Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine geraume Zeit war verflossen, und mit ihr wiederum der Winter ins Land gezogen.

Das von Höppner begründete Armenhaus hatte seine Pforten geöffnet, in seinen Räumen befanden sich Kranke und Bedürftige, und wöchentlich wenigstens einmal begab sich Frau Höppner, meist mit Lene an der Hand, in das Asyl, um nach dem Rechten zu sehen.

Das Kind kannte alle Insassen und nahm wie ihre Mutter Stellung zu ihnen; sein Herz regte sich in Mitgefühl, wenn sie leidende Menschen sah, und ohne es zu wissen, nahm es die Grundsätze in sich auf, die ihre Pflegemutter den Nebenmenschen gegenüber leiteten.

Hederich hatte seine Carin geheiratet und wohnte auf dem von ihm vorläufig nur gepachteten kleinen Gütchen Elmenried. Die beiden Leute genossen das Behagen des Lebens; die junge Frau, endlich befreit von einem Zwange, der ihrer Natur so sehr widerstand, dem sie sich aber bereits seit jungen Jahren hatte unterwerfen müssen, atmete beseligt auf, und die täglichen Beweise von Liebe und Herzensgüte, die sie von ihrem Manne empfing, gab sie aus innerem Drange zurück, denn sie liebte ihn mit jener warmen Liebe, die dem Gemüt entspringt und auf Achtung beruht.

Die vierundzwanzig Stunden des Tages, die durch Thätigkeit ausgefüllt waren und durch frohen Lebensdrang einen erhöhten Wert empfingen, flogen für Carin dahin; Haus, Hof, Küche und Keller waren ihrer Aufmerksamkeit gewidmet, aber sie gab auch, in allen ihren Vorbildern Frau Höppner und Theonie folgend, ihrem Leben noch einen volleren Inhalt, indem sie sich ihrer Mitmenschen sorgend annahm und ihren Geist durch Lektüre und Musik weiter zu bilden suchte. Zwischen den beiden Familien Höppner und Hederich fand ein sehr lebhafter und inniger Verkehr statt; der Pastor und Carins Mann fanden sich als Gemütsmenschen zusammen, und die beiden Frauen begegneten sich durch die Gemeinsamkeit ihrer Lebensanschauung. Sie waren dem Guten ehrliche Freunde und dem Schlechten energische Gegner.

Aber während sich bei ihnen durch günstige materielle Verhältnisse, durch weise Beschränkung im Lebensgenuß und durch Sparsamkeit das Glück eine feste Stätte bereitete, sah es bei Tressens allmählich immer trauriger aus.

Die Hülfe Hederichs, die ihnen durch Brix und später auch durch Carin angeboten worden war, hatten sie ebenso abgewiesen, wie der Pastorin selbstlose Dienstwilligkeit. So viel Güte und Freundschaft rühre sie, aber sie würden sich auch so einzurichten wissen, hatten sie erklärt. Frau von Tressen hatte ihren Schmuck bereits verkauft. Sie wollte, durch das Leben bezwungen, lieber Überflüssiges entbehren, als den Druck von Verpflichtungen auf sich laden. Und in ihren Stolz mischte sich auch die Hoffnung! Der Prozeß war sogleich angestrengt worden, er mußte sich in einem halben Jahre entscheiden.

Aber bei dieser Voraussetzung hatten Tressens außer acht gelassen, mit wem sie zu thun hatten. Einmal beantragte Brecken durch seinen Anwalt Aussetzen des Verfahrens, weil von seiner Seite noch Material herbeizuschaffen sei, dann wieder wußte er die Termine hinauszuschieben, indem er Krankheit vorschützte. Einen Formfehler in dem ersten Klageantrag des Justizrats Brix benutzte er zu einem Protest, und die Folge von alledem war, daß die Sache nach einem halben Jahre, zumal die Gerichtsferien dazwischen gekommen, fast noch auf demselben Fleck stand.

