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Man erinnert sich immer wieder mit Vorliebe der Orte, wo man seine Jugend verbrachte. Es war doch die schönste Zeit, in der wir als kleine Lateiner vollständig sorgenlos und ungebunden in dem überaus lieblichen Maintal bald an dem Wasser des Flußlaufes, bald in den wunderschönen Anlagen und Wäldern, dann wieder auf Bergeshöhen unsere zeitgemäßen Spiele trieben.
Jede Jahreszeit hat ihre besonderen Unterhaltungen. Bei Frühjahrsbeginn geht's hinaus, Palmkätzchen suchen, in der Osterzeit werden die Ostereier gepickt, in der zweiten Hälfte des Frühlings kommt dann der Kreisel und das Schusserspiel, im Sommer bildet das Wasser einen Hauptanziehungspunkt für Baden, Fischen, Schwimmen, Krebsen, Kahnfahren, und wenn dann der Herbst kommt mit seiner Fülle von reifenden Früchten, wird eine fruchtreiche Gegend für die Buben ein Paradies. Dann kommen die Herbstwinde. Auf breiten Wiesenflächen steigen die Drachen an unendlich langen Schnüren in die Höhe, und auf den Kartoffeläckern steigt Rauch auf, in der heißen Asche des verbrannten Kartoffelkrauts werden die Kartoffel gebraten.
10 Ich muß mich öfters wundern, wenn ich das Spiel der Jugend beobachte, wie heute noch alles so ist wie vor fünfzig Jahren, und wie es wohl schon war vor hundert Jahren.
Die schönste Zeit, weil sie für die Unternehmungslust der Jugend keinerlei Zeiteinschränkung bringt, sind die großen Ferien, die in die heißen Sommermonate fallen, fälschlich als Herbstferien bezeichnet. In meiner Heimatstadt ist das Ostufer des Maines bergig. Die Stadt selbst steigt terrassenförmig an; eine Brücke führt auf die Westseite des Mains, und hier erstreckt sich eine breite Ebene, die auf drei Seiten vom Main umgeben ist. Hier hat Bayern bald ein Ende. Nach Westen liegt der wunderbare Schönbuschpark, wo die Bischöfe der kurmainzer Zeit ihre Zeit mit Schäferspielen vertrieben. Dieser wundervolle Park mit seinen versteckten Tempelchen, Schlößchen und Waldhäuschen wurde von uns Jungen mit Vorliebe aufgesucht. Zwei bunte Alleen, die eine für Fußgänger, die andere von Napoleon angelegt – ungewöhnlich breit und von hohen Pappelbäumen eingezäunt – für Fahrzeuge. Zwei Stunden von der Mainbrücke an gerechnet ist bereits die Landesgrenze, und das Nachbarland Hessen beginnt.
11 Es war ein Augusttag, der Himmel wolkenlos, tiefblau, als sechs kleine Lateiner auf dieser Allee nach dem Schönbusch marschierten. Daß sie nicht sittsam, Schritt für Schritt den Weg verfolgten, ist wohl selbstverständlich. Da war bald hier, bald dort, bald rechts, bald links vom Wege abseits irgend etwas zu sehen, zu forschen, zu untersuchen.
