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Ungern verläßt der Fremde Paris, aber der Gedanke, auf dem Wege nach dem sonnigen Italien zu sein, erleichtert ihm den Abschied, wenn er jetzt im Zuge nach Osten fährt und durch die Fenster die Hügel und Ebenen der Champagne, der Heimat des Schaumweins, betrachtet. Ringsumher angebaute Felder, Dörfer und Gutshöfe; wo der Boden sich nicht zum Anbau der Rebe, des Weizens oder der Zuckerrübe eignet, taugt er immer noch zur Weide für große Herden Vieh. Allenthalben sieht man die Menschen bei der Arbeit; die kleinen Landwirte, Bauern und Bürger sind die Quellen des Reichtums für Frankreich.
Nun nähern wir uns der Grenze. Die starke Festung Belfort ist die letzte französische Stadt, bald darauf sind wir im Elsaß. Vor kaum einem Menschenalter waren diese Provinzen der Schauplatz verhängnisvoller Ereignisse. Der Deutsch-Französische Krieg wurde geschlagen; nach tapferer Verteidigung mußte sich Frankreich den Deutschen ergeben. Es verlor zwei seiner wertvollsten Provinzen, Elsaß und Lothringen. Im Kreis französischer Freunde darf man noch heute diese beiden Namen nicht nennen – sie erwecken Schmerz. Frankreich war schlecht zum Krieg gerüstet und hatte Heerwesen und Befestigungen vernachlässigt.
Dem Staat, der äußeren Feinden gegenüber stark gerüstet dasteht, blüht der Friede. Lauscht aber ein Volk der Rede schlaffer Träumer, die Abrüstung und ewigen Frieden predigen, dann ist sein Schicksal besiegelt, früher oder später fällt sein Land einem Eroberer anheim, und ein freies Volk verwandelt sich in Sklaven fremder Tyrannen. So war es immer und so wird es auch bleiben. Bis zum tausendjährigen Reich ist noch lange hin!
Wieder überschreiten wir eine Grenze, die des herrlichsten europäischen Alpenlandes, der gewerbfleißigen Schweiz. Der Zug hält in der schönen Stadt Basel, welche der gewaltige Rhein in zwei Teile spaltet. Vom Bodensee herkommend, gleitet das klare Wasser unter den Baseler Brücken durch und biegt dann rechtwinklig nach Norden ab zwischen die Vogesen und den Schwarzwald.
Genf ist unser nächstes Ziel. In einem engen Tal begleitet die Bahn einen Nebenfluß des Rheins, die Birs; in Kurven an den Abhängen entlang schlängelt sich das Geleise bald hoch über der Talsohle, bald am Ufer des Flusses. Es ist Winter, und das ganze Land ist ein einziges Weiß; kaum sieht man die im Tal zerstreuten kleinen Dörfer. Fichtenwälder, die Zweige von dicken Schneeschichten niedergedrückt, erheben sich auf beiden Seiten der Eisenbahn, und man könnte sich nach Schweden hin versetzt glauben, wenn nicht das Tal so eng und wild wäre und sich im Westen nicht eine ununterbrochene Bergkette hinzöge. Es ist der Jura, der die Schweiz von Frankreich trennt.
Hier liegen drei Seen hintereinander. Der kleinste heißt der Bieler-See; dunkelgrün und spulenförmig liegt er vor uns, von frisch gefallenem Schnee umgeben. Der nächste ist größer und trägt den Namen der Stadt Neuenburg; seine Wasserfläche verschwindet jetzt im Schneetreiben. Der letzte ist der große Genfer See, den wir bei Lausanne erreichen.
