Georg Heim
Heitere Geschichten
Georg Heim

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93 »Dem praktischen Leben fern . . .«

Es war Ende der neunziger Jahre. Ich gehörte dem Bayerischen Landtag und dem Reichstag an. Es war die Zeit des Übergangs, in der noch die Kämpen aus Bismarcks Zeit lebten: Daller, Orterer, Vollmar, Schädler, Grillenberger dem Landtag, Richter, Rickert, Miquel, Bebel, Herbert Bismarck und andere dem Reichstag angehörten. Was ich aber erzählen will, hat mit Historie nichts zu tun, es ist ein rein persönliches Erlebnis, das aber doch manchen Mitmenschen Spaß machen wird.

In jener Zeit lag dem Bayerischen Landtag ein Gesetzentwurf vor betreffend Revision der Steuergesetze. Ich war der Jüngste im Landtag – ich hatte das 30. Lebensjahr kurz überschritten, das für die Wählbarkeit die Grenze bildete. Die Steuergesetze waren in der Vorkriegszeit immer Gegenstand sehr lebhafter Auseinandersetzungen, und daran hat es auch bei dieser Vorlage nicht gefehlt. Jugendlich und stürmisch bin ich an die Arbeit herangegangen, und gemeinschaftlich mit meinem Kollegen Dr. Pichler haben wir dem 94 Ausschuß durch Anträge reichlich Arbeit gemacht. Nicht immer zur Freude der betroffenen Kreise. Von Handel und Industrie wurden sie oft mit Widerspruch aufgenommen.

An einem Herbsttag fuhr ich von München nach Berlin, um an einer Reichstagssitzung teilzunehmen. Es war der Abendzug, der heute noch, jetzt allerdings als bequemer Schlafwagenzug, 7 Uhr abends in München abgeht und nach zwölfstündiger Fahrt in Berlin morgens fast um die gleiche Stunde ankommt. Ich hatte meinen Platz in einem Coupé erster Klasse belegt und ging auf den Bahnsteig, um mir noch einige Zeitungen zu kaufen. Beim Zeitungsverkäufer hatte ich eben die letzte Nummer einer größeren Münchener Zeitung erstanden, als ein wohlgenährter Herr mit viel Reisegepäck vergeblich die Nummer der gleichen Münchner Zeitung zu kaufen suchte. Der fliegende Bahnhofsbuchhändler erwiderte ihm: »Eben habe ich diesem Herrn die letzte Nummer gegeben.« Ich steige ein. Und zu meinem Erstaunen finde ich mir gegenüber den gleichen Herrn. Jeder mit einem Pack Literatur ausgestattet, er und ich. Wir saßen uns gegenüber, anfangs ohne eine Vorstellung und ohne ein Wort der Unterhaltung. Die 95 Billettkontrolle belehrte mich alsbald, daß auch für ihn die Reichshauptstadt das Reiseziel war. Ich las meine Zeitung, darunter auch jene »letzte Nummer«, die ich meinem Gegenüber weggekauft hatte. Die erste Seite dieses Blattes beschäftigte sich mit den Arbeiten des Steuerausschusses, darunter auch mit Dr. Pichler und meiner Person, und zwar in nicht sehr schmeichelhafter Weise. An vernichtende Kritik war man ja als Abgeordneter gewöhnt. Besonders war das Bedauern darüber ausgesprochen, daß in so rein wirtschaftlichen Fragen ein Geistlicher (Dr. Pichler) und ein jugendlicher Reallehrer (das war ich), »die vom praktischen Leben nichts verstehen«, tonangebend seien. Ich hatte diese Stelle unterstrichen, um sie für meine Registratur ausschneiden zu lassen und am Rande selbst ironisch bemerkt: »sehr richtig«. Diese Bemerkung hatte ich mit einem Pfeil versehen, dessen Spitze auf die meine Person betreffende Kritik verwies.

