Georg Heim
Heitere Geschichten
Georg Heim

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111 Wo wohne ich?

Ich unterhielt mich eines Tages mit einem bayerischen Minister über einen Beamten seines Ressorts. Er war voll des Lobes für ihn, rühmte seine Tüchtigkeit, seinen Diensteifer, bemerkte aber, daß sich sein Verwendungskreis auf den inneren Dienst beschränke, denn für den Parteiverkehr sei er ganz ungeeignet. Mir wollte bei dem Lobe des Ministers diese Einschränkung nicht recht einleuchten. Da stellte dieser an mich unvermittelt die Frage: Halten Sie es für möglich, daß ein Mann seinen eigenen Namen nicht mehr weiß? Ich antwortete natürlich, ich hielte das bei einem normalen Menschen für ausgeschlossen. Und doch erzählte mir der Minister, daß er bei seiner ersten Begegnung mit diesem Beamten auf die Frage: Mit wem habe ich die Ehre? keine Antwort erhielt. Verlegenes Stammeln, unglaubliche Hilfslosigkeit, bis der Minister ihm dann direkt mit der Frage auf den Leib rückte: Darf ich Sie um Ihren Namen bitten? »Entschuldigen, Exzellenz, ich habe ihn im Augenblick vergessen!«

Das erscheint gänzlich unglaubhaft. Aber es war wirklich so. Wie ich später feststellen konnte, hatte 112 der betreffende Beamte, der zum ersten Male seinen Ressortminister besuchte, seinen nächsten Freunden diesen Vorfall bestätigt. Und wer ihn gekannt hat, dem erscheint das glaubhaft. Eine in sich gekehrte, schüchterne Natur, sehr brauchbar für stille Bureauarbeit, im übrigen anspruchslos und ganz zurückgezogen lebend.

Das ist aber erst die Einleitung. Wie der Titel zeigt, will ich nicht erzählen, wie einer seinen Namen vergessen hat, sondern seine eigene Wohnung.

Es war in den 90er Jahren; der neugewählte Reichstag versammelte sich in Berlin. Am Vortag vor der ersten Sitzung traten die Fraktionen zusammen. Die älteren Abgeordneten nahmen sich der neugewählten, die zum ersten Male nach der Reichshauptstadt kamen, fürsorglich an. Wir waren etwa zwölf bayerische Abgeordnete im Zuge zusammengetroffen; die Hälfte davon waren Neulinge. Wir Älteren wohnten schon während der vorhergehenden Session in der Nähe des Anhalter Bahnhofes in einer Pension. Die Wirtin war von unserer Ankunft im vorhinein verständigt; wir waren untergebracht. Auch einige der Neulinge schlossen sich uns an. Nur einer von ihnen, 113 ein Mann des seßhaften Mittelstandes, der übrigens von der Welt etwas gesehen hatte, ging bei der Ankunft in Berlin sofort auf die Wohnungssuche. Er fand auch in einer Straße in der Nähe des Anhalter Bahnhofes eine, wie er meinte, ganz passable Bude bei anständigen Leuten. Da er für Behaglichkeit eine große Wertschätzung hatte, durfte man annehmen, daß er eine gute Wahl getroffen hatte.

Den ersten Abend in Berlin brachten wir in der Filiale des bayerischen Hofbräuhauses in der Leipzigerstraße zu. Da wir bis nachts 10 Uhr in der Fraktionssitzung festgehalten worden waren, kamen wir erst spät zum Abendimbiß und zur nötigen Bettschwere. »In stiller Ruh' lag Babylon«, als wir den Heimweg antraten. Unser Freund begleitete uns bis zum Anhalter Bahnhof und verabschiedete sich an der Türe unseres »Stalles« mit einem herzlichen »Gute Nacht!« und »Auf Wiedersehen!«.

