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Nach Tisch begaben sich heute alle mit Ausnahme der beiden alten Damen auf die Schlittenbahn.
Viktor drängte sich an Irmgard heran.
»Ich bin tief unglücklich über mein Versehen, Fräulein Irmgard. Die Frage ist mir wahrhaftig so herausgefahren, ich weiß nicht wie? Können Sie mir verzeihen?«
»Aber selbstverständlich! Was ist da zu verzeihen?« erwiderte Irmgard, beschleunigte aber ihre Schritte, so daß sie an Heinzens Seite kam.
An der großen Kurve waren Tribünen und Bänke aufgeschlagen. Doch viel zu wenig für die zahlreiche Menge der Zuschauer. Weit die Bahn hinaus drängten die Menschen, in drei, vier Reihen, gegen die Brüstung von Tannenreisig.
Guhnott, der bemerkte, daß einige Beherzte die Bahn überquerten und auf dem gegenüberliegenden Waldrand Posto faßten, winkte den anderen zu folgen.
Heinz sah sich nach Margot um, in der Absicht, ihr zu helfen, überlegte aber, daß dann Viktor sich wahrscheinlich Irmgards bemächtigte. So beschloß er, Margot nachträglich zu holen.
Kaum hatten er und Irmgard die Bahn betreten, als ein dicker Gendarm aus Leibeskräften: »Halt! Zurück da!« schrie. Unter dem Gelächter der Zuschauer eilten die beiden weiter.
»Eine Unverschämtheit so davonzulaufen!« knurrte Viktor.
»Wir können ja hinterher.«
»Habe keine Lust, mich überfahren zu lassen. Sieh nur, wie der Kerl sie wieder anfaßt!«
»Laß sie doch! Wer weiß, wie lange ihr Vergnügen dauert!«
»Wieso?«
»Nur so!«
»Weißt du was?«
»Dann würde ich's dir zuallerletzt sagen. Du bist ein Trottel, Viktor. Nimm dich doch etwas zusammen! Was nützt es dir schließlich, wenn du Heinz los wirst und Irmgard dich nicht ausstehen kann. Du tust alles, um es mit ihr zu verderben.«
»Was soll ich denn machen?«
»Liebenswürdig, aber zurückhaltend sein. Vor allem deine blöde Eifersucht nicht so merken lassen.«
»Sollen wir jetzt hinüber?«
»Jetzt können wir schon hierbleiben.«
Heinz hielt Irmgard fest an der Hand und zog sie den steilen, an manchen Stellen spiegelglatten Berghang hinan. Kräftig aufstampfend schuf er mit jedem Schritt eine Stufe, auf der ihre kleinen Füße einen sicheren Standort hatten.
»Endlich, endlich habe ich dich mal!« flüsterte er entzückt und umpreßte ihre Finger in dem wollenen Fäustling.
»Ja, wirklich, es ist auch Zeit.«
»Nicht zum Aushalten ist es, daß mein nie allein sein kann! Dahinten ist der schönste Wald. Wie würde ich dich da küssen! Und man kann nicht hinein!«
»Man kann nicht.«
»Scheußlich! Scheußlich! Ich zerspringe noch vor Sehnsucht. Aber heut' abend.«
»Ich hab' solche Angst.«
Als aber seine zuckende Hand ihr seine Enttäuschung verriet, fügte sie rasch hinzu:
»Doch, doch! Ich komme. Mag auch geschehen, was will.«
»Wer sollte was dagegen haben? Höchstens deine Mutter.«
»Höchstens meine Mutter,« wiederholte sie bitter. »O, Gott, Heinz, wenn du wüßtest, was dies ›höchstens‹ bedeutet!«
»Wäre sie wirklich so außer sich?«
»Ich glaube,« erwiderte Irmgard in schwerem Ton, »es wäre ihr Tod. Ihr ganzes Denken geht ja daraus, daß ich eine reiche Partie mache. Wenn wir allein sind, wird von nichts anderem gesprochen. Ihr steter Satz ist: ›Wenn ich nur noch erlebe, daß ich dich gut versorgt weiß.‹ Sie hat sehr zu leiden. Aber ich glaube, dies eine hält sie am Leben fest.«
»Dann sollte sie lieber sterben!«
»Heinz!«
Sie hatte sich so heftig losgerissen, daß sie hinterrücks den Abhang hinuntergestürzt wäre, wenn er nicht noch im letzten Augenblick ihren Arm ergriffen hätte.
»Irmgard, verzeih! Ich meinte es ja nicht so!«
Ihr waren die Tränen in die Augen gestiegen.