Es war unterdessen eine Stunde vergangen. Da hat mein Gegenüber mich gebeten, ob ich ihm nicht die Zeitung, die er sich nicht mehr kaufen konnte, leihen möchte, was ich ihm mit Vergnügen zusagte. Ich stellte ihm auch meine übrige Literatur zur Verfügung. Er hatte einige Tagesblätter, die ich nicht besaß, auch eine Fachzeitschrift, die er mir nicht übergab. Ich bat ihn darum. »Haben Sie dafür Interesse?« Ich bejahte das. Über meine Zeitung hinweg beobachtete ich mein Gegenüber, wie er sich gerade an der Stelle aufhielt, die ich sehr stark unterstrichen und mit der Bemerkung »sehr richtig« versehen hatte, und ich war gespannt, wie er die Kritik über meine Person aufnehmen würde. Und ebenso unwillkürlich schaute mir mein Vis-à-vis ins Gesicht. Er sagte: »Da haben Sie aber sehr recht, es ist wirklich ein Skandal, daß ein junger Mann, der von dem praktischen Leben hint' und vorn' nichts versteht, in solchen Fragen den Ton angibt.«

Ich habe diese seine Entrüstung freundlich lächelnd quittiert. Die Reise geht weiter. Der Tag sinkt. Die Beleuchtung war schlecht. Mein Gegenüber suchte eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Wir sprachen vom Notenbankgesetz, das zu jener Zeit den Reichstag beschäftigte (Verlängerung des Privilegs der Privat-Notenbanken). Meine Kenntnisse auf diesem Gebiet schienen ihn zu befriedigen, denn er fragte mich: »Sie sind wohl 97 Bankfachmann?« Meine Antwort lautete: »Nein, ich stehe dem praktischen Leben völlig fern.«

Die Fachzeitschrift, die er mir überlassen hatte, behandelte u. a. das Thema eines Schutzzolles für Wolle und nahm Stellung gegen die Forderung norddeutscher agrarischer Kreise. Auf diesem Gebiet war mein Gegenüber sehr bewandert, denn er gehörte der Textilbranche an. Ich habe ihm meine Auffassung unterbreitet, worauf er mir die Frage vorlegte, ob ich auch der Textilbranche angehöre. Er witterte offenbar einen Konkurrenten. Ich konnte ihn aber mit der Bemerkung beruhigen: »Ich stehe dem praktischen Leben völlig fern, ich verstehe davon gar nichts.« Nach einiger Zeit kamen wir auf die Fragen »Refaktien« im Güterverkehr und der sogenannten Einfuhrscheine (Zollrückvergütung). Das Thema beschäftigte uns ziemlich lange; es war Zeit, sich zur Ruhe zu legen. Er meinte schließlich, ich sei wohl beim Verkehrs- oder Speditionswesen, also vom Fach. (Ich bemerke dazu, daß ich es peinlich vermied, es zu einer gegenseitigen Vorstellung kommen zu lassen.) Auch hier konnte ich ihn wieder beruhigen, indem ich ihm bemerkte, meine Ansichten seien die eines Dilettanten, denn ich stünde dem 98 praktischen Leben völlig fern und verstehe nichts davon, ich hätte nur so meine Ansichten.

