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[22.]

Nein, Mutter, ich bin nicht vom Glück verlassen, einsam und ohne Liebe, denn ich habe Dich und Vater und auch den lieben kleinen Karl. Wir sind immer gut zueinander gewesen, und dank Eurem Beispiel habe ich es bis jetzt gar nicht anders denken können, als daß Vertrauen und Eintracht in einer Familie herrschen. Erst im Guhnottschen Hause habe ich das Gegenteil erfahren.

Frau Guhnott ist vorgestern nacht gestorben, morgen wird sie eingeäschert. So traurig der Verlust für die Kinder auch ist, er wird doppelt schmerzlich, da Margot jetzt auf ihren Vater angewiesen ist.

Irmgard habe ich nun wiedergesehen und weiß, daß alles aus ist. Mein Kommen schien sie nur zu erschrecken, sie hörte mich kaum an, und plötzlich stand sie auf und ging davon, mit einem Blick ... Wenn man jahrelang das Bild eines Menschen in sich getragen hat und ihm dann begegnet, und er ist noch immer derselbe Mensch und doch ein ganz anderer, ein Fremder, ein Feind ... Ich habe die Konsequenzen gezogen und heute morgen alle ihre Briefe und ihr Bild verbrannt. Sonst wäre ich noch einer hoffnungslosen Melancholie verfallen.

Überhaupt Mutter, es wäre gut, wenn Du bald mal wieder kämst. So kurz Dein Besuch damals war, er hat mir doch wunderbar gut getan. Er hat dem Menschen in mir aufgeholfen. Und der liegt wieder mal recht auf der Nase.«

Heinz lehnte sich zurück, und immer deutlicher trat die Erscheinung seiner Mutter ihm vors Auge, während er davon träumte, wie ihr Zusammenleben sich gestalten würde. Sie würde sein Schlafzimmer bewohnen und er auf dem Diwan des Arbeitszimmers kampieren. Abends aber würden sie zusammensitzen, und er würde ihr sein Herz ausschütten. Dann würde er ihr auch das Letzte und Bitterste anvertrauen können: daß er Guhnott die Schuld an allem seinem Unglück geben mußte, daß der Verdacht – von Margot ihm beigebracht, von ihm trotz allem innerlich bestritten – jetzt fast zur Gewißheit geworden war: Der eigene Vater hatte ihm Irmgard entfremdet und geraubt.

Aber seinem Grübeln war die Dunkelheit hereingebrochen, als es draußen schellte.

Es war Viktor. Heinz drückte ihm die Hand. Ohne Stock und Hut abzulegen, ging Viktor an ihm vorüber ins Zimmer.

»Den ganzen Nachmittag bin ich herumgehetzt. Von Pontius zu Pilatus. Gib mir 'nen Stuhl und 'ne Zigarre! Einen Augenblick muß ich mich ausruhen. Sonst werde ich verrückt.«

Aber ohne den herbeigerückten Stuhl zu beachten, durchmaß er das längliche Zimmer mit aufgeregten Schritten, bis er sich endlich neben seinen Hut aufs Sofa fallen ließ.

Seine Wangen hingen wie sonst schlaff und gelb über den hohen Kragenrand. Aber die Partie um seine Augen war furchtbar eingefallen, und in diesen selbst lag noch immer der Ausdruck des Schreckens, der ihn im ersten Augenblick bei der Todesnachricht befallen haben mochte. Die beiden Tage, die seitdem vergangen waren, hatten ihn nur noch vertieft, ohne ihm etwas von der unheimlichen Starrheit zu nehmen.

