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Zwei Semester lang studierte Heinz als braver Sohn griechische und römische Grammatik, Tragiker und Historienschreiber und tröstete sich mit dem alten Spruch, den er schon auf der Quarta gelernt hatte: Die Wurzeln der Wissenschaft sind bitter, ihre Früchte aber desto süßer.
Als dann der Frühling wieder übers Land gezwitschert und geblüht kam, siedelte er nach Jena über. Auf thüringische Art zubereitet würde das Wurzelgericht der Wissenschaft ihm vielleicht besser munden, hoffte er.
Die Stadt selbst präsentierte sich ihm gleich echt studentisch. Auf den winkligen engen Gassen promenierten ganze Scharen von buntmützigen Studenten, und an den altertümlichen Fassaden wehten zahllose dreifarbige Wimpel und Fähnchen, zum Zeichen, daß hier ein Vertreter der Arminen, Teutonen, Herzynen, Schwaben, und wie die Verbindungen alle hießen, seinen Wigwam hatte. Auf dem Markt aber waren mindestens ein Dutzend goldener Wirtshaus- und Frühstücksstubenschilder zu erschauen.
Heinz aber trieb es ins Grüne und in die Billigkeit. So geriet er ziemlich am Ende der Stadt in die Wohnung eines Schneidermeisters, dessen Frau ihm ein recht bescheidenes Zimmer als ausnahmsweise noch zu vermieten zeigte.
Doch vorher erkundigte sie sich vorsichtig, was der Herr studierte, und ob er auch abends nicht betrunken nach Hause käme? Das könnte der Hauswirt ein für allemal nicht vertragen.
»Warum denn nicht?«
»Nune er is doch manchmal selber nich ganz nüchtern. Da meent er, es is genug, wenn eener im Hause Radau macht.«
Der einzige Lehnstuhl, an den Heinz bei der Besichtigung unversehens rührte, erwies sich als recht wacklig, doch hielt er darüber seine Meinung zurück und fragte nur, ob eine Blumenstellage mit vielen verstaubten Kakteen zur Einrichtung des Zimmers notwendig sei?
»Ja, ja, die bleibt,« erklärte die Wirtin. »Ne, ne, die nehme ich Ihnen nicht weg. Ach, da wer'n Se Ihre Freide dran haben. Wenn die blihn, des is eene Pracht. Und se blihn wenigstens alle drei Jahre eemal.«
Heinz war ans Fenster getreten, um hinauszusehn.
Unter ihm lag ein prachtvoller, verwilderter Garten im Frühlingsprangen seiner blühenden Kirschen- und Apfelbäume. Aus den zahlreichen Rabatten leuchteten blaue Leberblümchen, buttergelbe Anemonen, violette Krokus und rote Tulpen. Die schönste Blume aber war ein schlankes Mädchen mit braunem, krausem Haar und dunkelschimmernden Augen, das, den weichen Mund im schmalwangigen Gesicht zu einem Lächeln öffnend, in die Höhe schaute. Im ersten Entzücken meinte der Student, sie sähe zu ihm hinauf. Aber es war wohl ein Zug heimkehrender Wandervögel oder einer windgeschwellten Wolke lustiges Segeln, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Jetzt rief eine Stimme: »Irmgard!« Das Mädchen schreckte zusammen. Heinz fühlte einen Stich durch sein Herz gehn. »Ich komme schon!« antwortete sie, erhob aber von neuem den Kopf mit demselben entzückten und versunkenen Ausdruck. Wieder klang die Stimme. Da stampfte das Mädchen unwillig auf und lief dann so leicht wie ein Reh davon.
»Also, ich nehme das Zimmer.«
»Fürs ganze Semester?«
»Fürs ganze Semester.«
»Und mit dem Bette, nich wahr, sind Sie e bißchen vorsichtig? Nich sich mit eenen Plumps neinfallen lassen, sonst kracht's am Ende zusammen.«
»Abgemacht!«
Wenn die Frau verlangt hätte, Heinz sollte sich neben das Bett legen, er hätte das Zimmer auch genommen.
Von dem Tage an trieb er Herzensallotria. Statt sein Zentralorgan am Lichte der alten Klassiker zu entzünden, verliebte er sich ganz regelrecht in das schöne Mädchen aus dem Nachbarhaus. Ganze Stunden lang saß er am Fenster und grübelte darüber nach, wie sich von ihm zu ihr Brücken schlagen ließen.
Nach und nach brachte er einiges wenige über sie in Erfahrung. Sie hieß Irmgard Raumer und wohnte mit ihrer Mutter, einer Rittmeisterswitwe, allein in dem Häuschen. Die Mutter, eine schwarzgekleidete, grämlich aussehende Dame, kam nie in den Garten, sondern saß meist an einem Fenster des nach der Straße gehenden Zimmers.
Eines Tages erlauschte Heinz zufällig ein paar Brocken einer Dienstmädchenunterhaltung, aus der hervorging, daß das Fräulein am nächsten Morgen nach Weimar fuhr. Nun wußte auch er sein Ziel.