Jetzt eben, kurz vor Weihnachten, hatte er eine Reise nach dem Süden angetreten, und es hieß, daß er nicht vor dem ersten März zurückkehren werde. –

Eng und enger hatten sich Tressens inzwischen an Theonie angeschlossen. Mit wärmster Teilnahme hatte letztere sich ihren Verwandten genähert und gleich bei der ersten Berührung geäußert:

»Wenn ich Ihnen irgend wie nützen kann, verfügen Sie über mich. Es giebt keine Grenzen meiner Bereitwilligkeit und keinen Freundschaftsdienst, den ich Ihnen nicht leisten würde.«

Gegenwärtig aber beschäftigte Frau von Tressen noch etwas anderes als nur die materielle Sorge. Seit dem Abschied von Holzwerder hatte sie ihr Enkelkind nicht wieder gesehen, und da sie nun erfuhr, ihr Schwiegersohn sei auf Monate verreist, gab's nur einen Gedanken für sie: Gretes Kind einmal an ihr Herz zu drücken. Der furchtbare Schmerz um die Verstorbene suchte nach einer Ablösung, nach einem Ausgleich. Aber die Frau war auch von Sorge erfüllt, daß dem Knaben, der fremden Händen anvertraut war, etwas zustoßen könne. Dem Vater schien ein solcher Gedanke nicht gekommen zu sein, oder völlige Gleichgültigkeit hatte seine Handlungen bestimmt.

Nicht einmal bei Gelegenheit seiner Reise hatte er seine persönlichen Empfindungen zurückgedrängt und sich der Großmutter als Pflegerin des Kindes während seiner Abwesenheit erinnert. Das kleine Wesen stand doch dem Streit und Unfrieden fern; es war mehr als grausam, das Kind um dessen willen schädlichen Zufälligkeiten auszusetzen. Aber er wollte es nicht; er hatte sogar den strengen Befehl hinterlassen, Frau von Tressen den Eintritt ins Schloß zu verweigern, ihr unter keinen Umständen eine Berührung mit ihrem Enkelkinde zu gestatten.

Die Wärterin war ein braves, mitleidiges Geschöpf, aber die Haushälterin, die jetzt allein in Holzwerder waltete, und ein Knecht, durch den deren bisherige weibliche Stütze abgelöst war, und der zum Schutze der Frauen und des Kindes im Herrenhause schlafen mußte, befanden sich, da Brecken ihnen Belohnungen zugesagt hatte, wenn sich während seiner Abwesenheit alles nach seinen Voraussetzungen vollziehen werde, zu ihm in völliger Abhängigkeit.

Dennoch beschloß Frau von Tressen – es war acht Tage vor Weihnachten – einen Versuch zu machen. Sie konnte sich dabei der Hülfe der früheren Haushälterin Hederichs bedienen, die in einer kleinen, von ihr erworbenen Kate nahe bei Holzwerder wohnte und sich durch allerlei Hülfsleistungen auf dem Gute und durch Handarbeit ihre dürftige Lage als Kätnerin verbesserte.

Durch Hederich, der den Vermittler gemacht hatte, war verabredet worden, daß die alte Hanne Nachricht geben solle, sobald sich die Haushälterin vom Schloß entfernen würde. Es war wahrscheinlich, daß sie kurz vor dem Fest nach Elsterhausen fuhr. Dann wollte Hanne das Kindermädchen veranlassen, sie mit dem kleinen Tankred in ihrer Kate zu besuchen und so Frau von Tressen Gelegenheit zu geben, ihr Enkelkind zu sehen.

Es vollzog sich auch alles nach Abrede. Frau von Tressen erhielt früh morgens einen Brief von der Alten, in dem diese meldete, daß ›die vom Schloß‹ am Nachmittag nicht anwesend sei, und daß das Mädchen zugesagt habe, den ›kleinen Herrn‹ zu ihr zu bringen.

Während Frau von Tressen, in ihren Mantel gehüllt, dahinfuhr, kamen ihr beim Anblick der Landschaft, bei dem Wiedersehen der vielen, ihr seit der Jugend vertrauten Einzelheiten so wehmütige Gedanken, auch die Erinnerung an Grete ward so lebendig in ihr wach, daß ihre Augen sich wiederholt mit Thränen füllten.