Zu jener Zeit gab es wenig Züge mit Schlafwagen. Dagegen waren die Wagen erster Klasse in Liegestätten umzuwandeln. An der Wand war eine Tafel angebracht, man möge den Kondukteur rufen, wenn man sich das Bett nicht selbst bereiten könne. Mein Gegenüber, im übrigen ein sehr behaglicher Herr, der einen großen Freßkorb mit entsprechend flüssigen Beigaben wohlassortiert mit sich führte, ließ mich an allem seinem Überfluß teilnehmen, so daß unsere Unterhaltung immer gemütlicher, immer behaglicher wurde; wir hatten uns gut zusammengeredet. Eine dicke Importe versetzte mich in eine wohlige Stimmung, und unser kleines Heim, das wir auf zwölf Stunden miteinander teilten, war rauchgeschwängert. Vor dem Bettgehen schlug ich vor, das Coupé noch gut zu lüften. Er war einverstanden. Nun ging es ans Bettmachen. Hier versagten nun seine Kenntnisse. Er läutete dem Kondukteur. Dieser kam nicht. Ich bot ihm meine Dienste an. Darauf sagte er: »Können Sie das?« Jawohl. Ich verstehe zwar nichts vom praktischen Leben, aber Eisenbahnbettenmachen kann ich 99 vorzüglich, weil ich oft in einer Woche drei Nächte in diesem Käfig zubringe. Im Handumdrehen hatte ich den Sitz beiderseits herausgezogen und die Wandung zusammengeklappt. Wir legten uns aufs Ohr und nach kurzer Zeit hieß es »Gute Nacht!«

Am Morgen in Jüterbog rieben wir uns die Augen. Der Kondukteur hatte hereingerufen: »Noch eine halbe Stunde und wir sind in Berlin.« Mein Reisegefährte sagte mir ein liebenswürdiges »Guten Morgen!« und versicherte mir ganz unvermittelt, er hätte sich gestern mit mir ganz vorzüglich unterhalten. Ob wir uns in Berlin nicht treffen könnten; er bleibe einige Tage dort und wohne im »Kaiserhof«. Ich erwiderte ihm: »Auch mich würde das ungemein freuen«, und nunmehr kam der kritische Moment. »Darf ich Sie vielleicht zum Mittag- oder Abendtisch einladen; der Zeitpunkt hängt allerdings noch von meinen Besprechungen ab, die ich in Berlin habe.« Ich sagte ihm: »Ich bin im Reichstag zu erreichen.« Der Herr verfärbte sich. »Sie sind Reichstagsabgeordneter?« »Jawohl.« »Sie sind bayerischer Reichstagsabgeordneter?« »Jawohl.« »Sie kennen wohl den Dr. Heim?« »Jawohl, sehr gut.« 100 »Sie gehören wohl zu seiner Partei?« »Jawohl.« »Sie sind doch nicht selbst – – – der Dr. Heim?« – Tableau! – – – »Jawohl.«

Mein wohlbeleibter Nachbar hatte unterdessen einen feuerroten Kopf bekommen, drückte mir mit Wärme die Hände und sagte: »Endlich habe ich es doch gemerkt; ich habe heute nacht lange darüber nachgedacht. Als Sie das Bett machten und sich zum vierten Male als den mit dem praktischen Leben nicht vertrauten Mann bezeichneten, wurde ich stutzig. Es soll mir aber zur Warnung dienen. Ich werde so schnell über Menschen, die im öffentlichen Leben stehen, kein Urteil auf Grund von Parteiurteilen mehr aussprechen.« Ich sagte ihm, daß das gar nichts mache, daß er mir eine ungemein große Freude bereitet habe. Auch den Artikelschreibern erteile ich Generalpardon, da ich selbst oft sündige. Als Beweis zitierte ich ihm eine Stelle aus einer meiner Reden im Landtag: »Abgeordnete seien wie ein Eckstein, an dem jedes Schwein seinen Hinteren wetze.«

. . . Es kam zur Einladung. Es war kein schlechtes Souper. Vier Fachkollegen meines Reisenachbarn waren zugegen. Sie waren alle schon von dem Erlebnis unterrichtet, und in der 101 anregenden Unterhaltung war alle Augenblicke von dem Mann, »der vom praktischen Leben nichts verstand«, die Rede. Auch als einer der Herren die Schaumweinflasche nicht rasch genug öffnen konnte, nahm sie ihm ein Zweiter ab mit der Bemerkung: »Du verstehst ja nichts vom praktischen Leben.« – Es war ein heiterer Abend . . . Wenn Menschen lachen, verlieren Gegensätze ihre Schärfe, Menschen ihre Kanten . . .!


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