»Wie konntest du das sagen! Meine arme Mutter! Sie hat doch nur mich auf der Welt. Und ich mache mir solche Vorwürfe, daß ich alles das tue. Daß ich dich liebhabe. Daß ich heimlich mit dir korrespondiere. Daß ich sie betrüge und belüge. Das alles ist so entsetzlich!«
»Irmgard, hast du deine Mutter lieber als mich?«
»Frag' doch nicht! Ich weiß nicht! Ich weiß nicht!«
Sie hatte Professor Guhnott erblickt, und als wenn sie bei diesem Rettung suchte, strebte sie mit fliegendem Atem auf ihn zu und drängte sich an ihn.
»So ist es recht, Kleinchen. Wenn wir beide dich halten, dann kann dir nichts geschehen. Obwohl der Heinz auch eine feste Hand hat. Das habe ich eben gesehen, als du ausglitschtest.«
Noch immer hatte Heinz in Gegenwart dessen, den er heimlich Vater nannte, das wirre Gefühl von der Rätselhaftigkeit des Lebens. Aber die Bitterkeit des in seiner Mutter Beleidigten hatte diese selbst zerstreuen helfen. Er vermochte wieder dieselbe reine freudige Verehrung wie früher gegen Guhnott zu empfinden. Nur daß sich ihr ein still zehrender Ehrgeiz zugesellte.
Es war sein Lieblingstraum, dem Vater auf dessen eigenem Arbeitsgebiet nachzustreben. Und wenn er einmal als ebenbürtiger Meister neben ihm stand, dann wollte er ihm seine Abkunft verraten. Das sollte seine Rache sein.
Guhnotts Neigung zu dem in bescheiden-stolzer Zurückhaltung ihm begegnenden Jüngling hatte sich in dieser Zeit noch vertieft. Es hatte ihn damals aufrichtig gefreut, daß seine Frau sich seinen Plan zu eigen gemacht hatte, und er hatte Heinz den ehrenvollen Vorschlag gemacht, nach bestandenem Examen sein Assistent zu werden. Auch hatte er ihm wie Irmgard hier oben das väterliche Du angeboten und freute sich, die beiden zu beschützen, an deren Zuneigung er einen Ersatz für die Feindseligkeit seiner eigenen Kinder fand.
Die beiden hatten eben zur rechten Zeit ihren Standort erreicht. Schon wurden hier und dort Rufe laut. Die Unruhe griff um sich. Das Geschrei wurde lauter. Gespannt blickte alles die lang geschwungene Bahn hinauf.
Da tauchte an der obersten sichtbaren Stelle ein schwarzes Pünktchen auf, das mit riesiger Geschwindigkeit zum Klumpen wurde, jetzt sah man schon die heftig vor- und rückwärts geworfenen Oberkörper der Fahrer, die Zipfelmütze des Steuermanns stand wagerecht im Wind, jetzt schrillten sie ganz nah vorüber, jetzt bogen sie in die große Kurve ein, senkrecht klebte der Schlitten an der Wand, senkrecht streckten sich die Arme in die Tiefe, aufwirbelnder Schneestaub vergrub alles ... jetzt sausten sie in langer, glatter Fahrt dem Ziel entgegen.
Brausender Jubel löste die allgemeine Spannung.
»Hast du gesehen, Heinz? Prachtvoll sind sie gefahren. Ganz ohne Bremse.«
»... mich lieb, Irmgard?« flüsterte er und legte in seinen Blick alles Flehen seines unruhigen Herzens.
Dunkel, weich aus der Tiefe aufleuchtend, antwortete ihm ihr Auge.
»... dich lieb!« hauchte sie.
In Zeiträumen von fünf zu fünf Minuten zischten gleich wagerechten Raketen die anderen Schlitten vorbei. Da als eben der letzte in den Endlauf eingebogen war, explodierte unten ein breiter, zum Himmel aufgellender Entsetzensschrei aus der Menge, die das Ziel umdrängte.
Alles stürzte im Wirrsal hinunter. Endlich erfuhren die drei, was geschehen war.
Kurz vor dem Ziel war eine Dame über die Bahn gelaufen, dem in voller Hast heransausenden Schlitten entgegen. Er hatte ausbiegen wollen und war den Abhang hinuntergestürzt, die Fahrer unter sich begrabend.
»Bleib' du bei Irmgard! Ich werde nachsehn,« sagte Guhnott.
»Kann ich dir nicht helfen?« bat Heinz.
»Ja, nimm ihn mit, Onkel!« drängte Irmgard. »Ich finde mich allein nach Haus.«
Aber sie wartete bei der alten Fischerhütte, wo man die Verwundeten untergebracht hatte, auf die beiden.