Wo war das Glück von Holzwerder geblieben? Es gab keine Grete mehr; sie, die Mutter, mußte sich versteckt ihrem früheren Eigentum nähern und, statt im eigenen Fuhrwerk dahin zu fahren, ein fremdes Gefährt benutzen, das zu bezahlen ihr in ihrer gegenwärtigen Lage schon ein Opfer auferlegte. Mit Beginn des Jahres stand sie mit ihrem Manne thatsächlich dem Nichts gegenüber, und so sehr sich ihr Inneres dagegen auflehnte, sie mußte jetzt Hülfe bei Freunden suchen. Es lag auch in ihrer Absicht, nachdem sie den kleinen Tankred wiedergesehen, Theonie auf Falsterhof aufzusuchen und sich ihr rückhaltlos anzuvertrauen.

Eine Summe für den Unterhalt des nächsten halben Jahres wollte sie von ihr erbitten. Dann endlich würde doch der Prozeß, und, wie sie annahm, zu ihren Gunsten entschieden sein.

Als sie an Falsterhof vorüberkam, forschte sie gespannt hinüber. In der breiten Kastanienallee lag so tiefer Schnee, als sei seit Monaten kein Wagen dort gefahren, und kein Fußgänger gegangen. Einsam und abgestorben stieg das Herrenhaus aus der weißen Schneefläche über den kahlen Bäumen empor. Nirgends ein menschliches Wesen, und selbst aus den dicht umschneiten Schornsteinen drängte sich nicht einmal ein Leben verratendes Rauchwölkchen. Es war richtig – die Betrachtung kam der Frau – daß nicht Geld und Besitz das Glück bedingte. Theonie war die reichste Frau der Umgegend, jede Laune vermochte sie zu befriedigen; sie konnte Feste geben, die Fürsten beschämten, und ihr Haus zu einem Sammelplatz auserlesener Geister machen.

Aber alles das hatte keinen Reiz für sie. Ihr Herz trug zu viel blutende Wunden. Wenn sie den Mann ihrer Wahl hätte auferwecken können aus seinem Grabe, sie würde alles dafür hingegeben haben.

Und wie häufig Vergleiche Lichter in sich schließen, aus denen sich eine leuchtende Hoffnungssonne entwickelt, so war's auch in diesem Falle. Plötzlich kam's über die Frau mit Sicherheit, daß sie doch noch einmal wieder auf Holzwerder herrschen, daß sie neben ihrem Enkel stehen und sich nochmals das Glück des Lebens zurückerobern werde.

Aber freilich, vorläufig fuhr sie im verdeckten Wagen, bekannten Gesichtern vorsichtig ausweichend, wie ein Dieb ihrer einstigen Besitzung zu und mußte schon froh sein, wenn sie von ihrem Enkelkinde einen kurzen Blick erhaschen, es einmal zärtlich in ihre Arme schließen durfte.

Als Frau von Tressen in die Nähe der Wohnung der alten Hanne gelangt war, ließ sie den Wagen seitab vom Wege halten und begab sich zu Fuß in die Kate. Es war ihr sehr auffallend, daß ihr auf ihr Klopfen nicht gleich aufgethan wurde, und ihre Unruhe verstärkte sich, als sie beim Betreten des Wohngemaches niemanden anwesend fand.

Während sie noch unschlüssig dastand, kam die alte Hanne, eine kleine korpulente Person mit watschelnden Bewegungen, atemlos angelaufen. Schon aus der Ferne winkte sie mit Verzeihung erbittenden Gesten, und als sie, näher gekommen, Worte fand, erklärte sie, daß der schon seit einiger Zeit kränkelnde Kleine in der Nacht sehr unwohl geworden sei, daß die Magd nicht wage, ihn in der Kälte nach der Kate zu bringen, und nichts anderes übrig bleibe, als daß sich die gnädige Frau ins Schloß bemühe. Freilich sei das – sie müsse selbst ihr Bedenken äußern – sehr gefährlich. Man werde die gnädige Frau sehen, ihre Anwesenheit werde sicher Herrn von Brecken hinterbracht werden, und allen beteiligten Böses daraus erwachsen. Der Herr kenne ja keine Rücksicht, sobald man sich ihm nicht bedingungslos füge. Aber trotzdem solle die gnädige Frau selbst entscheiden.

Frau von Tressen geriet in eine gewaltige Erregung; neben der Enttäuschung drang die Sorge um den Kleinen auf sie ein. Sie fragte, was ihm fehle, und als Hanne keine Antwort zu geben imstande war oder absichtlich auswich, stiegen noch ihre Angst und Besorgnis.