Auf einmal gab es ein großes Hallo. Ein Hase, – wie der Blitz war die ganze Schar hinter dem armen Lampe her, und merkwürdig, er war nicht so flink wie seine Genossen, und der Grund hiefür stellte sich alsbald heraus. Er war offenbar einmal angeschossen worden; denn ein Lauf war verkümmert, und so waren die vielen Buben des Hasen Tod. Erschlagen war der gute Lampe schnell; aber kaum war der Mord geschehen, dann sahen wir uns alle mit einem gewissen Mißbehagen an. Nunmehr wurde beraten. Was soll mit ihm geschehen? Alle waren sich darüber einig, daß man den Hasen nicht mit nach Hause nehmen durfte, und daß wir bestraft würden, wenn der Mord bekannt würde. Einigen davon wurde gruselig, und es wäre ihnen lieb gewesen, wenn sie von der ganzen Sache nichts gewußt hätten. 12 Ein Nachbarsbub aber, der nicht zu Skrupeln neigte, packte den Hasen und forderte mich auf, mit ihm zu gehen. Die anderen entfernten sich. Er war kurz entschlossen, versteckte den Hasen unter einer Wegüberfahrt. Dann gingen auch wir nach Hause. Auf dem Heimweg war der Gegenstand unserer Unterhaltung fortwährend, die beste Art und Weise herauszubringen, um den Hasen unentdeckt über die Brücke zu bringen. Mein Freund meinte, wir könnten ihn mit dem Kahn über den Main bringen. Dagegen hatte ich Bedenken, und ich sagte ihm, ich hätte einen Plan. Er wollte meinen Plan wissen; ich sagte ihn aber nicht. Am anderen Tag sollte er zu mir kommen, dann würde er alles hören. Aber den Hasen dürften nur wir allein essen.
Zur Ausführung unseres Vorhabens schien mir die Morgenstunde geeigneter, weil einem da nicht so viel Leute begegneten. Der Weg führte wieder über die Mainbrücke, auf der nahe dem jenseitigen Ufer ein kleines Zolleinnehmerhäuschen stand. Ich kannte den Zolleinnehmer. Er schaute gerade zu seinem Guckfenster heraus, als ich mit meinem Freund die Brücke passierte. Ich grüßte ihn respektvoll. Er kannte meinen Vater, der 13 Stadtrat war, gut, und auch ich war ihm nicht unbekannt. Ich näherte mich ihm voll Vertrauen und frug ihn, ob ich nicht einen Kürbis holen dürfte. Ich möchte mir einen »ausschneiden«. Das war ein beliebtes Tun unserer Jugend. Auch ein Spiel, das seine Saison hatte, und heute noch hat so Ende August, Anfang September. Es gab bei uns die großen Feldkürbisse, die wurden ausgehöhlt, dem Kürbis Augen und Mund geschnitten und abends ein Lichtchen hineingestellt. Solche leuchtende Köpfe konnte man abends in manchem Garten und Hofraum sehen.
Der Herr Zolleinnehmer fühlte sich wohl durch meine Wohlanständigkeit sehr geehrt. Er sagte mir: Du darfst dir einen auf meinem Acker holen, mehr wie einen aber darfst du nicht nehmen. Ich dankte ihm herzlich und versprach ihm, auf dem Rückwege mich bei ihm zu melden.
Wir holten einen Kürbis, höhlten ihn aus und schnitten oben einen Deckel ab. Dann gingen wir zu dem Platze, wo unser Hase versteckt war und rollten ihn in den Kürbis hinein. Dann kam wieder der Deckel auf den Kürbis.
Jetzt ging's heimwärts. Ich trug meinen Kürbis, den ich mit meinen kleinen Armen kaum 14 umspannen konnte, im festen Vertrauen auf das Gelingen meiner Kriegslist, zum Zollhäuschen. Der Einnehmer schaute gerade heraus.
Guten Morgen, Herr Einnehmer! Er frug mich: »Hast du einen?«, und ich gab ihm zur Antwort: »Jawohl, ich habe einen!« Ich klopfte dabei auf meinen Kürbis.
Er rief mich zu sich heran mit den Worten: »Laß ihn einmal sehen.« Jetzt wurde mir schwummerig. Doch er ließ es beim Augenschein bewenden. Ich bedankte mich, und die gefährliche Klippe war überwunden, und mit Genehmigung des Zolleinnehmers brachte ich den Kürbis, der auf seinem eigenen Acker wuchs, mit der Beute meines ersten Jagdfrevels, ohne die vorgeschriebene Fleischakzis zu zahlen, nach Hause. Der Zolleinnehmer selbst war zum Hehler geworden.
Die Mutter meines Freundes hat den Hasen hergerichtet. Das war mein erster und letzter Jagdfrevel. Ich gestehe aber ganz offen, daß mir im Leben nie ein Hase so gut geschmeckt hat wie dieser. Das ist die Geschichte von der verbotenen Frucht.