Es dunkelte schon, als sie herauskamen. Irmgard eilte ihnen entgegen.
»Zwei haben tüchtig was abbekommen,« klärte Guhnott die ängstlich Fragende auf. »Aber keine lebensgefährliche Verletzungen. Nur der eine macht mir Sorge. Schwere Gehirnerschütterung. Übrigens hat Heinz mir wacker geholfen.«
Schweigend kehrten die drei durch den knirschenden Schnee ins Kurhaus zurück.
Die Stimmung der ganzen Hotelgesellschaft stand unter dem Eindruck des Unfalls. Die Unterhaltung wurde in gedämpftem Ton geführt. Die fröhliche Tafelmusik wirkte peinlich.
Nach Tisch erhob sich Guhnott sogleich, um sich nach dem Zustand des Bewußtlosen zu erkundigen. Der in der Fischerhütte zurückgebliebene Arzt glaubte, eine leichte Besserung konstatieren zu können.
Man trennte sich frühzeitig zum Schlafengehen. Heinz tauschte mit Irmgard einen Blick. Eine unerklärliche Angst hing wie mit Raubtierkrallen an seinem Herzen. Er wollte ihr schon zuflüstern: Komm heute abend nicht! Doch Margot stand zu dicht an seiner Seite.
Als letzter stieg er die Treppe hinauf. In aufgeregter Spannung wartete er in seinem Zimmer und wollte sich eben auskleiden, als es klopfte. Er öffnete. Frau Raumer blickte aus entzündeten Augen zu ihm auf. Ihr kränkliches Gesicht leuchtete fahl, fast gespensterhaft aus der seidenen Halskrause ihres schwarzen Kleides.
»Kann ich Sie nachher auf ein paar Worte sprechen?«
»Selbstverständlich, gnädige Frau.«
»Vielleicht unten im kleinen Salon?«
Er folgte ihr.
In der Halle saßen nur noch wenige Hotelgäste Bridgespieler, Sportleute, deren Unterhaltung sich trotz des Sekts nicht beleben wollte, rauchende Zeitungsleser. Im großen Salon hörte ein einsamer Kellner der Musikkapelle zu. Der daran anschließende kleine Salon war gänzlich leer. Heinz starrte im Vorbeigehen düster bang in den Kamin, wo in nachgeahmten Holzscheiten Glühbirnen aufflammten und erloschen, mit der Regelmäßigkeit eines Leuchtturmfeuers. Die Musik spielte die »Rosen aus dem Süden«.
Frau Raumer durchschritt das Zimmer bis in die hinterste Ecke und ließ sich dann auf den von Heinz ihr hingeschobenen Stuhl nieder.
Ohne aufzusehen, richtete sie ihren Blick starr auf die nervös über die Mahagoniplatte wischende Hand. Und auch Heinz mußte diese Hand anstarren, die von weitem schlank und vornehm erschien, deren harte, grobknochige Struktur ihm aber jetzt auffiel.
Im Sitzen wirkte Frau Raumer noch kleiner, so daß Heinz mit seiner geraden Haltung sie weit überragte. Er spürte die heftige Aufregung in ihrem Innern. Es war geradezu, als wenn sie Angst ausstrahlte. Er dachte an ihr Herzleiden. Mitgefühl ergriff ihn. Schon wollte er dem peinlichen Schweigen ein Ende machen, als Frau Raumer den Kopf aufrichtete und mit zittriger Stimme, die sich aber nach den ersten Worten festigte, sagte:
»Ja, Herr Tann, die Auseinandersetzung ist uns wohl beiden gleich peinlich. Ich will deshalb von näheren Einzelheiten absehen, wenn Sie mir das Versprechen geben, morgen früh Oberhof zu verlassen.«
»Was? Ja, um Gottes willen, warum denn?«
Und da keine Antwort erfolgte, wiederholte er:
»Warum, gnädige Frau?«
Da richtete Frau Raumer ihre Augen auf ihn, in deren trüber Flüssigkeit etwas Gelblichgrünes zu zerschmelzen schien, und sagte in langsamem, die Worte abwägendem Flüsterton:
»Sie wollen doch nicht etwa leugnen, was in wenigen Tagen wahrscheinlich schon das ganze Hotel weiß? Daß Sie gestern abend meine Tochter auf den Gang hinausgelockt und dort geküßt haben?«
»Ich denke, dann müßte mein Wunsch Ihnen verständlich sein.«
»Gnädige Frau, warum sind Sie so gegen uns? Ich habe Irmgard lieb und Irmgard mich. Wir haben uns beinahe ein halbes Jahr nicht gesehen. Und hier läßt man uns ja kaum einen Augenblick allein. Da ist sie gestern noch auf einen Augenblick herausgekommen ...«
»Sie haben sie herausgelockt!«
»Ja, gewiß. Ich habe sie dazu veranlaßt. Ach, liebe, gnädige Frau, seien Sie doch nicht so unmotiviert feindselig gegen mich! Sie quälen dadurch ja nur Irmgard. Ich weiß ja, wir müssen lange warten. Aber das müssen doch viele andere auch. Und ich habe, weiß Gott, ehrliche Absichten. Ich ... Daß Irmgard einmal meine Frau wird, das ist für mich überhaupt der Leitstern bei allem, was ich tue.«
»Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Zweiundzwanzig.«
»Zweiundzwanzig! Können Sie irgendwelche Subsistenzmittel vorweisen? Soviel ich weiß, leben Sie doch von dem, was Frau Guhnott Ihnen zukommen läßt.«
»Ja, das tu' ich.«
Seine Stimme wankte, zerbrochen. Er verspürte einen Schmerz, als hätte die knochige Hand sich jäh um sein Herz gekrallt.