Aber jählings entwickelte sich in ihr ein verzweifelter Entschluß. Sie wollte das Kind, wenn sein Zustand die Fahrt erlaubte, mit sich nehmen, es mochte daraus entstehen, was wollte!

So gab sie sich denn äußerlich ein ruhiges Ansehen und befahl Hanne, daß sie, um jeglichem Gerede auszuweichen, ihr nicht folgen solle; sie wolle sich vielmehr allein aufs Schloß begeben, um ihr Enkelkind zu sehen.

»Sie haben der Magd doch nicht gesagt, daß ich kommen würde? Sie weiß nichts von meinem Hiersein?« schloß sie fragend; und nachdem Hanne dies verneint hatte, nahm sie Abschied und richtete ihre Schritte über den Hof nach dem Herrenhause.

Tief herabstimmend waren die Eindrücke, die sie dabei empfing. Was Brix ihr gemeldet hatte, blieb noch weit hinter der Beschreibung zurück. Eine völlige Verwahrlosung trat ihr entgegen, wohin sie das Auge wandte, und insbesondere bei dem Anblick des vernachlässigten Herrenhauses traten Frau von Tressen unwillkürlich die Thränen in die Augen.

Als sie den Flur beschritt, zeigte sich niemand; Kälte, Öde und Kargheit wehten sie an, das Haus war wie ausgestorben; auch fand sie die Thür zur Linken geschlossen. Erst als sie dann zur Rechten pochte, erschien die Kindesmagd mit dem kranken, mageren, abgezehrten Knaben auf dem Arm und machte sehr erstaunte Augen, plötzlich eine elegant gekleidete Dame vor sich zu sehen.

Frau von Tressen aber sah weder ihre fragenden Mienen, noch hörte sie auf ihre Worte; sie flog auf den Kleinen zu, blickte ihn voll zehrenden Mitleids an, streichelte und herzte ihn, von tiefer Rührung ergriffen, immer von neuem und nahm ihn zulegt aus den Händen des Mädchens und drückte ihn weinend an die Brust.

»Mein Kind – mein süßes, liebes Kind –« schluchzte die Frau.

Ihr war bei dem Anblick, als sei Grete noch einmal geboren, als habe sie, wie einst, ihr eigenes Kind in den Armen. Und lassen konnte sie es nicht wieder. Es war undenkbar!

Sie sprach auf die Magd ein, sie erklärte ihr, wer sie sei, welche Anrechte sie an den Kleinen habe, welche Qual sie erduldet, und welche Verantwortung auf ihr laste, da sie nun ihres Kindes Kind so blaß, mager und krank vor sich sehe.

Sie solle mit ihr gehen, in ihren Dienst treten; keine Nachteile, nur Vorteile folgten ihr daraus erwachsen, und jetzt gleich wolle sie sie belohnen. Ihr Schwiegersohn werde unter solchen Umständen ihr Verhalten gutheißen!

Für die Wirtschafterin werde sie einen Brief zurücklassen und ihr darin alles erklären. Sie werde sagen, daß sie sie gezwungen habe, ihr zu folgen.

Zu Frau von Tressens freudiger Überraschung machte die Magd keine erheblichen Einwendungen. Entweder fühlte sie Mitleid mit der Frau und dem Kinde, oder sie wünschte selbst, Holzwerder zu verlassen. Die Langeweile drückte sie, und da ›die Gnädige‹ die Verantwortung übernehmen wollte, so sah sie keinen Grund, der Großmutter Weisung einen Widerstand entgegenzusetzen.

In kaum einer halben Stunde hatte sie auch bereits alle ihre Habseligkeiten und alles für das Kind Notwendige zusammengepackt und lief dann nach Frau von Tressens Anweisung fort, um den Wagen zu holen. Er sollte hinten am Hause halten. Dort wollten sie einsteigen und auf einem Seitenwege des Parks die Landstraße gewinnen.

Sobald das Mädchen sich entfernt hatte, schloß Frau von Tressen Tankreds Arbeitszimmer auf, fand hier Papier und einen Rest Tinte und setzte einige Worte an die Haushälterin auf. Sie erklärte ihr Vorgehen durch den körperlichen Zustand des Kleinen.

Als sie eben den Brief vollendet hatte, hörte sie draußen Schritte. Ihr Herz pochte; wahrscheinlich war's der im Hause wohnende Knecht; ihn hatte sie ganz vergessen.

