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Die Bude – der Student kennt alle die schönen Worte nicht, wie Zimmerwohnung oder Garçonwohnung oder möbliertes Zimmer – ist für den Studenten während seiner Studienzeit ein Stück seines Lebensinhaltes. Er ist zwar des Tages wenig in seinen vier Mauern, nichtsdestoweniger ersetzt sie ihm aber die Häuslichkeit, nach der er trotz seines freien Lebenswandels bisweilen Bedürfnis hat. Voraussetzung ist aber, daß eine gute Wirtin ihm die Bude wertvoll macht. Sie darf ihm nicht nur am Ende des Monats die Rechnung vorlegen, sondern muß ihn auch wohlwollend bemuttern bei allen kleinen menschlichen Bedürfnissen, denen nur die Frauenhand abhelfen kann. Ich hatte viele Buden und infolgedessen auch viele Wirtinnen, und darunter wirklich herzensgute Menschen, die in ihrer Herzensgüte für Studenten und so auch für mich mehr taten als durch Entgelt ausgeglichen wurde.
Im vierten Stock eines Hauses, am wunderschönen Marktplatz, mit der gotischen Marienkapelle, wohnte ich. Meinen Weg zur Universität nahm ich in der Regel durch eine der schmalen Würzburger Gassen, 104 die hinter meinem Hause gegen den Main führten. Von dort zog ich durch das Glacis, das durch Oberbürgermeister Zürn in wundervolle Anlagen umgewandelt wurde, zur Universität. Es war immerhin ein Spaziergang von nahezu ¾ Stunden. Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt. Jeden Morgen zur gewohnten Stunde passierte ich die oben erwähnte schmale Gasse.
Und immer zur gleichen Stunde zeigte sich an einem bestimmten Hause zur ebenen Erde der Kopf eines Schusterlehrlings, der jedesmal, wenn er meiner ansichtig wurde, die Melodie pfiff: Lang, lang ist's her. Den Sinn dieser musikalischen Andeutung zu raten, war nicht schwer. Ohne Einbildung durfte ich sie bei meiner Körperlänge von 1,93 Metern auf mich beziehen. Ich passierte die Straße mit großer Regelmäßigkeit zur selben Minute, und Tag für Tag wiederholte sich dasselbe musikalische Schauspiel, immer wieder: Lang, lang ist's her! Ich giftete mich unendlich. Anfänglich glaubte ich, ich solle diesen Lausbuben von einem Schusterjungen ignorieren. Aber nach einiger Zeit bemerkte ich, daß das blondgelockte Töchterlein des Ladeninhabers in der Nähe des 105 Schusterateliers mit grinsendem Vergnügen jeden Morgen am Fenster stand, um sich an meiner Verhohnepipelung zu amüsieren. Wie es in der Diplomatie Prestigefragen gibt, so auch im Leben des Studenten.
Die Geschichte wurde auf die Dauer unerträglich. Es mußte ihr ein Ende bereitet werden. Es wäre nahe gelegen, die Straße zu meiden.
Das aber hätte einen Sieg des Schusterlehrlings bedeutet. Dies war um so weniger angängig, als der Bursche Mitwisser und vor allem Mitwisserinnen hatte.
An einem schönen Morgen ging ich wieder durch die gleiche Straße, aber diesmal nicht in der Richtung gegen den Main, sondern umgekehrt, vom Maine herkommend. Ich hielt mich hart an den Mauern der Häuser, und – ohne vorher bemerkt zu werden – näherte ich mich dem Haus mit der Schusterwerkstatt. Weit über die Fensterbrüstung vorgebeugt lauerte der Schusterlehrling auf sein Opfer. In diesem Augenblicke hatte er die fünf Finger meiner rechten Hand (Nr. 8½ Handschuhnummer) auf der Backe, indem ich gleichzeitig dabei pfiff: Lang, lang ist's her. Die Feindschaft zwischen uns beiden war damit endgültig 106 begraben. Am nächsten Morgen passierte ich zur gewohnten Stunde die gewohnte Straße, ohne des jungen Spötters ansichtig zu werden.