»Also, Sie sind nichts, Sie haben nichts. Nichts berechtigt Sie, an eine gesicherte Zukunft zu denken. Trotzdem scheuen Sie sich nicht, ein junges Mädchen zu kompromittieren.«
»Ich habe Irmgard doch nicht kompromittiert!«
»Nicht? Ein Zimmermädchen halt es für nötig, mich zu warnen. Ein Dienstbote hat das ganz richtige Gefühl, daß die Ehre meiner Tochter bedroht ist. Und Sie leugnen, sie kompromittiert zu haben?«
»Gewiß, es war nicht richtig. Es soll auch nicht wieder vorkommen. Ich gebe Ihnen mein Wort, es soll nie wieder vorkommen.«
Er streckte ihr seine Hand hin, worauf ihre Hände blitzschnell wie zwei weiße Mäuse von der Tischplatte verschwanden.
»Mehr kann ich doch nicht tun!« sagte er verwirrt und empört.
Er sprang auf und stotterte, mit hastigen Schritten hin und her laufend:
»Es war eine Kinderei! Eine furchtbare Unvorsichtigkeit. Aber doch kein Verbrechen! Gewiß, ich bin nichts. Ich habe nichts. Aber warten Sie doch mit Ihrem Urteil, gnädige Frau, bis ich meine Examina gemacht habe! Dann kann ich Ihnen meine Zukunft zeigen. Dann ...«
Vergeblich strengte er sein wie von einem Schlag getroffenes Hirn an. Alles, was er über seine zukünftigen Absichten vorbringen konnte, erschien ihm als eitle, gehaltlose Flunkerei. Trotzdem stotterte er dieses und jenes zusammen, bis er auf einmal bemerkte, daß die Musiker fortgegangen waren, daß aber der einsame Kellner immer noch auf seinem Platz stand und seine Worte zu belauschen schien.
Frau Raumer wischte sich mit ihrem zusammengeknüllten Taschentuch die Schweißtröpfchen aus ihrem wächsernen Gesicht.
»Ich glaube, Herr Tann, wenn ich mit einem jungen Mann aus meinen Kreisen zu tun hätte, so würde der gar nicht im Zweifel sein, was ihm seine Ehrenpflicht gebietet. Ich möchte wissen, was Ihre Eltern eigentlich sind?«
»Meine Eltern? Wenn die auch nicht aus Ihren Kreisen stammen, so sind sie doch ebenso achtungswert und anständig wie Sie, gnädige Frau.«
»Das will ich gar nicht bezweifeln. Nur werden Sie selbst wohl zugeben, daß in den verschiedenen Kreisen die Ehrbegriffe recht verschieden sind.«
Wie ein böses Tier zerfleischte diese Frau mit ihren Krallen sein Herz. War es denn wirklich so, daß er an Ehre und Anstand die plumperen Maßstäbe der niedrigen Schicht, aus der er stammte, legte ...? Es quoll mit dunkler Wut in ihm auf, diese Beleidigung zu rächen und der hochmütigen Frau zu erklären, daß bei den einfachen Leuten oft mehr Gewissenhaftigkeit, Zartsinn und Hochherzigkeit herrschte als bei den Vornehmen, die sich nicht scheuten, ein Mädchen zu verführen und es dann sitzen zu lassen.
