelegenheit soll leben!«

Im allgemeinen Aufbruch merkte man nicht viel von dem unzeitigen Scherz. Nur Friederiken fuhr es siedendheiß in die Stirn. Sie vermied es, Goethe anzusehn. Er aber folgte dem hellen leichten Mädchen mit den Augen, wie sie von einem Gaste zum andern ging, hier ihrer Kusine ein Band zurechtrückte, dort ein vergessenes Sonnenschirmchen brachte, dann wieder mit einer lindernden Tinktur, die sie sich verschafft hatte, die Schnakenstiche betupfte, wie sie unauffällig das Gespräch lenkte. Alles das, ohne je Anstrengung oder Eile zu zeigen. Während das Sälmele aufgeregt umherwirbelte und eher Verwirrung schuf als Ordnung.

Goethe fühlte an diesem Morgen zum ersten Male ganz, was Friederike ihm geworden war. Und daß er sie nicht wieder lassen konnte. Er verwünschte alle diese Menschen, die so vertraut mit ihr waren, denen sie zum Kuß die Wange bot; die sie anlächelte. Dann aber, mitten im Gespräch, richtete sie ihre Augen auf ihn. Und in diesem Blick lag eine Zärtlichkeit, ein Zugehörigsein, daß er, zum Staunen von Vetter Gottlieb, der ihn gerade über elsässischen Weinbau unterhielt, hell auflachte.

Nach Tische wurde ein sachter, kleiner Spaziergang ins »Wäldle« gemacht. Man war nicht redselig, hatte viel und gut gegessen und getrunken, und es drohte eine schläfrige Stunde. Friederike, die das zu vermeiden wünschte, nahm Goethe beiseite und bat ihn, etwas auszusinnen. Zu erzählen. Er war sogleich bereit. Und so saß denn bald die ganze Gesellschaft unter duftenden Tannen im Moose, halb gelagert, und Goethe begann sein »Es war einmal ...«, ohne noch eine Ahnung zu haben, was darauf folgen könne. Vater Brion hatte sich ein wenig abseits geschlichen, sein Mittagsschläfchen nachzuholen.

»Es war einmal«, begann Goethe zum zweiten Male suchend. Dann aber leuchtete es übermütig auf in seinen Zügen, »Es war einmal eine Zwergenprinzessin.« Er beschrieb Palast und Hofstaat ihres Vaters, und wie bei der Taufe der jüngstgeborene Prinz wegen seiner Winzigkeit aus den Windeln verloren wird. Man beschließt, den alten Brauch zu erneuern und eine der Prinzessinnen auf die Menschenwelt zu senden, sich dort einen Gemahl zu suchen, der dem immer kleiner werdenden Zwergengeschlecht neues Blut zuführt, es wieder zu Wachstum bringt.

Ein Zauberer verleiht der Prinzessin menschliche Größe, die aber immer nur einige Tage anhält. Um sie wieder zu erlangen, muß sie sich jeden dritten Tag in einen Flügel ihres Palastes zurückziehen, den man ihr zu diesem Zweck in eine Kassette einschließt, die ein Mensch mit Leichtigkeit tragen kann. So ausgerüstet begegnet sie einem Ritter, der auszog, neue Länder zu entdecken und Drachen zu bekämpfen, Er verliebt sich in sie. Sie wählt ihn zum Gemahl. In der Schatzkammer ihres väterlichen Palastes wird ein ungeheuer großer Goldreif bewahrt. Die Prinzessin führt den Verlobten dorthin, eröffnet ihm, daß er nur der Ihre werden könnte, wenn er sich durch Anstecken dieses Ringes zu Zwergengröße bequemen wolle. Er, verliebt, geht alle Bedingungen ein, steckt den Zwergenring an, der ihm, so groß er schien, schmerzhaft ins Fleisch schneidet. Sie berührt gleichzeitig den Ring. Sie schrumpfen beide zusammen, sind Zwerge geworden, wie die übrigen Bewohner des Palastes.

