Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

23.

Zahlreich und erlesen war die Versammlung der Leidtragenden, die den kapellenartigen Raum des Krematoriums bis auf den letzten Platz füllte. Auch befanden sich etliche darunter, die der liebenswürdigen und immer hilfsbereiten Toten eilte Träne aufrichtigen Schmerzes nachweinten. Wenn die Verstorbene aus ihrem Sarg, dessen schwerer Katafalk unter Blumenkränzen und Palmen völlig verschwand, hätte herabblicken können, sie hätte wehmütig gelächelt und sich gefreut, daß so manche Gabe, die sie halb achtlos gespendet hatte, auf ein dankbares Gemüt gefallen war.

Sehr bemerkenswert war die große Zahl der medizinischen Größen. »Wenn Ihnen was passiert, gnädige Frau, so sind allein dreizehn Universitätsprofessoren zur Stelle,« sagte ein Herr zu seiner Nachbarin.

»Daß die Damen es nur aushalten können in ihren dicken Pelzboas!« äußerte ein recht einfach gekleidetes junges Mädchen.

»Dunkler Pelz ist schließlich der einzige Schmuck, der bei solcher Gelegenheit erlaubt ist,« erwiderte eine andere.

»Was denken Sie über das Verbrennen?« fragte ein Herr. »Vom Standpunkt der Hygiene ist es ja unbedingt das einzig Richtige. Überhaupt, ich finde es reinlicher.«

»Aber man hat hinterher doch nichts,« entgegnete die Gefragte, eine beleibte Dame aus der Provinz. »Kein Grab, das man pflegen und an dem man sich mal ausweinen kann.«

»Eine Stunde, meinen Sie?« flüsterte eine Dame mit einem Kneifer auf der energischen Nase einer anderen zu. »Dann würde es gerade noch langen. Um halb vier muß ich nämlich im Kultusministerium sein. Werden Sie auch verkaufen?«

»Ich habe die Sektbude.«

Sanfte Orgeltöne begannen zu klingen. Die sammetweichen, bräunlichen Kerzenflammen zuckten auf in der schwülen Luft. Durch die hohen Fenster quoll das helle Gold der Frühlingssonne. In die Düfte wirklicher Rosen und Syringen mischten sich die künstlichen Wohlgerüche der Damen. Die Orgelklänge rauschten voller, und es war, als wenn dies entschwundene Leben, dies Leben einer an kostbare und weiche Dinge gewöhnten Frau, das da unsichtbar aufgebahrt lag unter einem weißgrünen Hügel von Palmen, Lorbeer, Hyazinthen, Flieder und Rosen, nun auch noch umflutet werden sollte von den klagenden, schmeichelnden, üppigen, warmen Fluten der Töne.

Allgemach aber wurde das sonore, feierliche Klanggepränge, das dem Wogen bräunlich goldenen Sammets glich, zu einem verschwebenden Wehen, erstarb zu immer leiserem Flüstern. Doch ehe noch gänzliche Stille eintrat, erhob sich gleich einem weißgefiederten Vogel auf der letzten verebbenden Welle eine glockenreine, klagende Frauenstimme, der die tiefschmerzliche eines Baritons Antwort gab.

Man flüsterte sich die Namen der Künstler zu.

Eine Dame äußerte leise: »Das ist doch viel feierlicher als so eine langweilige Predigt.«

»Aber auch kostspieliger,« murmelte ihr Nachbar.

»Wie gut das Fräulein Guhnott aussieht!« flüsterte jemand.

»Trauer steht ihr.«

»Aber wie eine Trauernde sieht sie eigentlich nicht aus.«

Es war Margot, als wenn ihr Herz, emporgezogen von den ätherleichten Tönen der Sängerin, mit stürmischen Schlägen ihrer Brust entweichen wollte.

Sie hatte in dieser letzten Zeit den Weg durch alle brennenden Höllen, die eine gequälte Seele nur auftun kann, zurückgelegt und hatte, zu Tod ermattet, im Grab der Hoffnungslosigkeit geschmachtet, bis sich heute, vor wenigen Stunden, der Himmel über ihr auftat mit Strömen von Licht und klingendem Jubel.