»›Deine arme Mutter ist tot,‹ sagst du. Das sagen mir alle. Aber begreiflich machen kann's mir keiner. Danke! Zigarren und Kognak, Kognak und Zigarren. Sonst wird man noch verrückt. Wir waren doch immer gut miteinander. Das mußt du doch sagen. Wir haben uns mal gezankt. Aber wo kommt das nicht vor? Aber im allgemeinen: sie hat uns alles zuliebe getan, und wir taten ihr alles zuliebe. Und am Dienstag waren wir noch zusammen im Konzert. Keinen Ton hat sie verlauten lassen, daß ihr was fehlte. Überhaupt – wer hat sie je klagen hören? Im Gegenteil, man durfte in ihrer Gegenwart überhaupt nicht von Krankheit sprechen. Am Mittwoch telephoniert Margot mir: Mutter ist in die Klinik geschafft. Wir fahren hin. Es heißt: sie ist operiert. Am nächsten Tag fahren wir wieder hin. Morgens, nachmittags. Es heißt: wir können sie nicht sehen. Und dann am ... am ...? Da werden wir ins Zimmer geführt ... da liegt sie ...«

Er sprang auf und schüttelte sich.

»Gib mir 'nen Kognak, du! Das Kinn hat man ihr mit 'nem Tuch hochgebunden.«

Heinz suchte aufgeregt in seinem Schrank, der einiges Geschirr enthielt. Dann stellte er die Kognakflasche und ein Wasserglas auf den Tisch, indem er sich wegen des Glases entschuldigte.

Ohne zu antworten, goß Viktor es zu einem Drittel voll und trank den Inhalt in großen Zügen hinunter.

»Ernstliche Konflikte hat's zwischen uns nie gegeben. Das kannst du doch am besten bezeugen, der unser Verhältnis kannte. Wir haben Mutter wohl mal geneckt, aber doch nur, weil wir wußten, daß es ihr Freude machte. Und sie hat auf uns gescholten, aus Zärtlichkeit, aus Liebe. Für eine Mutter können Kinder ja nie vollkommen genug sein. Und nun ... und nun ... auf einmal ... da existieren wir nicht mehr für sie. Sie läßt uns nicht zu sich herein. Sie macht ein Testament, durch das sie uns enterbt.«

»Das ist doch nicht möglich!«

»Nicht möglich? Tatsache! Ebenso unbestreitbare Tatsache, wie daß sie gestorben ist, ohne uns ein letztes Wort zu gönnen.«

»Ich bin überzeugt,« sagte Heinz nach einer Weile, »daß deine Mutter nach der Operation überhaupt nicht mehr zum Bewußtsein gekommen ist.«

»Sie hat ja ein neues Testament gemacht. Einen Tag vor ihrem Tod. Und das hat sie bei klarem Verstand gemacht, wie der Notar mir bestätigt hat.«

»Wem hat sie denn ihr Vermögen vermacht?«

»Ihrem Mann.«

»Und der nimmt es an?«

»Glaubst du, er würde es ablehnen, was er auf heimtücksche Weise an sich gebracht hat? Heute morgen hat er uns zu sich zitiert, um sich mit uns auszugleichen. Aber Margot hat ihm sofort den ganzen Bettel vor die Füße geworfen. ›Geben Sie uns unsere Mutter wieder, die Sie uns abspenstig gemacht haben,‹ hat sie gesagt. Das Geld können Sie behalten.«

Diese Unterredung hatte in der Tat am Morgen stattgefunden. Von dem Testament, das seine in ihrer Liebe wie in ihren Entschlüssen im selben Übermaß schwankende Frau gemacht hatte, aufs äußerste betroffen, hatte Guhnott die beiden zu sich rufen lassen, um mit ihnen zu beraten, wie der Wille der Toten geehrt werden könne, ohne daß die natürlichen Erben ungerechterweise benachteiligt würden. Doch die Geschwister hatten sich sofort in so maßlosem Haß gegen ihn gewandt, daß er empört und angewidert der Unterredung ein Ende gemacht hatte. Erst da hatte Margot die von Viktor erwähnten Äußerungen getan.