Und nun wurde mit den liebevollsten Farben der Zwergenhaushalt des jungen Paares ausgemalt. Ihre traulichen Gespräche zwischen den Grashalmen, ihre Gesellschaften im Reich der Ameisen, ihre Jagden auf das kleine Erdgewürm, die Feste, bei denen die Grillen musizierten. Vor allem aber ihre immer wachsende Liebe zueinander. Goethes übervollem Herzen entströmte ein solcher Hymnus auf die Liebe, daß jedes junge Herz davon entbrannte.

Christian hatte sich die ganze Zeit nicht fassen können vor Vergnügen, hatte vertrauliche Zeichen gemacht, die Goethe abwehrte.

Als aber jetzt der Verwalter herantrat und meinte: Er müsse sehr irren, oder Frau von Dietrich kenne ein Paar, das dem geschilderten aufs Haar gleiche, fuhr er auf, wollte erklären, erzählen. Goethe gebot ihm mit einer leichten Geste Schweigen. »Wie dem auch sei,« bemerkte er abschließend, »mein Märchen endet wie jedes ordentliche Märchen enden muß: ›Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.‹ Woraus ja folgt, daß jeder von uns eines Tages dem Manne mit Kassette und Zwergenring und seiner kleinen Frau begegnen kann.«

Alle waren höchlichst zufrieden mit dieser Wendung. Man lobte Friederike, weil sie den Freund zum Erzählen veranlaßt hatte. Sie nahm allen Dank ruhig mit einem allerliebsten Stolz entgegen.

Man brach nun auf. Vergnügt langte man wieder auf der Wiese an, wo die Zelte beiseite geschafft waren. Man hatte genug geruht, man wollte jetzt spielen, sich bewegen. Helle Kleider flogen über den Rasen, Runden bildeten sich, die mit Gesang um irgendeine »Königstochter« oder um einen armen Gefoppten sich herumbewegten. Man spielte »Topfschlagen« und »Vögelchenverkauf«. Wer als letzter gefangen wurde oder sonst zurückblieb, wurde in Strafe genommen und mußte ein »Pfand« geben. Mancher zeigte sich mit Absicht ungeschickt, in der Hoffnung, sich nachher durch einen Kuß auslösen zu dürfen. Denn es galt in jener Zeit ein Kuß, inmitten eines geselligen Kreises für durchaus erlaubt. Auch Friederike hatte bei solchen Anlässen unbedenklich Küsse gegeben und empfangen, ohne dabei weder besonderes Vergnügen noch Abwehr zu spüren. Heute aber, als sie sich von der Blindekuh hatte fangen lassen und man ihr als Pfand das silberne Kettchen einforderte, das sie am Halse trug, wehrte sie sich lange. Es half ihr nichts. Goethe von seiner Seite hatte es ähnlich getrieben, sich immer wieder und wieder aus der Schlinge gezogen, Es war wie eine Verabredung zwischen den beiden, sich weder ihre Lippen von Fremden berühren zu lassen, noch – sollte der Zufall es so geben – sich vor den Augen dieser neugierigen Gesellschaft ihren ersten Kuß zu geben. Denn, so wenig schwer man damals im Elsaß es nahm, wenn ein junger Mann und ein junges Mädchen in Freundschaft Küsse tauschten, die Liebenden hatten es bisher beide sorgfältig vermieden, sich auch nur im Scherz zu umarmen. Der Gesellschaft aber schien es ein besonderes Vergnügen zu bereiten, zu ergründen, ob »Pfarrers Riekchen« mit dem Gottlieb versprochen sei oder etwa mit dem Studiosen aus Frankfurt. Als Friederikens Kettchen ausgelost wurde, hieß die Strafe: »Briefträger.« Zwei Briefe an Mamsell Brion seien angelangt, einer mit einem schwarzen, der andre mit einem roten Siegel. Das schwarze bedeutete einen Backenstreich, die roten fünf Küsse. Hinter einem hochgehaltenen Tischtuche mußten sich die Herren aufstellen, die Hand erheben, und Friederike mußte für jede der Strafen den Vollzieher wählen. Hatte sie aber in der Erregung falsch zugegriffen? – Hatte der Amtmann, der solche Scherze liebte, den Lenker gespielt? – als das Tuch fiel, hielt ihre linke Hand wohl, wie sie geplant, den Vetter, ihre rechte aber lag in der heiß pulsierenden des jungen Goethe. Die ganze Gesellschaft klatschte. Der Streich wurde empfangen, die Küsse zeremoniell und flüchtig gegeben. Beim letzten aber hafteten die beiden Lippenpaare brennend und lange aneinander. Es lag etwas so Starkes, Heiliges in den Gesichtern dieser beiden schönen jungen Menschen, daß kein Wort des Scherzes oder Spottes sich hervorwagte. Erst als die beiden jäh sich losreißend, wie auf der Flucht, rasch auseinanderliefen, lachte man.