Aber nur kurze Zeit kämpfte sie mit Unentschlossenheit, dann erhob sie sich, öffnete die Thür und sah hinaus.

Ein wie ein Jägerbursche gekleideter Mensch mit einem sehr wenig sympathischen Gesicht stand vor ihr; eben kam er aus dem Kinderzimmer, wo er offenbar die Magd gesucht hatte.

Nun galt's! Gewalt, Widerstand konnten zu keinem Resultat verhelfen, nur List vermochte etwas.

»Ah! Da ist jemand!« begann Frau von Tressen, des Knechtes Frage zuvorkommend. »Wollen Sie, guter Freund, ein paar Thaler verdienen? Ich suchte Herrn von Brecken, ich wollte ihm einen Besuch machen. Da ich ihn nicht finde, möchte ich ein Billet nach Falsterhof gebracht wissen. Einen Augenblick –«

Und während der Angeredete noch in Überraschung dastand und durch die Sicherheit des Auftretens der Fremden eingeschüchtert verharrte, steckte sie einen leeren Briefbogen in ein Kouvert, überschrieb es an Theonie und überreichte dem Manne das Schreiben zugleich mit zwei Thalern.

»Sie müssen aber sofort hinübereilen! Nehmen Sie den Weg über den Hof. Ich habe die Magd fortgesandt, da mein Wagen, den ich erwartete, nicht kam. Sorgen Sie sich nicht um mich. Er muß jeden Augenblick eintreffen, und inzwischen sehe ich nach dem Kleinen. Der Brief ist nur abzugeben, ohne Antwort.«

»Zu Befehl! Zu Befehl, gnädige Frau! Soll alles bestens besorgt werden!« bestätigte der Mann ebenso arglos wie unterthänig, dienerte und machte sich rasch davon.

Mit einem tiefen Atemzug ließ sich Frau von Tressen in einen Sessel sinken. Nach der ungeheuren Erregung kam die Abspannung über sie; aber sie raffte sich wieder auf und flog zu dem weinenden, offenbar eben von Schmerzen gepeinigten Kinde, nahm es voll Zärtlichkeit an sich und suchte es zu beruhigen.

Und dann folgten noch zwanzig Minuten schrecklicher Angst und Unruhe, Minuten, die der Frau wie Stunden vorkamen. Immer von neuem schaute sie aus dem Balkongemach auf den Park, ob der Wagen noch nicht erscheine, und als er endlich an der Ecke sichtbar ward, rang sich ein Erlösungsschrei aus ihrer Brust.

Aber seltsam! Während ihre Gedanken sich so mit aller Anspannung auf das Gegenwärtige richteten, wurden andere Vorstellungen plötzlich in ihr lebendig, und das Widersinnige der Situation und der Gegensatz zwischen einst und jetzt drangen überwältigend auf sie ein.

Wie wäre es, wenn sie sich in den Besitz des Gutes, nicht nur in den Besitz des Kindes setzte; wenn sie Brecken bei seiner Wiederkehr mit Gewalt von Holzwerder entfernte; wenn sie seine Klage wegen Besitzstörung trotzig abwartete und dem Richter erklärte, sie habe gehandelt als natürlicher Anwalt ihres Enkelkindes? Da der Vater seine heiligsten Pflichten gegen das Kind außer acht gelassen, da er zudem ein Fälscher sei, der sich als solcher in den Besitz des Gutes gesetzt habe, so beantrage sie die Aberkennung aller Rechte, die er sich angemaßt habe?!

Ja, das konnte gehen! Wie ein flammend aufhellender Blitz zog's durch das Gehirn der Frau. – Wen hatte sie zu gewinnen, um ihr Vorhaben ins Werk zu setzen? Die Menschen im Hause und einen als Inspektor fungierenden Großknecht, der schon in früheren Zeiten auf Holzwerder beschäftigt gewesen. Und das konnte nicht fehlen! Wenigstens wollte sie den Versuch machen! Hederich sollte ihr helfen!

Unter solchen Gedanken bestieg sie, nachdem mit Hülfe des Kutschers alles aufgepackt war, den Wagen und fuhr, den Hauptweg zunächst vermeidend, mit dem Kinde in raschem Trabe Klementinenhof zu.



 << zurück weiter >>