»Wir wollen darüber nicht streiten. Ich gebe Ihnen ja zu, daß mein Benehmen verkehrt war. Aber ich mache es doch nicht besser dadurch, daß ich abreise. Das kann ich einfach nicht.«
»Sie weigern sich also?«
»Es wäre ja eine Gemeinheit gegen Irmgard. Ich liebe Irmgard. Und ich habe ebenso viel Recht auf sie wie Sie, und dies Recht gebe ich nicht auf.«
»Also Sie drohen mir. Sie denken, weil Sie meine Tochter kompromittiert haben, hätten Sie uns in der Gewalt. Aber ich bin nicht so schutzlos, wie Sie sich einbilden. Der Vormund meiner Tochter ist Offizier. Zu dem werde ich noch morgen hinreisen.«
»Aber nicht mit Irmgard!«
Er wußte, wie diese ihren Onkel, der noch starrsinniger als ihre Mutter war, fürchtete.
»Glauben Sie, meine Tochter bliebe hier? Ich habe schon mit ihr gesprochen, ich habe ihr die Wahl gelassen zwischen mir und Ihnen. Und sie hat sich bereit erklärt, mir zu folgen.«
»Das ist nicht wahr!«
»Sie wollen es von ihr selbst hören?«
»Jawohl.«
»Gut. Ich hatte zwar gehofft, Sie würden ihr das ersparen. Diesen letzten Rest von Zartgefühl hatte ich Ihnen zugetraut. Aber schließlich ... für Irmgard ist das die gerechte Strafe. Dann wird ihr wenigstens klar, auf wen ihre Liebe gefallen ist. Kommen Sie!«
Frau Raumer erhob sich. Heinz aber blieb sitzen. Sein eben noch wild tobendes Herz machte leere, lautlose Schläge wie der Pendel einer Uhr, die im Begriff ist, stille zu stehen. Irgendwo regte sich in seinem Hirn noch ein Zweifel. Aber zugleich erinnerte er sich ihres Gesprächs vor wenigen Stunden. Da hatte Irmgard ihm auf seine Frage, wen sie mehr liebe, die Mutter oder ihn, die Antwort verweigert. Nun stand die Siegerin vor ihm, ihn anstarrend mit triumphierendem Haß. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen und schloß die Augen.
Aschfahle Blässe bedeckte sein Gesicht. Der unerträgliche Schmerz, der sonst in Ohnmacht übergeht, wurde ihm zum Traum. In tiefem Entrücktsein durchlebte er noch einmal alle Wunder seiner Liebe. Blickte in Irmgards sammetdunkle Augen. Hörte ihr leises, übermütiges Lachen, das in seiner perlenden Reinheit den schimmernden Perlenreihen ihrer Zähne glich. Und genoß die Süßigkeit ihrer Küsse, in deren jedem sich ein Stückchen ihres Herzens ihm zu geben schien ... Er hatte an ihre Liebe geglaubt, an ihre Unwandelbarkeit und Treue, als hätte er wirtlich Stückchen für Stückchen dies Herz in seiner Brust aufgenommen. Und nun ... nun huschte es davon wie ein gaukelnder Schmetterling.
»Ja so,« murmelte er. »Da sie es selber will.«
»Also wer soll reisen? Sie oder wir?«
»Ich.«
Frau Raumer ergriff seine Hand.
»Und Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht hinter meinem Rücken mit meiner Tochter korrespondieren?«
»Was sollen wir uns noch schreiben?«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht, gnädige Frau.«
Kaum hatte sich Frau Raumer entfernt, als der Kellner die Flammen in der Halle und im großen Salon auszudrehen begann. Dann kam er sacht in den kleinen Salon, und seine schwarze, schattenhafte Gestalt begann den vor sich hinstarrenden Heinz zu umkreisen.
Als dieser aufsah, nickte er freundlich.
»Heute mal wieder spät geworden. Und doch nichts zu tun.«
»Wann geht der nächste Zug nach Berlin?«
»Nach Berlin? Der nächste Zug? In der Früh um vier.«
»Dann möchte ich möglichst rasch einen Schlitten haben. Ich muß abreisen.«
»Ich werde es dem Portier mitteilen.«
Nachdem Heinz seine Koffer gepackt hatte, schrieb er einige Zeilen des Dankes für Guhnott auf, indem er hinzufügte, daß eine wichtige Nachricht ihn zu plötzlicher Abreise zwinge.
Der Schlitten wartete schon.
»Schnell! Fahren Sie zu!«
»Aber lassen Sie sich doch erst einwickeln. Es ist ja eisig kalt,« warnte der Portier.
Kalt? dachte Heinz. Die Kälte spürte er nicht.