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Wie reich ist doch das Leben an scharfen Gegensätzen und schreienden Ungerechtigkeiten! Kaum eine halbe Stunde entfernt von all der Pracht und dem Reichtum, die bei der letzten Königskrönung im Juni 1910 in der Westminsterabtei entfaltet wurden, liegt das Armenviertel in Eastend und den südöstlichen Teilen Londons. Dorthin lenken wir jetzt unsere Schritte.
Wir haben uns so einfach wie möglich angezogen, und ein freundlicher Missionar ist unsere Bedeckung, denn es ist keineswegs sicher in diesen Straßen, wo Mordtaten vorkommen und Fremde noch heute spurlos verschwinden. Uhr und Kette läßt man am besten ganz zu Hause, und Geld in Handtäschchen zu tragen, ist für Damen nicht gerade ratsam!
Wieviel Bücher ließen sich über die entsetzliche Armut in London schreiben! Sie ist herzzerreißend, grausam und ungerecht und schreit gen Himmel als ein ewiger Fluch über die größte und reichste Stadt der Erde. In solch ein Elend, wie in London, sinken die Armen in keinem andern Lande, nicht einmal in Asien! Ihr Leben ist ein unausgesetzter Kampf mit der fürchterlichsten Not und der verzweifeltsten Sorge, mit Krankheit, Schmutz, Ungeziefer und Laster. Da haust eine Mutter mit acht Kindern in einem einzigen Zimmer, für das sie kaum die Miete bezahlen kann. Wie soll sie den Hunger der Ihrigen stillen, wenn ihr Mann den größten Teil dessen, was er als Dockarbeiter verdient, vertrinkt! Kümmerlich siechen die Kinder dahin, und wenn eines von ihnen stirbt, bleibt es unter den Geschwistern liegen, bis das nötige Geld zum Begräbnis zusammengebettelt ist. Die die Säuglingsjahre überleben, wachsen zu wertlosen, schlecht genährten Menschen heran, die wieder zu nichts anderm als zum Betteln taugen.
Rührend und zugleich empörend ist der Anblick dieser kleinen Geschöpfe, wenn sie, in Lumpen gekleidet, zwischen den Kehrichthaufen in einer düsteren, übelriechenden Gasse spielen und lärmen. Das ist ihr Sommervergnügen, und sie wissen nicht einmal etwas von der Sehnsucht ins Freie! Sie lieben diese Straßen in Eastend und möchten um alles in der Welt nicht von hier fort. Jetzt ist ja Sommerzeit, da friert man doch wenigstens nicht auf der Straße!
Unser Begleiter führt uns in ein Viertel, dessen Gassen so eng sind, daß zwei sich Begegnende kaum aneinander vorüber können. Hier hat der Missionar viel Gutes getan. Die Mission hat hier ihr eigenes Haus nebst Klub, Kirche und Versammlungssälen, und es ist eine Freude zu sehen, mit welchem Eifer die Kinder des Armenviertels hier zusammenströmen. Ein geräumiger Turnsaal und eine kleine Bibliothek stehen ihnen zur Verfügung, und sie haben sogar einen Pfadfinderklub gebildet, der achtzehn Mitglieder zählt. Auf dem Dach eines Hauses ist ihnen auch ein geräumiger Platz für Fußball und andere Spiele eingerichtet.
Solch eine Mission, ein sogenanntes »Settlement« oder eine Kolonie, findet man mitten in den allerschlimmsten Teilen des Eastend. Barmherzige Samariter aus der wohlhabenden Einwohnerschaft Londons bringen hier einen Teil ihrer Zeit damit zu, mit den Armen zu verkehren und ihnen mit Rat und Tat beizustehen. Sie sind gewissermaßen das Salz, das die Verwesung verhindert. Sie erretten viele vor dem Verderben und bilden sie zu ordentlichen Menschen. Aber wie unzählig viele sind derer, die in diesem Strudel der Not und des Verbrechens spurlos untergehen!
Dann führt uns unser Begleiter in eine Armenwohnung, die nicht einmal zu den schlechtesten gehört, unmittelbar von der Straße zwei Stufen hinunter in ein elendes kleines Kellergelaß. Die wenigen Möbel darin sehen so zerfallen aus, daß sie sich nur noch mit Mühe aufrechtzuerhalten scheinen. An einem runden Tisch in der Mitte sitzen Mister Higgins, seine Mutter und seine Frau vor einem dürftigen Mittagessen; eng, schmutzig und feucht ist der Raum, und keine frische Luft kommt von der Straße her. Wie mag es erst im Winter sein, wenn der berüchtigte gelbe Londoner Nebel so dicht ist, daß es mittags ebenso finster ist wie um Mitternacht und auf den breiten, reich beleuchteten Straßen kaum die elektrischen Lampen von der einen zur andern Straßenseite hinüberschimmern!