Diese Reise sollte ihm zum Schicksal werden.
Am Anfang freilich schien sie äußerst mißglückt. Er folgte Irmgard und – zu seinem Bedauern – auch ihrer Mutter in anständiger Entfernung zum Bahnhof, sah sie in ein Frauenabteil einsteigen und hatte sie dann, als der Zug in Weimar hielt, einfach aus den Augen verloren. Irgendwo rollte in der Ferne eine Droschke. Saßen sie vielleicht darin?
Er schluckte seine Enttäuschung hinunter, und bald wurden ihm reiche Beglückungen zuteil, indem er sich bei den großen Dichtern zu Gast lud.
Als Heinz nachmittags wieder dem Bahnhof zuschlenderte, mochte von diesem alltagsentrückenden Erlebnis etwas in seiner Haltung, seinem Gesicht sich ausdrücken. Ein junges Mädchen, dem er schon einmal begegnet war, warf ihm, als sie jetzt eiligen Schrittes aus einer Seitengasse ihm entgegenkam, einen keineswegs ungnädigen Blick zu. Und da er nun an einer Haltestelle der Elektrischen stehnblieb, wartete auch sie.
Übrigens war sie ebenfalls eine auffallende Erscheinung. Die leichte Seidenbluse, der enge, fußfreie Rock ließ ihre mittelgroße Figur zierlich erscheinen. Ihr Schuhzeug war sehr elegant. Ihr dunkelblondes Haar trug sie nach Backfischart aufgelöst unter dem breitrandigen Rosenhut. Aber diese jugendliche Tracht stand schlecht zu ihrem altklugen, gelblichen Gesicht, dem die dicken schwarzen Brauen und der zu volle Mund einen eigentümlichen Ausdruck von Wildheit gaben.
Klug, elegant, aber eigentlich abstoßend ... so hätte sich Heinzens flüchtiger Eindruck zerlegen lassen.
Nachdem die beiden eingestiegen waren, stellte es sich heraus, daß die junge Dame ihr Portemonnaie verloren hatte. Sie war darüber sehr bestürzt. Heinz lüftete seinen Hut.
»Wenn Sie gestatten, bezahle ich für Sie.«
»O, sehr liebenswürdig. Furchtbar gern. Aber was fang' ich nur an? Ich muß nach Jena und habe kein Geld bei mir.«
»Ich fahre auch nach Jena. Wenn Sie erlauben –«
»Sie retten mich aus schrecklicher Verlegenheit.«
»Aber mit dem größten Vergnügen!« versicherte Heinz errötend.
Auf dem Bahnhof merkte er, daß sein Geld nur zu zwei Billetten dritter Klasse reichte.
»Das schadet ja nichts. Warum sollen wir nicht Dritter fahren?«
Heinz wollte in einen der ersten Wagen einsteigen. Aber das junge Mädchen ging mit großer Sicherheit weiter, bis sie ein leeres Abteil trafen.
»So, nun machen Sie, bitte, die Tür zu.«
Dann begann sie sofort die Unterhaltung.
»Ich habe Sie heute schon im Park gesehn. Da schwärmten Sie wohl das Gartenhaus an?«
»Ja.«
»Wo waren Sie sonst noch?«
Er erzählte, und es tat ihm wohl, sein Herz ausschütten zu können. Ihre verständigen Antworten überraschten ihn. Sie erzählte, augenblicklich lese sie die »Wahlverwandtschaften«. Doch im allgemeinen liebte sie Goethe nicht sehr. Er war ihr zu apollinisch, zu gleichmäßig, überhaupt zu glücklich. Die modernen Russen lagen ihr näher.
Während der Zug zwischen den von flachen Höhenzügen abgeschlossenen Feldern hinfuhr, ereiferten sie sich über einem literarischen Gespräch, bis ihm einfiel, daß er sich eigentlich vorstellen müßte.
Sie erwiderte, daß sie Margot Guhnott hieße, und fuhr fort:
»Sie sind doch gewiß Student! Was studieren Sie?«
Doch ehe er antworten konnte unterbrach sie ihn:
»Ich möchte es raten. Germanistik?«
»Nicht ganz. Klassische Philologie.«
»Mein Vater ist übrigens selbst an der Universität.«
»Guhnott?« fragte er. »Dann sind Sie wohl die Tochter von dem berühmten Guhnott?«
»Mein Vater ist der Ordinarius für Chirurgie.«
»Na ja, den meinte ich.«
»Was ist denn Ihr Vater? Pardon, ich frage nicht aus Neugierde. Es ist so 'ne Art Manie bei mir. Ich möchte wieder raten. Pastor?«
»Nein. Mein Vater ist Beamter an einer Schule.«
»Direktor?«
»Nein, nein!«
Heinz gab sich einen Ruck und sagte tapfer:
»Ein ganz kleiner Beamter. Pedell.«
Doch konnte er es nicht verhindern, zu erröten, und blickte beschämt über diese Schwäche aus dem Fenster.