Dieses Wiedersehen sollte nicht lange auf sich warten lassen. Ungefähr nach einer Stunde wurde in unserer Pension die Alarmglocke gezogen. Ich hatte mein Zimmer gerade der Korridortür gegenüber. Es drangen bayerische Laute an mein Ohr. 114 Ich lauschte aufmerksam: Wer ist das? Das ist ja die Stimme meines Freundes mit dem behaglichen Zimmer. Gerade hörte ich, wie er unserer Wirtin versicherte, daß er alle bei ihr wohnenden Herren kenne, und um ein Nachtquartier bat. Die Wirtin versicherte lebhaft, daß alles besetzt sei. Mir schwante etwas von einem Mißgeschick. Daher streckte ich meinen Kopf zur Türe hinaus und rief den Namen meines Freundes. »Das ist aber recht, daß du wach bist. Ich bin in einer schrecklichen Verlegenheit. Ich habe meine Bude nicht mehr gefunden!« Unsere Wirtin willigte gerne ein, daß er auf dem Sofa meines Zimmers nächtige, und so nahm mein wohlbeleibter Freund Platz und erzählte mir seine Irrfahrt. Er hatte seine Berliner Adresse auf einen Zettel notiert mit Straße und Hausnummer, diesen Zettel einem Brief an seine liebwerte Gattin beigelegt und sofort auf die Post gegeben. Er selbst verließ sich auf sein Gedächtnis und darauf, daß er das Haus jederzeit wiederfinden und erkennen würde. Er hatte nicht damit gerechnet, daß die Orientierung in einer modernen Großstadt mit ihren gleich aussehenden Straßenquadraten keine leichte Sache sei, mußte sich aber jetzt davon überzeugen. Als 115 besonderes Merkmal des Hauses, in dem er wohnte, hatte er festgehalten, daß sich im Keller ein Gemüsekramladen befinde. Daß es in vielen Straßen Berlins solche Kellerläden gibt, daran hatte er nicht gedacht. Das Mißgeschick meines Freundes gaudierte mich großartig, und er wurde beinahe ungehalten, daß ich mich noch darüber lustig machte. In sehr früher Stunde machte er sich des anderen Tages auf den Weg, seine Residenz zu suchen. Im Lesezimmer des Reichstages wollten wir uns wieder treffen. Als ich mich nach ungefähr zwei Stunden an der verabredeten Stelle einfand, war er noch nicht da. Ich wunderte mich darüber, denn er hätte schon vor mir da sein müssen. Eine gute Stunde dauerte es aber noch, bis ich seiner ansichtig wurde. Ihn auszufragen, hatte ich nicht notwendig. Er bat mich vor die Türe, da im Lesezimmer Schweigegebot herrscht, und erzählte mir von seinem neuen unglaublichen Pech: er hatte auch am Tage seine Wohnung nicht mehr gefunden!

Die Geschichte war mißlich, da er sein ganzes Gepäck, darunter seine schwarze Wichs, dort abgestellt hatte, und er wollte doch am nächsten Tage der feierlichen Eröffnung des Reichstages durch Seine 116 Majestät im Weißen Saale des Schlosses anwohnen. »Was willst du jetzt machen?« fragte ich ihn nun. »Ich habe schon an meine Frau telegraphiert, mir mitzuteilen, wo ich wohne.« Am anderen Tag, mit dem gleichen Frühzug, mit dem wir in Berlin gelandet waren, erschien seine Gattin und fand ihren Mann im Reichstag, zum Glück noch rechtzeitig, um mit ihm in einer Droschke in die Wohnung zu fahren, deren Adresse die Frau wohl wußte.

Warum meines lieben Freundes Gattin die Adresse persönlich überbrachte, will ich nicht näher auseinandersetzen. Es muß ja auch einer Frau Kopfzerbrechen machen, wenn ihr Mann, der eben seine auswärtige Adresse mitgeteilt hat, am gleichen Tage noch depeschiert: Bitte, mir drahtlich die Adresse meiner hiesigen Wohnung mitteilen!

Ich war der einzige, den mein Freund in sein Mißgeschick eingeweiht hatte. Ich mußte ihm hoch und teuer versprechen, es niemand zu verraten. Ob seine Frau die Diskretion so rundweg gewahrt hat, scheint mir zweifelhaft. Er fürchtete, daß es an ihm wahr werde, daß, wer den Schaden, auch obendrein den Spott habe.

Ich habe mein Versprechen gehalten.

117 Auch der feierlichen Reichstagseröffnung konnte er anwohnen und die Thronrede mit anhören. Bei Verlassen des Weißen Saales wurde die Thronrede bereits von den Zeitungsverkäufern ausgerufen. Die Berliner Zeitungsausrufer sind ja bekannt wegen ihrer schnoddrigen Witze. Am gleichen Tage war der D-Zug Köln–Berlin nicht weit vor den Toren der Reichshauptstadt entgleist. Und da riefen die Zeitungsverkäufer ihre Extrablätter mit dem Motto aus: »Thronrede Seiner Majestät – – Großes Unglück«. Das Unglück war die Entgleisung des D-Zuges.

Heute sind seitdem nahezu 30 Jahre auf der Sanduhr der Zeit abgelaufen, und ich gestehe, daß ich inzwischen öfters im Freundeskreis von dem Mißgeschick des längst Verstorbenen erzählt habe. Die Urkomik der Situation hat ihre Wirkung auf die Lachmuskeln nie versagt. Und da das Lachen die Medizin des Himmels ist, sollen heute noch andere Mitmenschen davon erfahren.


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