Heinz fühlte, wie Grauen ihn umkroch bei dem Gedanken an das Geld, das diesen Menschen ihr ganzes Leben vergiftet, das Feindschaft zwischen ihnen gesät und jede gute Empfindung im Keim vernichtet hatte. Kein Wort des Zuspruchs wollte über seine Lippen. Er dachte nur immer: lieber alle Entbehrungen erdulden, als mit solchem Fluch beladen sein.

Aber dann fiel ihm ein, was aus den beiden werden sollte, nun sie mittellos dastanden.

»Ich habe von Erbschaftsangelegenheiten keine Ahnung,« sagte er nach einer Weile. »Aber kann denn eine Mutter ihre Kinder so ohne weiteres enterben? Ich denke doch, etwas müßte sie euch auf jeden Fall hinterlassen haben.«

»Ja, ja, den Pflichtteil,« erwiderte Viktor fahrig. »Gerade so viel, daß man nicht als Schnorrer herumzulaufen braucht. Aber das ist es ja nicht,« fuhr er beinah schreiend fort, »sondern daß sie einem damit sagt: Ihr, meine Kinder, seid mir nichts, aber der Mann, der euch sein Lebtag gehaßt hat, ist mir alles. Wen hat man denn auf der Welt, der es ehrlich mit einem meint als die Mutter? Und die verrät einen.«

Er ging und Heinz behielt die Empfindung zurück, daß Viktor diesen letzten Eindruck von seiner Mutter nie verwinden würde. Im dunklen Dämmerschatten seines· Inneren mochte die Ahnung einer Schuld sich quälend regen, aber nie würde er imstande sein, sie anzuerkennen und so sich zu reinigen. Er blieb ein ewig Unerlöster, dem das einzige gute Gefühl, das in ihm gelebt haben mochte, die Liebe zur Mutter, tödlich zerstört war.

»Heinz drehte das Licht ab, warf sich aufs Sofa und grübelte ...

Ihm fielen Viktors Äußerungen über seinen Stiefvater ein, als er zum erstenmal Guhnotts Kolleg besucht hatte. Mit welcher reinen Verehrungskraft hatte er damals die Schmähungen abgewiesen! Nicht ein Flecken hatte Guhnotts Bild trüben können. Und heute ...? Gab der Ausgang nicht jedem schlimmen Wort der Kinder recht?

Unbarmherzig und unabwendbar standen diese Tatsachen genau so wie diejenigen, die ihn selbst betrafen. Und doch, trotz allem regte sich in Heinz etwas, vergleichbar Dämmerlicht, das die Dinge, die es bescheint, zwar nicht erkennen, doch aber ihr Vorhandensein ahnen läßt, etwas wie eine stille zähe Hoffnung, wie ein unausrottbarer Glaube, der seinen Vater allen diesen Tatsachen gegenüber in Schutz nahm.

Endlich erhob er sich, da der Gedanke an Margot einen neuen Entschluß in ihm anregte.

Zuerst beendete er den Brief an seine Mutter. Er teilte ihr mit, daß die Geschwister enterbt worden seien, und daß er es nun für die oberste und wichtigste Aufgabe seiner Zukunft halte, Margot zu helfen und ihr zu beweisen, daß er als ihr Freund treu zu ihr stehe.

Einen zweiten Brief richtete er an Margot selbst. Alles, was früher an körperlicher und seelischer Antipathie, an geheimem Argwohn eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen geschaffen hatte, warf er von sich. Aus dem trostlosen Dunkel, das ihn umgab, mußte ein Mensch sich hell erheben. So kam es, daß der trotzige Gleichmut, mit dem sie nach Viktors Worten ihr Los hingenommen hatte, ihm als ein Zeichen selbstlosen Heroismus erschien.

Die Empfindung, ihr für seine frühere Schroffheit Genugtuung geben zu müssen, seine Dankbarkeit, sein Mitgefühl führten ihm die Feder. Er legte seine Worte nicht auf die Wagschale, schrieb, wie es ihm aus übervollen! Herzen kam: Worte der Fürsorge, der Freundschaft, der tröstenden Liebe.


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