Hier hat das Schneewetter aufgehört, und von Süden her glänzen die herrlichen Savoyer Alpen. Die Sonne versteckt sich hinter Wolken, aber der klare Spiegel des Sees wirft ihre Strahlen zurück. Dieser Blick gehört zum Schönsten, was auf Erden zu finden ist, und man kann sich nicht trennen vom Fenster, während der Zug längs des Seeufers hinabrollt. Wer am Genfer See geboren ist, dem muß alles andere in der Welt langweilig und farblos erscheinen! Der See gleicht in seiner Form einem Delphin, der sich zum Untertauchen anschickt. An der Nase des Delphins liegt Genf, und hier verläßt auch die Rhône den See, um nach Lyon zu strömen und sich endlich unmittelbar im Westen der großen Hafenstadt Marseille ins Mittelländische Meer zu ergießen.
Genf ist eine der saubersten und entzückendsten Städte der Erde. Zwischen seiner nördlichen und südlichen Hälfte wird das tiefblaue, kristallklare Seewasser wie durch einen Trichter in die Rhône hineingezogen; die Strömung ist stark, und eine langgestreckte Insel teilt den Fluß in der Mitte. Das ganze Bild erinnert sehr an Stockholm, besonders des Abends, wenn allenthalben elektrische Lampen brennen und ihr Widerschein auf dem dahingleitenden Wasser zittert.
Am schönsten jedoch ist die Aussicht nach Südosten hin, wenn das Wetter klar ist. Dort erheben sich die Savoyer Alpen zwischen gewaltigen Hörnern und Graten, die jetzt mit Schnee bedeckt sind und in weißen, hellblauen und stahlgrauen Tönen schimmern. Dort thront über den Alpen, ja über ganz Europa, ehrfurchtgebietend und gewaltig, der Montblanc, das Haupt der Alpen und die Grenzsäule zwischen der Schweiz, Frankreich und Italien. Gegen Abend können wir einen Schimmer des »weißen Berges« erhaschen, bald aber hüllt sich der Riese wieder in einen undurchdringlichen Wettermantel.
Von Genf aus führt unser Weg nach Osten am Nordufer des Sees entlang. Die Savoyer Alpen zeichnen sich wie ein leichter Schleier unter der Sonne ab. In dieser Beleuchtung erscheint die Wasserfläche grün wie Malachit. Hinter Lausanne verschwinden die Nebel, und wieder treten die Alpen blendend weiß und steil, wie gewaltige Türme und Pyramiden hervor. Städte, Dörfer und Täler spiegeln ihre weißen und bunten Fassaden und ihre luftigen Altane im See. Längs des Ufers zieht sich inmitten von Gärten und baumreichen Promenaden eine lange Reihe internationaler Hotels hin. Aus allen Ländern eilen ja die Reisenden hierhin, um sich an dem Bild der Alpen sattzusehen und ihre Lungen durch das Einatmen der frischen Bergluft zu stärken. Bei jeder Biegung der Bahn entrollt sich ein neues entzückendes Bild, und in der Erinnerung verschmilzt alles zu einem unvergeßlichen Ganzen.
Nun verlassen wir den See und fahren zwischen wilden Felsen langsam im Rhônetal aufwärts. Je höher die Bahn steigt, desto enger wird das Tal. Als rauschender Fluß strömt die Rhône in ihrem Bett, aber fast unbedeutend, wenn man sie mit dem stattlichen Strom bei Genf vergleicht. Im Talgrund breiten sich Felder aus; auf den Abhängen, blicken dunkelgrüne Fichten aus dem Schnee hervor und oben thronen die schneeweißen Gipfel der Alpen.
Einige Minuten hinter Brig saust der Zug in voller Fahrt in den Berg hinein. Die elektrischen Lampen brennen, und ein tausendfältiges Echo macht uns beinahe taub. Wie sehnt man sich ins Freie, denn die hohe Wärme im Innern des Berges dringt bald in die Abteile des Zuges. Aber hier heißt es Geduld haben, denn der Simplontunnel ist der längste der Erde; er mißt 19 731 Meter. Nur wenige Jahre erst ist er alt. Von beiden Endpunkten zugleich wühlte man sich in den Berg durch Sprengungen einander entgegen – und als man in seinem Innern aufeinanderstieß und ein Sprengschuß die letzte Scheidewand entfernte, hatte man sich auch nicht um einen Zollbreit verrechnet!