Margot aber sah ihn unverwandt an und dachte, wie gut dieser tiefe bronzene Ton seinem scharfzügigen Gesicht mit den etwas vorspringenden Wangenknochen und den schmalen Kinnladen stand, und wie stählern zwischen den langen Wimpern seine blauen Augen sprühten.
»Ich riet auf Pastor,« sagte sie nach einer kleinen Weile, »weil Sie so eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einem Jugendbild meines Stiefvaters haben.«
»Ihres Stiefvaters?«
»Professor Guhnott ist mein Stiefvater. Aber erzählen Sie doch. Wie gefällt's Ihnen in Jena? Haben Sie schon Bekanntschaften gemacht?«
»Noch nicht.«
»Sie müssen uns mal besuchen. Das heißt, ich werde Ihnen meinen Bruder schicken. Ich bin Ihnen doch noch Geld schuldig.«
Sein kurzer Ärger war verflogen. Ihrer liebenswürdigen Art öffnete sich rasch sein zutrauliches Herz.
Ob ich sie mal nach Irmgard frage? Während er darüber noch nachdachte, wandte sie sich zu ihm.
»Da sitzt man nun im Kupee, und draußen ist es so himmlisch.«
Das Tal hatte sich verengt, die nahgerückten Hügel waren mit weißblühenden Schlehdornbüschen bedeckt.
»So lustig ist das!« meinte er. »Als wenn überall Wäsche läge.«
»Zu schön,« stimmte sie zu. »Als wenn die Natur einen Brautkranz aufhätte.«
Gleich darauf hielt der Zug, und Heinz fragte, einem plötzlichen Einfall nachgebend:
»Wie wär's, gnädiges Fräulein, wenn wir das letzte Stück zu Fuß gingen?«
»Ich bin dabei.«
Zuerst gingen sie in ernsthaftem Gespräch die Chaussee entlang. Aber bald erwachte in Heinz der lustige Junge. Er kletterte die steilen Kalkhänge hinan und pflückte Weidenzweige mit Pelzkätzchen und blühenden Schlehdorn. Dazu stimmte er bei dem Gedanken an Irmgard mit lauter Stimme einen lateinischen Kantus an. Dann kehrte er mit dem Strauß zu seiner Begleiterin zurück.
»Darf ich Ihnen das schenken?«
»Danke schön. Was sangen Sie denn da?«
»Das nennen Sie Gesang?«
»Oder was deklamierten Sie?«
»Ach, ein paar Verse von Properz, die ich heute zufällig gelesen hatte.«
»Darf man nicht wissen, wie sie auf deutsch heißen?«
»Warum? Es ist gar nichts Besonderes.«
»Es klang so« – ihre Stimme nahm unwillkürlich einen ironischen Ton an – »begeistert. Sagen Sie es doch!«
Ihm flatterte der Gedanke durch den Kopf, sie mutete ihm zu, sich zu genieren. Da ließ er sich rasch auf einer Felsplatte nieder, auf dem einen Bein halb kniend, verbarg seinen Übermut hinter einem ernsthaften Ausdruck und sprach, während er die deutschen Worte mit einiger Mühe zusammensuchte, wodurch eine gewisse niedergehaltene Bewegung aus ihnen zu klingen schien:
»Frei schon dacht' ich zu sein und verschwur auf immer die Mädchen,
Aber verräterisch bricht Amor den Friedensvertrag.
Weshalb muß solch reizend Geschöpf auch wandeln auf Erden?«
»Na, und so weiter,« fuhr er lachend fort. »Und so weiter. Das übliche Zeug.«
Ein roter Schein glühte auf ihren Wangen. Die geöffneten Lippen sogen gierig die Luft ein.
»Ich finde das schön. Wie geht's weiter?«
»Weiter weiß ich's nicht. Wahrhaftig nicht. Aber nun kommen Sie.«
Und er sang vorwärts marschierend:
»Immer langsam voran! Immer langsam voran,
Daß die Krähwinkler Landwehr nachfolgen kann ...«
Sie schritt still neben ihm her. Aber als er seinen Singsang beendet hatte, fragte sie:
»Wie kamen Sie vorhin auf das Lied?«
»Gott, wie kommt man darauf?«
»Es muß doch einen Grund gehabt haben.«
Er blickte sie von der Seite an. Was? Dachte die etwa ...? Freilich war dieser Spaziergang zu einem kleinen Abenteuer ganz und gar angetan. Aber seine Begleiterin gefiel ihm nicht. Und ihr hartnäckiges Bohren ärgerte ihn erst recht. Mißmutig schwieg er und taute erst wieder auf, als sie nach einer Weile eine Unterhaltung über die Jenenser Universitätsverhältnisse begann.
Beim Abschied hielt Margot einen Augenblick seine Hand in der ihren.
»Haben Sie vielen Dank! Es war ein wunderschöner Spaziergang. Also mein Bruder soll Sie besuchen?«
»Das wird mich sehr freuen.«
»Auf Wiedersehn?«
»Auf Wiedersehn!«