Aber Mister Higgins ist wenigstens noch ein guter Kerl. Er ist gerade von seiner Arbeit bei einem Brückenbau heimgekommen, und noch ist er so erhitzt, daß seine Haut dampft, wie er so in Hemdsärmeln mit den Seinen ißt. Er hat schon erwachsene Söhne, die selber verdienen, und erzählt uns, was er wöchentlich einnimmt und was er für Miete und Lebensmittel verbraucht. – Schon nach der ältesten Verfassung hat jeder Engländer »das Recht, nicht zu verhungern«, und eine ausgezeichnete Armenfürsorge des Staates und der Gemeinden war die Folge. Aber noch fehlt es hier an Gesetzen, die, statt die Armut zu lindern, sie zu verhindern verstehen, wie die deutschen Gesetze der Versicherung gegen Krankheit und Unfall, gegen die Beschwerden des Alters und der Invalidität.
Bei einem meiner Besuche Londons war ich eines Abends bei einem Festessen in dem Gildenhause der Seidenhändler. Diese Gilde ist eine der ältesten in London, sie besteht schon achthundert Jahre, obgleich heute kein einziges der Mitglieder mehr Seidenhändler ist. Mitglied dieser Gilde kann aber nicht jeder werden, das ist vielmehr eine Ehre, die sich vom Vater auf den Sohn vererbt. Durch Schenkungen und Erbschaften verfügt die Gilde über ungeheure Kapitalien, deren Zinsen unverkürzt zu wohltätigen Zwecken verwendet werden. Das Haus der Gilde in der City ist ein uraltes Gebäude voll mittelalterlicher Pracht, und an Bechern, Kannen und Schüsseln aus Gold und Silber findet man hier die prächtigsten Stücke, alle mehrere hundert Jahre alt. Wohl zweitausend Häuser in London sind Eigentum der Gilde, und mehrere Schulen werden von ihr vollständig erhalten. Auch alle Krankenhäuser Londons werden durch Geldspenden von ihr unterstützt.
Als ich später mit einem Bekannten am Themsekai entlang nach Hause ging, waren die zahlreichen Bänke dort mit zerlumpten Kerlen und nächtlichen Umherstreichern dicht besetzt. Die meisten hockten zusammengesunken da, die Hände in den Hosentaschen und den Kopf auf die Brust herabgesunken. Andere saßen vornübergebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und den Kopf zwischen den Händen. Wenige nur unterhielten sich oder rauchten ihre Pfeife. Ein älterer Mann hatte dicht neben einem Laternenpfahl Platz gefunden und las die Zeitung.
»Was sind das für Leute?« fragte ich.
»Die Obdachlosen«, antwortete mein Begleiter.
»Schlafen sie hier die Nacht über auf dem Kai?«
»Nein, sie warten bis zwei Uhr, dann teilt die Heilsarmee unter der Eisenbahnbrücke dort hinten warme Suppe und Brot aus.«
»Und nach dem Essen?«
»Dann sitzen sie wieder stumpfsinnig auf den Bänken herum oder durchstreifen die Stadt, um zu betteln oder zu stehlen. Am Morgen verschaffen sie sich wieder auf irgendeine Weise etwas gratis zu essen.«
»Wie verbringen sie denn ihre Tage?«
»Sie liegen in den Parks und schlafen, nachts duldet sie die Polizei dort nicht.«
»Aber warum arbeiten sie denn nicht?«
»Sie wollen nicht! Von all den Kerls, die Sie hier sehen, könnte jeder leicht seine drei Mark pro Tag verdienen, sich eine Schlafstelle mieten und unabhängig leben. Aber sie mögen nicht. Versuchen Sie es: verschaffen Sie ihnen Arbeit und bieten Sie ihnen drei Mark Tagelohn! Nicht ein einziger würde auf Ihr Anerbieten eingehen! Weit lieber wollen sie betteln, in den Parks schlafen und der Gemeinde zur Last fallen.«
»Gibt es hier viele solcher Leute?«
»Vierzigtausend – aber – das wollen wir nicht vergessen – unter den Vornehmen und den Adligen gibt es mindestens ebensoviel Tagediebe und Taugenichtse! Von diesen hat man das Recht zu erwarten, daß sie zum Besten ihres Landes arbeiten. Wer in der Nacht umherstreifen muß, der ist wohl mehr zu bedauern als zu tadeln.«