Seit dem Tage, an dem Heinz ihr Geschenk zurückgewiesen, hatte sie ihn nicht wiedergesehen. Und was zuerst nur ein wirr tobender Schmerz der Enttäuschung gewesen war, wuchs sich aus zur schmachvollen Gewißheit, daß ihr ganzes Tun vergeblich geblieben war. Nicht um eine Handbreit war sie ihm näher gekommen.

Aber nach dem Gesetz, wonach eines Menschen Sehnsucht wächst in dem Maß der vergeblichen Opfer, die er ihr bringt, waren die Bande, die sie an ihn fesselten, seitdem nur noch fester angezogen. Ihre Phantasie hatte für nichts Raum als für Vorstellungen, die sich mit seiner Zukunft beschäftigten, seiner Zukunft voller Erfolge und Liebesglück, an der sie keinen Anteil hatte.

In diesen Tagen erfuhr sie durch ihren Bruder von ihres Stiefvaters Beziehungen zu Irmgard. Viktor hatte die beiden im Auto vorüberfahren sehen, war ihnen gefolgt und hatte sie im Park beobachtet.

Margot hatte auf diese Nachricht verschwiegen und heimlich weiterforschen wollen, bis sie völlige Gewißheit besaß. Aber ihre Phantasie, in der die Wahngebilde unerfüllter Wünsche noch immer ihr spukhaftes Wesen trieben, wandte sich jetzt auf ihren Stiefvater und Irmgard, indem sie ihr vorgaukelte, daß alles, wonach sie lechzte, was sie entbehrte, die beiden im Überfluß genössen. Und zugleich erhob sich in ihrer enttäuschten und gedemütigten Seele ein ruheloser Zerstörungsdrang. So marterte sie ihre Mutter durch die Mitteilung nicht dessen, was sie wußte, sondern dessen, was in ihrer Einbildung existierte.

Aber ihre moralische Entrüstung bekam einen bitteren Nachgeschmack, während sie die erregte Auseinandersetzung ihrer Eltern belauschte. Die Worte ihres Stiefvaters, aus denen die durch das Gefühl des Rechts gebändigte Entrüstung eines Ehrenmannes sprach, hätten sie von seiner Unschuld überzeugen müssen, wenn diese Überzeugung nicht ihren jahrelang angehäuften Haß untergraben hätte. Und sie bedurfte dieser Täuschung, um nicht den Selbstvorwürfen zu erliegen. So wurde selbst der tragische Tod ihrer Mutter, die starb, als wenn sie keine Kinder hätte, sowie der Verlust ihrer Erbschaft ihr zu einem Schein von Rechtfertigung und zu einem Bollwerk, das doch ihr eigener selbstquälerischer Verstand wieder durchlöcherte und zerstückelte.

Unser Gewissen bedarf des Unglücks als wirksamen dunklen Hintergrundes, um seine ganze Glutkraft aufleuchten zu lassen. Wäre Margot in ihrer Liebe glücklicher gewesen, das Bewußtsein, ihrem Vater Jahre hindurch unrecht getan zu haben, hätte als blasser, scheinloser Vorwurf in ihr fortgewirkt, über den sie sich zur Not hätte wegtäuschen können.

So aber brannte ihr Gewissen – keine reine, stetige Flamme zwar, sondern oft von widerstrebenden Kräften niedergedrückt – hell wie ein Feuer in der Nacht, warf seinen Schein auf ihr ganzes vergangenes Leben und ließ sie wünschen, es noch einmal leben zu können: mehr ihrer Einsicht, weniger den dunklen Triebkräften ihrer Selbstsucht hingegeben.

Ein hoffnungsloser Wunsch und eine Reue ohne Erlösung, ein quälender Streit, der sich in Widersprüchen zu Tode hetzte ... bis auf einmal die Dissonanzen nicht sich auflösten, wohl aber verstummten vor den Klängen einer neuen, Seligkeit verkündenden Musik.