Überdies waren jetzt die Mägde gekommen, stellten auf Böcken lange Tischplatten auf, die sie mit allerlei vesperlichen Erfrischungen bedeckten: Gelees und Obst, Kuchen, Schokolade, kühlende Mandelmilch und Limonaden. Und Berge weißer Brötchen mit buntem, zierlichem Belag. Die Jugend stürzte sich mit neuem, bewundernswertem Appetit auf das Gebotene. Auch Frau Brion gönnte sich nun endlich auf einem bequemen Gartenstuhl ein friedsames Ausruhn. Dann kamen die beiden Musikanten der Gegend und spielten auf. Man tanzte, ging dazwischen paarweise spazieren, tanzte wieder.

Friederike hatte erst, wie immer, mitgemacht. Man sah ihr freundliches Gesicht, hörte ihre liebenswürdige Stimme überall. Sie tanzte, bot Erfrischungen, unterhielt sich. Alles aber wie im Traum. Ein paarmal führte Gottlieb sie zum Tanz. Er erzählte ihr, wie schwer er hätte abkommen können, gerade in der arbeitsreichen Zeit im Sommer. Nun aber sei er glücklich, hier zu sein. Mit ihr. »Ja, ja«, sagte sie zerstreut freundlich. Dann tanzte sie nicht mehr. Sie sei sehr müde, sagte sie.

Goethe hielt sich zu den andern Madchen.

Als es dann vom Turm sieben schlug, ging Pastor Brion, die Uhr in der Hand, unruhig umher, vor der Tür warteten bereits die beiden Stellwagen, die seine Gäste nach verschiedenen Seiten wieder zurückbefördern wollten. Das Abschiednehmen wurde schließlich ein ziemlich eiliges und lärmendes Aneinander-Vorbeischwatzen. Umarmen, Küssen, »Auf Wiedersehn!«, »Und nun müßt ihr bald auch zu uns zu Besuch kommen!«. Die Pferde zogen an. Ein winken, Rufen – der Tag war aus.

Christian und Sophie hielten ergiebige Nachlese am Erfrischungstisch. Die Mutter und Salome kleideten sich um und begaben sich ans Räumen. Die Lehrerstöchter halfen. Friederike auch. Dann aber, als habe jemand sie dorthin gerufen, ging sie in den stillen, dunkelnden Garten hinaus.

Da stand er an der Jasminlaube, ging ihr entgegen. An der Stelle, wo sie einander trafen, blieben sie stehn und küßten sich. Dann sagten sie sich viele Male, wie lieb sie einander hatten. Und daß sie sich niemals lassen wollten.

Hand in Hand saßen sie in der Jasminlaube. vom Felde drüben flogen Schwärme von Leuchtkäfern empor. Jetzt stieg es auch im Garten aus dem Rasen auf. Sinnverwirrend. In den dunkeln Bäumen hing's wie glühende Tropfen. Goethe faßte sie mit andächtigen Fingern und setzte einen nach dem andern als Strahlendiadem in Friederikes volles warmes Haar. Ein Sommerduft zog über die Talsenkung, in der das Dorf schlief. »Wie liebe ich dich!« sagte eins zum andern. Immer wieder.

Erst als im Hause die Lichter verloschen, wanderten sie, dicht zueinander gedrängt, langsam zurück. Zwei selige Leute.

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