Was ihre tiefste Sehnsucht gewesen und, weil es ewig unerfüllbar, ihre bitterste Qual, geschah: Der Geliebte ließ seine Fremdheit fallen und sprach zu ihr wie ein Freund, wie ein Bruder, wie ein Liebender. Er richtete die, die sich haßte und verachtete, auf und gab ihrem verfehlten Leben neuen Inhalt und einen hohen Sinn, indem er ihr schrieb: »Deiner Güte verdanke ich, was ich bin, nun soll dein Leben fortan meine Sorge sein.«

War es ein Wunder, daß sie jetzt trotz ihrer schwarzen Kleidung, ihrer Blässe und dem tiefen Ernst ihres Gesichts eher einer Verzückten als einer Trauernden glich, daß ihre Brust sich in ungleichen Atemzügen hob und senkte, doch nicht geschwellt von Schmerz, sondern in Wonne erschauernd, wenn ihre Haut die harten, spitzen Ecken des Briefs berührte, den sie an dieser Stelle wie ein Amulett bewahrte?

Stille trat ein, eine Stille, die zuerst von feierlichen Erwartungsschauern erfüllt war, dann aber sich löste in ein lindes, leichtes Frühlingswehen. Es war, als könnte man die Sonnenstrahlen zittern hören, als knisterten die Lichter, und ganz deutlich klangen von draußen zarte, helle Vogelstimmen.

In dies Wispern, Zirpen, Flüstern und Singen der frühlingsfrohen Natur mischten sich ganz zart die überirdischen Stimmen der Orgel, während der Sarg unter seiner Blumenlast sich zu bewegen begann und langsam versank. Einen Augenblick lang mochte sich die Phantasie der Trauerversammlung erschrecken an der Vorstellung von Glut und gefräßigen Flammen, aber schon wurden die Gemüter von neuem besänftigt durch einen Chor lieblicher Kinderstimmen und die tröstlichen Klänge eines Chorals.

Dann vernahm man Füßescharren, Rascheln seidener Stoffe, Geflüster, Schluchzen, diskretes Schnauben. Schon öffneten die Diener die Ausgangstür.

Da erhob sich Margot zugleich mit ihrem Bruder und trat an den leeren Katafalk, dem Mittelgang gegenüber, so daß sie der dichten Menge ihr Gesicht zuwandte.

Ihre weit offenen Augen hatten etwas Geistesabwesendes, die Konzentration einer Erwartung lag darin, die ihr ganzes Wesen bis zum Erlöschen des Bewußtseins erfüllte.

Guhnott stand unbeweglich, mit gesenkten Augen neben dem Katafalk.

Einen Augenblick lang wußte man nicht recht, was nun zu geschehen hatte. Einer wartete auf den anderen, daß er als erster kondolieren sollte.

Da bahnten sich zwei Damen den Weg. Eine jüngere, hochaufgeschossene und eine ältere, offenbar die Mutter. Sie traten auf Margot und Viktor zu, drückten ihnen die Hand und sprachen flüsternde Worte. Nun kamen nacheinander die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft. Man staute sich am Ausgang, einzelne kehrten um, das Versäumte nachzuholen.

Auf einmal aber geschah etwas so Unerwartetes und Erstaunliches, daß darüber für einen Augenblick die ganze Trauerfeierlichkeit in Vergessenheit geriet.

Ein blonder, schlanker, junger Mann näherte sich den Geschwistern, blieb jetzt vor Margot stehen, ergriff ihre Hand und verbeugte sich leicht, um seine gedämpfte Stimme vernehmbar zu machen. Margot wankte. Mit jenem schmerzvollen Lächeln auf ihren wächsernen Zügen, wie eine herannahende Ohnmacht es hervorruft, sank ihr Kopf zurück, richtete sich wieder auf ... und zugleich schlangen sich ihre Arme um den Hals des jungen Menschen.

Was war geschehen? Hatte man recht gesehen? Hatte sie sich einfach in der Angst der Ohnmacht an ihn geklammert? Oder hatte sie ihn wirklich geküßt? Gipfelte diese Trauerfeier in einer unerwarteten Verlobung?

Als die noch Anwesenden, die eine ganze Weile gestutzt und diesen Vorgang teils mit Befremden, teils mit diskretem Lächeln auf sich hatten wirken lassen, jetzt ihre Gesichter wieder in die steifen Bügelfalten einer offiziellen Anteilnahme legten und sich näherten, stand Margot an Heinz gelehnt, hielt seinen Arm fest unter ihrem und seine Rechte in ihrer Linken, während sie wie im Traum die Händedrücke der Kondolierenden erwiderte.


 << zurück weiter >>